Was wirklich „Kirche“ ist#
Von
Herbert Kohlmaier
Aus: Gedanken zu Glaube und Zeit Nr. 270/2018
dann sind wir auch in der Lage, einander den Himmel auf Erden zu schenken.
Die Philosophin Barbara Bleisch
Ich will zunächst von einem Erlebnis berichten, das mich nachher noch oft beschäftigt hat. Bei einem Aufenthalt in London besuchten meine Frau und ich eine Kathedrale, in der gerade anglikanischer Gottesdienst stattfand. Wir hielten uns im Hintergrund. Als die Kommunion ausgeteilt wurde, kam ein Mann vom Altar durch die ganze Gemeinde auf uns zu und lud uns zu deren Empfang ein. Ich erklärte, dass wir römisch-katholisch seien, doch er lächelte und reichte uns die Hostie.
Wir nahmen diese selbstverständlich. Es wurde das Gedächtnis nicht eines anglikanischen oder katholischen Jesus gefeiert, sondern dessen, an den wir alle glauben. Ist das nicht das einzig Wesentliche? Wir hatten auch das deutliche Gefühl, mit der hier versammelten Gemeinde verbunden zu sein, nämlich im gemeinsamen und gleichen Glauben an das heilbringende Handeln dieses Menschen, der uns die Liebe Gottes offenbart hat.
Mit diesem Empfinden verblasst alles andere, was in zweitausend Jahren Kirchengeschichte aus Jesu Botschaft später abgeleitet wurde. Was bedeutet der Streit des Papstes mit dem eigenwilligen Heinrich VIII.? Soll er uns auch heute von den Christen in England trennen? Doch dieser und andere Konflikte, die in sehr großer Zahl auftraten, haben angeblich noch immer ganz große Bedeutung. Weiterhin gilt nach dem Kirchenrecht Roms, dass nichtkatholischen Christen die Kommunion nur dann gereicht werden kann, „sofern sie bezüglich dieser Sakramente den katholischen Glauben bekunden...“. In der Praxis wird das bekanntlich längst nicht mehr beachtet. Aus eben den Gründen, an die wir damals in London dachten. (Ist nicht der sensus fidelium ein Kriterium, um rechte Praxis zu erkennen?)
Verfehlen mit derartigen Vorschriften Kirchen nicht ihre Aufgabe? Geradezu reihenweise exkommunizierte man sich einst gegenseitig, und zwischen den Konfessionen wurden Mauern errichtet, die nach wie vor eifersüchtig bewacht werden. Derzeit findet ein Streit zwischen den Orthodoxen Moskaus und Konstantinopels statt, bisherige Gemeinsamkeit droht zu zerbrechen. Ökumene? Ein offenbar fruchtloses Bemühen! Hat das alles überhaupt noch mit Christentum zu tun? Eigentlich ist ganz Schlimmes geschehen. Das Beiwerk der Deutung und der Varianten von Lehre und Ritus belastet den Glauben, zersplittert und vergeudet die Kräfte. Was, um Gottes Willen, hat es mit der Botschaft Jesu zu tun, ob Priester heiraten oder ob Frauen zum Amt berufen werden dürfen?
Der Eifer, der hinter all diesen Auseinandersetzungen steht, lässt – es muss so deutlich ausgesprochen werden – Hochmut und mangelnden Verstand erkennen. Da wird ein allgemeiner Glaubensverlust beklagt, aber jeder meint den eigenen, der dahinschwinde, nämlich den einzig richtigen und seligmachenden. Wie kann man „Neuevangelisation“ betreiben, wenn es nicht um das Evangelium sondern um das geht, was man auf überbordende Weise hinzuerfunden hat, um eine ganz bestimmte „Kirche“ zu haben!
Ich glaube, dass sie alle damit diesen Begriff aufs Spiel setzen. Kirche war, als sich in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten die an Jesus Glaubenden in den Häusern versammelten und im Mahl sein Gedächtnis feierten. Nichts anderes als das und das Hinaustragen der Frohbotschaft in die Welt machte das Christentum groß und stark. Aber dann kamen die Deuter, die Tüftler und ihre Vorschriften. Sie erfanden Regeln und Begriffsinhalte auf geradezu wuchernde Weise und auch oft nach dem Vorbild der weltlichen Macht. Aber all dies ist immer Quelle von Konflikten. Kein von Menschen errichtetes Denkgebäude ist davor gefeit, irgendwann angezweifelt und schließlich baufällig zu werden.
Christentum ist eine Gesinnung und eine Haltung, nicht mehr und auch nicht weniger! Jesus sagte denen, die er heilte, „dein Glaube hat dir geholfen“. Er hat damit nicht Regelwerk oder Kult gemeint, sondern das Vertrauen zu Gott. In seinen Gleichnissen lässt er erkennen, welche Orientierung in unseren Herzen gelten soll, welche Beziehung zu Gott und unseren Mitmenschen wir anstreben sollen. Jede Form des Herrschens hat er verworfen, den Dienst am Anderen aber ganz in den Vordergrund gestellt. Konfessionen sind eine Verfremdung dieser Botschaft. Sie erheben genau das zum Prinzip, wovor Jesus warnte, nämlich das Verrennen in Vorschriften und das Streben nach Macht.
Blicken die Menschen auf die Kirche Roms, so wie sie sich heute darstellt, können sie nur bei wirklich gutem Willen meinen, dass es deren Aufgabe wäre, den Menschen das allumfassende Liebesgebot zu verkünden – und es bedingungslos vorzuleben! Ist es nicht bezeichnend, dass dieses Wichtigste dort überhaupt nicht vorkommt, wo wir unseren „Glauben“ im Gottesdienst bekennen sollen? Da müssen wir nur wiedergeben, wovon man einst in den Konzilen der Antike meinte, dass es für den Glauben von Bedeutung wäre. Doch mit der Beschreibung Jesu als Herrscher, der „zur Rechten Gottes sitzt“, kann man heute niemanden mehr überzeugen. (Schlüpft er von dort bei der Wandlung in die Hostie? Kommt er einst als Retter oder als Richter? Das alles passt ja nicht wirklich zusammen!)
Helfen solche Formeln den Menschen von heute, die auf der Suche nach einem Sinn ihres Lebens sind? Aber derartige uns fremd gewordene Inhalte sind nach Ansicht der Kirchenobrigkeit in „Glaubensgehorsam“ anzunehmen. Doch wer meint, dass man Menschen diesen oder überhaupt irgendeinen Glauben bis in unzählige Details vorschreiben kann, und das sogar unter Androhung von kirchenrechtlichen Strafen, dem ist nicht zu helfen. Das Schlimme ist nur, dass jene Leute, die sich daran festkrallen, nach wie vor das Sagen haben.
Warum besteht immer noch die Scheu, freimütig festzustellen, dass jene Lehre, die man sich einst und oft genug heftig streitend zurechtlegte, in vieler Hinsicht nicht mehr mit einem wohlverstandenen Glauben in Einklang zu bringen ist, ja diesen sogar entstellt? Es ist wirklich unbegreiflich! Aus vielen Beispielen sei nur ein anschauliches herausgegriffen. Man begeht am 8. Dezember das „Hochfest der ohne Erbsünde empfangenen Jungfrau und Gottesmutter Maria“ (früher der „unbefleckten Empfängnis“). Sie soll schon seit ihrer Zeugung von der Erbsünde frei gewesen sein. Abgesehen davon, dass es sich da um einen höchst problematischen Begriff handelt – die Mutter Jesu wäre damit kein Mensch wie wir alle, sondern in ihrem Wesen ganz „heilig“ programmiert und daher gar nicht mehr selbst sittlich entscheidungsfähig gewesen. Ebenso wie ihr Sohn, der keinen leiblichen Vater (und dessen Gene) haben darf sondern durch das Eingreifen des Geistes Gottes von einer Jungfrau geboren wurde. Aber nach der Lehre sowohl Gott als auch „wahrer Mensch“ war!
Das sind religiöse Vorstellungen aus der Antike, die man als gültig und wahr auch für unsere Gegenwart ansieht. Darf man sich da wundern, wenn etwa dieses Fest überhaupt nicht mehr verstanden wird und der Glaube an all diese Dinge total verblasst? Dies noch dazu angesichts der Tatsache, dass da jede der einzelnen Kirchen etwas anderes für richtig erklärt! Nochmals gesagt: Was hat das alles mit Christentum zu tun? Und darf man sich dann über „Glaubensverlust“ und Kirchenkrise wundern?
Es muss von Grund auf umgedacht werden#
Honoré de Balzak
So sehr würde das Christentum gerade heute gebraucht, in einer Welt, der die Hoffnung und das Vertrauen abhandenkommt! Zum Glück existiert noch Wesentliches davon und ist auch lebendig. Es gibt sehr viele Menschen, die aus dem Glauben Gutes tun und aus innerer Überzeugung nach einem rechten Verhalten streben. Aber solche gibt es auch in den anderen Religionen. Bilden sie nicht damit eine Gemeinsamkeit, die viel wichtiger ist, als die verwirrende Vielzahl der Konfessionen? Hat doch der Glaube aller Religionen wesentliche Inhalte, die sehr wohl übereinstimmen. Globalisierung bedeutet in unserer Zeit auch die Begegnung mit anderen Glaubensformen, welche man ohne Vorurteile beurteilen sollte, um dieses Gemeinsame zu erkennen. Jedem ist zu raten, sich damit auseinanderzusetzen; junge Menschen, die unsere Welt bereisen, tun das meist unvoreingenommen so.
Viktor Frankl, weltberühmter Begründer der Logotherapie und der Existenzanalyse, erlitt Schreckliches im KZ. Er lehrte und betonte, stets den Sinn jedes Lebens in all dessen Situationen zu erkennen. Er war auf beeindruckende und überzeugende Weise frei von Hass und dem Gedanken der Vergeltung. Damit verwirklichte er als Jude, was der Jude Jesus lehrte. Ist er uns nicht damit sehr nahe, näher als viele, die sich Christen nennen? Gehört er damit nicht einer ganz großen Gemeinschaft an, die das erkennen lässt, was Jesus als das Licht der Welt beschreibt? Karl Rahner weist uns mit dem Wort vom „anonymen Christentum“ darauf hin, dass auch außerhalb der sichtbaren Kirche stehende Menschen Teilhabe an der heilsmäßigen Gnade zukommt.
Ich bin Mitglied meiner Kirche. Ich bewohne damit gleichsam ein Haus, in dem ich beheimatet bin. Aber ich sehe in ihm nicht nur das Licht des Glaubens leuchten, sondern auch Dunkelheit. Sie hat sich in unwohnlichen Räumen ausgebreitet, die wie Rumpelkammern anmuten. Von dort will ich den Blick abwenden und auf jene Helligkeit richten, die ich von außen, besser gesagt von oben kommend erkenne. Sie sollte möglichst überall in dieses große Gebäude dringen. Das erfordert, Fenster und Türen zu öffnen, aber auch dem fernzubleiben, was in Düsternis verharrt[1].
Ist „Kirche“ nicht überall, wo dieses Erhellende ist, nämlich das Licht der Gottes- und Nächstenliebe? Es durchdringt viele Räume, nicht nur das Haus, dessen Bewohner ich bin. Sein Wahrnehmen bildet Gemeinschaft. Das bedeutet eine Zusammengehörigkeit über Begrenzungen hinweg, die ganz weit reicht und an der wir gerade dort, wo wir beheimatet sind, ganz Anteil haben sollten! Ich muss mich daher von klerikaler Fixierung, die mich einengen will, frei machen. Es ist notwendig, um den Blick auf das Entscheidende zu gewinnen.
Doch diese große Gemeinschaft des Erkennens dessen, was gemeinsamer Glaube bedeutet, ist sich noch viel zu wenig ihrer selbst bewusst. Wäre das zu erreichen – es könnte die Welt verändern! Sich ganz auf das besinnen, was Jesus der Welt verkündete, eröffnet uns die wunderbare Chance, nicht allein und getrennt zu bleiben, sondern aufeinander zuzugehen. Und sich miteinander dessen zu besinnen, was Kirche wirklich ist.