DIE SEKTEN#
1926: In der österreichischen Monarchie wurde außer den anerkannten Religionen keinerlei Religionsgemeinschaft geduldet. Als um die Jahrhundertwende die Heilsarmee in Reichenberg eine Niederlassung, die erste in der Monarchie, gründen wollte, wurde der Proponent, ein Schweizer, von der Prager Statthalterei ausgewiesen.
Seit dem Umsturz wird nun die Republik Österreich von den Sekten aller Arten, bevorzugt. Eine große Anzahl von Missionaren wirken sowohl in Wien als auch in allen Landeshauptstädten.
Im Jahr 1918 fanden sich bald Baptisten in Wien ein, wo sie schon früher zwar nicht offiziell eine Anzahl von Anhängern besaßen. In Wien wurde in der Mollardgasse in einer zu diesem Zwecke adaptierten Privatwohnung ein Bethaus errichtet. Die Seelsorgetätigkeit wird von mehreren Missionaren, Absolventen der baptistischen Lehranstalt in Hamburg, ausgeübt. Die Baptisten dulden keine Kindertaufen und schreiben die sogenannte „stehende Taufe durch Untertauchen“ vor, die an Erwachsenen vorgenommen wird. Im Gegensatz zu den Katholiken verwerfen sie die Lehren von der Dreieinigkeit.
Auch die Heilsarmee etablierte sich nun in Wien. Im 16. Bezirk, in der Sechshauser Straße existierte schon seit Jahren eine Methodistengemeinde. Der Gründer der Heilsarmee, der „General“ Booth, war einst Prediger, geriet jedoch später in Gegensatz zu der Synode und wurde seines Amtes enthoben. Erst Jahrzehnte später, als die Heilsarmee eine weltweite Organisation geworden war, kam es zur Versöhnung zwischen den Methodisten und Boot.
Interessant war die Tatsache: Als die Vertreterin der Heilsarmee in Wien „Leutnant“ Dr. Selma Freund, unlängst vom Bundeskanzler Seipel empfangen wurde, bei dem sie die Unterstützung für die Genehmigung zur Gründung einer Wiener Brigade erlangen wollte, erklärte der Bundeskanzler, dass die bestehenden Religionsgemeinschaften, vor allem die katholische Kirche als Staatsreligion für die österreichische Bevölkerung genügen und dass eine Verbreitung neuer oder anderer christlichen Lehren unerwünscht sei.
In der Lerchengasse, im VIII. Bezirk, haben sich seit einem Jahr die Mormonen eingenistet, und treten in Wien unter dem Namen „Kirche des Herrn Jesu“ auf, da der Mormonenname durch die Verbindung mit der Vielweiberei einen ungünstigen Eindruck hinterließ. Diese Sekte ist wohl die Interessanteste aller bestehenden. Ihre Lehren lehnen sich keineswegs an die Dogmen des Evangeliums, sind vielmehr von einer eigenartigen phantastischen Mystik umgeben, die auch die Geschichte der Sektengründung anhaftet. Joe Smith, ein Wanderprediger hatte in der Weihnachtsnacht von 1823 eine Vision, in dessen Verlauf ein Engel erschien und befahl, im Hügel Cumora bei County im Staate New York Grabungen vorzunehmen wo er die „Heiligen Tafeln“ vorfand. Diese waren in „neuformiertem Ägyptisch“ abgefasst. Daneben befand sich eine Wunderbrille aus durchscheinenden Steinen anstatt der Gläser. Durch diese Brille war Smith, ein Analphabet, fähig, den Text zu lesen, den er in das Englische übersetzte. Den Tafeln konnte man folgende Geschichte entnehmen: In jener Zeit als König Zidekia von Jerusalem wanderte ein frommer Israelit aus Palästina nach Amerika aus. Auf dem Hügel Camora empfing er eine Botschaft Gottes, die er dann auf den heiligen Tafeln eingab. Seine Nachkommen hielten sich dann an diese Gesetze, bis ihnen einmal der nach der Kreuzigung auferstandene Christus erschien und sie zum Christentum bekehrte. Diese amerikanischen Israeliten waren durch die Sonne so gerötet, dass sie nach der Mormonenbibel seither als Indianer gelten.
In den Neunziger Jahren fanden zwischen den Mormonen die im Staate Utah stark vertreten waren, und den Regierungstruppen schwere Kämpfe statt, dessen Sieg die Mormonen davontrugen. Die Vielweiberei mussten sie allerdings aufgeben.
Bei der Volkszählung 1911 in der Monarchie haben sich 18 Personen als Mormonen deklariert. 1908 befanden sich in Deutschland unter „Religion“ 2509 Personen mit mormonischen Glaubensbekenntnis. In der Lerchengasse fanden jeden Sonntag mormonische Gottesdienste statt, Mittwoch Abend waren Predigten und Sprechabende vorgesehen.
In Döbling hatte die Gesellschaft ernster Bibelforscher ihren Sitz, die als protestantisch-kalvinistische Sekte gesehen werden wollte. Diese hatte besonders aus den Kreisen der Intellektuellen ständigen Zulauf.
Der in Deutschland bekannte Nacktkulturapostel Häusser, der einst auch als Reichspräsident kandidierte und immerhin etliche zehntausend Stimmen erhalten hatte und derzeit im Zuchthaus von Hamburg eine mehrjährige Kerkerstrafe wegen Schändung verbüßt, hatte ebenfalls in Wien einige Zeit einen „Gesandten“ unterhalten, der in einem Grinzinger Gasthaus predigte. Die Anhänger blieben rar, daher ist er aus Wien wieder verschwunden.
Dagegen ist die Germanische Religionsgemeinschaft um so interessanter, denn diese ist völlig dem heidnischen Charakter ergeben und beachten streng den altgermanischen Ritus, beten Wotan, Baldur, Freia und die anderen germanischen Götter an und haben im Prater eine heilige Eiche. Dieser Religionsgemeinschaft gehören fast ausschließlich Mitglieder der Wiener Intelligenz an, darunter der bekannte Internist Professor Dr. Chwostek, der auch eine Priesterfunktion bekleidet.
QUELLE: Die Stunde, 28. Dezember 1926, Österreichische Nationalbibliothek, ANNO
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