GARTENSTÄDTE#
1919: Die Wiener Bauindustrie Zeitung stellte letzten Herbst die Forderung auf, einen Teil des Lainzer Tiergartens, der damals noch in den Händen der kaiserlichen Familie befand uund daher von vielen, denen heute der Mund von republikanischen Phrasen schier überfließt, als ein geheiligtes noli me tangere angesehen wurde, durch Anlegung von Gartenstädten in den ebenen Partien und von Sanatorien, Erholungsheimen, Künstlerwerkstätten usw. auf seinen sonnigen Höhen den Wienern zugänglich zu machen, ernteten wir mit diesem Vorschlag wenig Dank. Es sei eine Schande, an eine solche Devastierung des Tiergartens, einer Perle des Wienerwaldes, auch bloß zu denken, nicht ein Baum dürfe gefällt werden, der waldgrüne Schatz müsse den Enkeln unversehrt hinterlassen werden.
In der Zwischenzeit liegen 30.000 Raummeter geschlagenen Holzes im Lainzer Tiergarten, aufgetürmt und wie zu erfahren war, plant man weitere Schlägerungen in einem enormen Ausmaß, dass der Gemeinderat sich genötigt sah, zur Beförderung dieser Holzmengen durch eine Feldbahnanlage die allein über eine halbe Million Kronen Kosten verursacht, einzusetzen. Bestehend aus zwei Lokomotiven, 60 Rollbahn-Doppelwagen und 4800 m Lokomotiv-Feldbahngleise.
Wenn Brot und Kohle fehlen, muss eben die Perle veräußert werden und Sentimentalität hat zu schweigen.
Es ist zur Gewissheit geworden, dass die Kleingartenaktion, wenn sie alle Erwartungen erfüllt, zur Aktion für die Schaffung von Gartenstädten ausgestaltet werden muss. Denn erst der Kleingarten mit Wohnhaus bedeutet neben einer reichhaltigen Versorgung der Familie des Bebauers mit Nahrungsmitteln eine ideal zu nennende Wohngelegenheit, von dem großen materiellen Gewinn gar nicht zu reden. Erst durch eine derartige Ausgestaltung wird die Kleingartenaktion zu einer umfassenden wirtschaftspolitischen Bewegung ersten Ranges.
Vor allem würden sehr große Mengen an Nahrungsmitteln sofort der Bevölkerung zugute kommen.
Wenn einzelnen Bebauern je 800 m² zugewiesen bekämen, so ergibt sich die Möglichkeit, mit 8,000.000 m² Grund, die in der nächsten Stadtperipherie bereit gestellt werden könnten, rund 10.000 Familien mit einer Kopfanzahl von mindestens 50.000 Personen unterzubringen. Wenn von dieser Fläche auf Haus und nicht bebaubares Gebiet 1,600.000 m² abgerechnet werden 20 %, so verbleiben rund 6,500.000 m² kriegsmäßig bewirtschafteter Grund, der in einem Jahr mehr als 1200 Waggons Gemüse und Kartoffeln einbringt. Die 6,500.000 m² der Gartensiedlungsaktion würden um Bedeutendes mehr liefern. Es wird sich die Erntemenge an Gemüse und Kartoffeln auf mindestens 2000 Waggons stellen. Dazu kommt der beträchtliche Ertrag aus der intensiv betriebenen Kleintierzucht. Der Ertrag eines Gartens an Gemüse und Kartoffeln jährlich etwa 900 Kronen Ertrag aus der Kleintierzucht etwa 800 Kronen ergibt, auf 10.000 Gärten gerechnet. 9,000.000 Kronen zusammen also 17,000.000 Kronen wobei der Durchschnittspreis für Gemüse und Kartoffeln mit 50 h pro Kilogramm angenommen ist. Somit würde sich für einen Siedler ein Jahresmindestertrag von 1700 Kronen aus seiner Wirtschaft ergeben.
Es ist traurig genug, dass 80% der Mittelstand- und Arbeiterfamilien in Kleinwohnungen hausen, die nicht nur für den oft zahlreichen Familienstand zu klein, sondern auch meist im höchsten Grad ungesund und unhygienisch sind. Im Interesse der Volksgesundheit für diese Bevölkerungsklasse Wohnheime zu schaffen, die allen Forderungen der Volkshygiene genügen, Kleinhäuser mit Anbauland und Garten wären nun ein derartiges Hilfsmittel. Sie würden den Bewohnern nicht nur Wohnungen, in die Licht, Luft und Sonne dringen, sie würden ihnen auch die Möglichkeit geben, sich in frischer Luft körperlich zu betätigen. Eine derartige Hilfe wäre für die heranwachsende Generation von großer Bedeutung wäre, die Aktion würde somit eine Jugendfürsorge im allerbesten Sinn des Wortes sein.
Dazu kommt noch die Invalidenfrage, die derzeit eine der brennendsten Probleme ist, könnte im Rahmen dieser Siedlungsaktion zum großen Teil gelöst werden. Die Unterbringung Invalider in derartigen Siedlungskolonien würde ihre Ansprüche befriedigen und sie wieder zu einer geregelten Tätigkeit und Ausnützung ihrer Kräfte bringen.
Bei der Ausgestaltung Wiens würde eine durchgeführte Siedlungsaktion neue Werte schaffen. Die landschaftliche Umgebung Wiens ist so schön, wie kaum die irgend einer anderen Großstadt. Viele Flächen könnten genutzt werden, ohne dass das Schönheitsbild zerstört werde. Mit Gartensiedlungen würden sie als Gartenvorstädte landschaftlich Wiens Umgebung noch reizvoller erscheinen lassen......
QUELLE: Wiener Bauindustrie Zeitung, 1919, Jahrgang 36, Österreichische Nationalbibliothek, ANNO
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