Vom Armenhaus zur städtischen Infrastruktur #
Die Wiener Architektin Christiane Feuerstein sieht Architektur und Städtebau vor neuen Herausforderungen. Die Ursache dafür ist, einmal mehr, der demografische Wandel.#
Von der Wochenzeitschrift Die Furche (Donnerstag, 24. November 2011) freundlicherweise zur Verfügung gestellt.
Den historischen Weg sozialer städtischer Einrichtungen vom Armenhaus bis zur sozialen Infrastruktur beschreibt die Wiener Architektin Chrstiane Feuerstein in ihrem Buch (siehe unten).
H. C. EHALT: Wie sind Sie als Architektin zu diesem Thema gekommen?
Christiane Feuerstein: Der demografische Wandel wird in Zukunft einen wesentlichen Einfluss auf die Gestaltungsmöglichkeiten unserer Umwelt haben. Gesucht sind Ideen und Konzepte, die über altersspezifische Lösungen wie Barrierefreiheit oder Pflegedienste hinausgehen. Die Auseinandersetzung mit der historischen Entwicklung von architektonischen Typologien und städtischen Strukturen bildet dafür die Basis.
EHALT: Ihre Studie beginnt im 13. Jahrhundert. Warum greifen Sie so weit zurück?
Feuerstein: Soziale Aufgaben wie die Erziehung von Kindern, die Pflege von Kranken und älteren Menschen waren früher in den privaten Haushalt integriert. Mit der Gründung der Ordensspitäler im 13. Jahrhundert begann die Kirche, einen Teil dieser Aufgaben zu übernehmen. In einem großen Raum, dem meist ungeteilten Krankensaal, wurden Arme, Kranke, alte Menschen und sonstige Bedürftige untergebracht. Unter Kaiserin Maria Theresia kam es zu einer ersten Reform des „Armenwesens“. In der Regierungszeit ihres Sohnes, Josef II., wurde die Differenzierung der Anspruchsgruppen fortgeführt. Neue Erkenntnisse in der Medizin und der beginnende Aufbau einer Bürokratie führten zur Trennung von Armen- und Gesundheitswesen. Diese Reformen sind der Beginn eines staatlichen Sozialsystems mit festen Rechtsgrundsätzen und klar definierten Anspruchsberechtigungen.
EHALT: Der Titel „Vom Armenhaus zur sozialen Infrastruktur“ zeigt die Verschiebung der Akzente vom Gebäude zur Stadt.
Feuerstein: Während bis zum Ende des 19. Jahrhunderts neue Organisationsformen vor allem zu Adaptionen in der Gebäudetypologie führten, führte nun die rasch wachsende Bevölkerung zu einem Ausbau der technischen und sozialen Infrastruktur der Stadt: Schulen und Kindergärten entstehen, zentral organisierte Einrichtungen wie Krankenhäuser oder das Versorgungsheim Lainz werden am Stadtrand errichtet.
EHALT: Die Folgen für die Architektur?
Feuerstein: Die zunehmende Zahl älterer Menschen hat zur Entstehung neuer therapeutischer Konzepte beigetragen. Der Gestaltungsspielraum für Architekten ist größer geworden: Die Krankensäle verwandeln sich in Ein- bis Vierbettzimmer, aus Erschließungskorridoren werden innere Wohnstraßen, Bewegungsräume oder begrünte Raumlandschaften. Das Raumprogramm wird um großzügige Therapie- und Aufenthaltsbereiche erweitert, die häufig den Außenbereich miteinbeziehen. Da aber in Anbetracht der demografischen Entwicklung das Wohnen von älteren Menschen vom Sonder- zum Normalfall wird, stellt dies auch die Wohnungswirtschaft vor neue Anforderungen. Dabei geht es nicht nur um bauliche Adaptionen, sondern auch um das Zusammenleben.
EHALT: Was kommt auf die Städte durch den demografischen Wandel zu?
Feuerstein: Die Prognosen der Österreichischen Raumordnungskonferenz (ÖROK) zeigen, dass Österreich vor allem in den peripheren und in den strukturschwachen ehemaligen Industrieregionen altert. Die Jüngeren ziehen in die Städte mit besseren Ausbildungs- und Erwerbsmöglichkeiten, die Älteren bleiben zurück. In diesen Regionen sind neue Leitbilder gefragt. So haben 19 Städte, deren Bevölkerung abnimmt, unter dem Motto der IBA Sachsen Anhalt „Weniger ist Zukunft“ neue Perspektiven für ihre Stadt entwickelt. Dies ist nur eines von mehr als dreißig Beispielen aus der von Angelika Fitz und mir gestalteten Ausstellung „Generationenstadt“, die kürzlich im kunsthaus muerz eröffnet wurde. Die Ausstellung geht der Frage nach, wie Gemeinden und BürgerInnen aktiv auf diese Veränderungen reagieren können. Die Beispiele aus europäischen Ländern reichen von Stadtumbauten bis hin zu bürgerschaftlichen Initiativen.
EHALT: Was bedeutet das konkret?
Feuerstein: In Zukunft werden vermehrt Konzepte nachgefragt werden, die intelligent stadtplanerische und städtebauliche Strategien mit Impulsen für den Wohnungsmarkt und vielfältigen sozialen Angeboten kombinieren. Wie Beispiele in unserer Ausstellung zeigen, kann so ein Mehrwert für alle Altersgruppen entstehen. Multifunktionale Treffpunkte, wie die „Wolke 14“ im thüringischen Sonneberg werden durch die Vielfalt ihrer Aktivitäten zu frequentierten Treffpunkten. Hier können unterschiedliche Altersgruppen ihren Hobbys nachgehen, Sport treiben oder kreativ werden. Solche Zentren können, ebenso wie spezialisierte Einrichtungen zur Unterstützung älterer Menschen, in quartiersbezogene Konzepte integriert werden. So hat beispielsweise die Cariatas Socialis in einem Wiener Gemeindebau eine Wohngemeinschaft für Demenzkranke eingerichtet..
EHALT: Worin besteht eine institutionelle Gefahr im Umgang mit älteren Menschen?
Feuerstein: Die patientInnenzentrierten Therapiekonzepte sind zu begrüßen, da sie die Souveränität stärken und Öffentlichkeit herstellen. Ökonomisch vermeintlich wertlose Flächen einzusparen, wäre ein großer Fehler.
Buch zur sozialen Infrastruktur#
Die Entwicklung von Institutionen und Einrichtungen für ältere Menschen in Wien und deren baulich-typologische Umsetzung sind von einer Vielzahl politischer und sozialer Einflüsse bestimmt und eng mit der Lebens- und Wohnsituation in der Stadt verknüpft. Die Multifunktionalität der mittelalterlichen Spitäler, die auch die Armenfürsorge einschloss, wird in der josefi nischen Ära durch die Trennung von Sozial- und Gesundheitssystem abgelöst. In den folgenden Jahrhunderten setzt sich die Differenzierung von Anspruchsgruppen fort und führt zur Entstehung neuer Organisationsformen und Gebäudetypologien. Die bis in die Mitte des 20.Jahrhunderts gültige Zweiteilung in „geschlossene“ (stationäre Betreuung) und „offene“ (ambulante Unterstützung) „Altenhilfe“, und die damit verbundene Orientierung der Pfl ege am „biomedizinische Defi zitmodell“, wurde von neuen Leitbildern, die das Recht auf Selbstbestimmung betonen, abgelöst. Bestehende Einrichtungen wurden adaptiert und ergänzende Angebote wie mobile Dienste, Geriatrische Tageszentren, Gesundheits- und Sozialzentren und (betreute) Wohngemeinschaften geschaffen.
Vom Armenhaus zur sozialen Infrastruktur.
Von Christiane Feuerstein, Bibliothek der Provinz 2010.
160 Seiten, geb., 18,00 eur.