"Moskau, Moskau, wirf die Gläser an die Wand"#
Die Hauptstadt scheint wie ein Gegenentwurf zu Putins Russland: Sie will mit Kultur und Weltoffenheit punkten.#
Von der Wiener Zeitung (Sonntag, 29. Jänner 2017) freundlicherweise zur Verfügung gestellt.
Von
Thomas Seifert aus Moskau
Moskau. Der Rote Platz in Moskau ist geprägt von den vier "K"s, die das heutige Russland am besten erklären: Kirche, Kommunismus, Kapitalismus, Kreml. Die Basilius-Kathedrale mit ihren Zwiebeltürmen ist das Postkartenmotiv Moskaus schlechthin und das Symbol für "K" wie "Kirche, konservativ". Für "K", wie "Kommunismus" steht das Lenin-Mausoleum. Wladimir Iljitsch Lenin liegt einbalsamiert in seinem Glassarkophag. An den Mann, der die Bolschewiki in der Oktoberrevolution 1917 an die Macht brachte, wird heute wieder mehr gedacht als zu den Zeiten des Zerfalls der Sowjetunion vor 25 Jahren. "K" wie "Kapitalismus, schamloser" oder "Konsumismus, hemmungsloser" wird vom edlen Einkaufszentrum Glawny Uniwersalny Magasin, kurz "GUM", verkörpert und über all dem thronen die Türme des "K" wie Kreml. Der mächtige Gebäudekomplex gemahnt daran, wer die Macht im Lande hat.
Gelebte Weltoffenheit in der größten Metropole Russlands#
Moskau ist zwar die Hauptstadt des russischen Imperiums, das unter der Regentschaft von Wladimir Putin wieder an Glanz und Glorie des Zarenreiches und den Fortschrittsgeist der Ära von Sputnik und Juri Alexejewitsch Gagarin anknüpfen will. Aber die Stadt tickt heute anders als der Rest des Landes. Die Stadt - mit ihren 12 Millionen Einwohnern die mit Abstand größte Metropole Russlands (St. Petersburg folgt auf Platz zwei mit rund fünf Millionen) - ist das wirtschaftliche und kulturelle Zentrum des Landes. Während in Putins Russland Nationalismus wieder großgeschrieben wird, trotzt die Stadt der Entwicklung mit Weltoffenheit und Fortschritt. Bürgermeister Sergei Semjonowitsch Sobjanin ist zwar ein treuer Weggefährte des Doppelgespanns Wladimir Putin-Dmitri Medwedew, aber ihm gelingt es seit 2010, die Bürger der Stadt zu überzeugen. 2010 war sein Vorgänger, der Patriarch Juri Luschkow, abgesetzt worden. Er hatte es zwar geschafft, die Stadt mit ruhiger Hand durch die turbulente Umbruchzeit Anfang der 90er Jahre und dann durch die russische Finanzkrise 1998 zu führen. Aber Luschkow, der damals als Nachfolger Boris Jelzins galt, regierte Moskau, als gehöre ihm die Stadt. Mit der Wiederrichtung der von Josef Stalin gesprengten, gigantischen Christus-Erlöser-Kathedrale in Sichtweite des Kreml setzte Luschkow sich ein Denkmal.
Bürger in Entscheidungen einbinden#
Bürgermeister Sobjanin ging nach seiner Einsetzung als Nachfolger Luschkows rasch Reformen an und machte der rücksichtslosen Bauwut Luschkows ein Ende. Von nun an sollten die Bürger, die unter Luschkow zynisch geworden waren, Gehör finden.
Die Internet-Plattformen "Nasch Gorod" ("unsere Stadt") und "Aktiwnyi Grazdanin" ("Aktivbürger") werden stets genannt, wenn es darum geht, zu zeigen, wie sehr die Stadtregierung um Dialog mit den Bürgern bemüht ist. Tatsächlich: Die beiden Portale sind ein Beispiel für Verwaltungstransparenz, wie man es in Wien erst suchen muss. Über eine Million Moskauer sind auf dem Portal angemeldet. Allerdings: Diese Initiative "elektronische Demokratie" zu nennen, wie die Stadtverwaltung das tut, ist übertrieben. Denn die Fragen, die man an die Bürger richtet, sind sorgfältig ausgewählt, die Themen, über die man abstimmen lässt, oft von überschaubarer Bedeutung. Dennoch wird die Initiative auch von Kritikern als vielversprechender Start begrüßt.
"Die Reformen haben Moskau vielleicht nicht zur weltweiten Vorzeigestadt für städtische Demokratie gemacht, aber sie haben greifbare Erfolge gezeigt. Der Aktivismus der Bürger und die Verbesserungen in der Stadtregierung haben Moskau zu einer anderen Metropole gemacht", schreibt Robert Argenbright, Professor für Geographie an der Universität Utah, in seinem Buch "Moscow under Construction". "Moskau wird zwar vorgeworfen, den Rest des Landes zu dominieren, die Stadt wird aber gleichzeitig beneidet und ihre Innovationen werden vom Rest des Landes kopiert. Die derzeitige Entwicklung in Moskau, die man als ‚Liberalisierung‘ - ein Kürzel für einen komplexen Prozess - beschreiben könnte, ist ein radikaler Kontrast zur politischen Richtung von Putins Regime auf nationaler Ebene", schreibt Moskau-Experte Argenbright weiter.
Sobjanin sammelte junge Reformer um sich#
Auch das Nachrichtenmagazin "Spiegel" streut dem Bürgermeister Rosen: "Den Ton in Moskau geben junge, gebildete Leute an. Moskau ist eine Stadt der Mittelschicht geworden. Was auch an Sergej Sobjanin liegt, dem jetzigen Oberbürgermeister. Er hat junge Reformer um sich versammelt, die anders ticken als der Führungszirkel im Kreml." Sobjanin hat es auch geschafft, den Burgfrieden zwischen Stadtverwaltung und den zahlreichen Bürgerinitiativen, die sich gegen den Planungs-Brutalismus Luschkows formiert haben, herzustellen.
Die Wähler honorierten das: 2013 setzte Luschkows Nachfolger Sobjanin sich bei den Bürgermeisterwahlen mit 51 Prozent gegen den Anwalt und führenden Oppositions-Aktivisten Alexei Nawalny durch, der 27 Prozent der Stimmen auf sich vereinen konnte.
Thomas Grob und Sabina Horber schreiben in der Einleitung des 2015 bei Böhlau erschienen lesenswerten Sammelbands: "Moskau - Metropole zwischen Kultur und Macht", dass von den Politikern, die Moskau prägten, nur wenige aus Moskau selbst stammten: "Der Georgier Stalin, der die Stadt kaum kannte, als er dort 1918, mit fast vierzig Jahren, in den obersten Zirkel der Sowjetmacht gelangte, trieb die Umbaupläne wie auch die symbolischen Dimensionierungen am weitesten; doch auch der aus dem südwestlichsten Zipfel Russlands stammende und eng mit der Ukraine verbundene Nikita Sergejewitsch Chruschtschow ging ungehemmt mit dem Stadterbe um." Luschkow wäre als "echter" Moskauer nicht eben pfleglich mit seiner Stadt umgegangen, während der umsichtiger agierende Nachfolger Sergej Sobjanin aus dem sibirischen Tjumen stamme.
Moskau, das ist keine Stadt für die Lauen: Mitte der 90er Jahre stand die Stadt für lärmende, schrille Dekadenz, für exhibitionistisch zur Schau gestellten Reichtum der Oligarchen und jener, die so taten, als wären sie welche. Es war eine Stadt krummer Gangster und Mafiosi, eine Stadt rücksichtsloser Superreicher, in der jene, die nichts hatten - weder Geld noch Beziehungen -, auch nichts zählten.
Rücksichtsvoll, geschmackvoll und fast "berlinisiert"#
Heute gibt man sich geschmackvoller, zivilisierter, rücksichtsvoller: Der Metropolen-Moloch Moskau hat sich ein menschliches Antlitz zugelegt. Die teuren Nachtclubs gibt es zwar noch immer, aber Moskau ist berlinerischer geworden: Wer heute "in" sein will, den findet man in der widerborstigen Galerie "Garage Museum für zeitgenössische Kunst", die von Dascha Schukowa geführt wird, Frau des Oligarchen Roman Abramowitsch. Die jungen, wilden Künstler haben sich im Projekt "Fabrika" eingerichtet, weit vor den Toren der Stadt im Viertel Sokolniki. Die Hipster findet man im Viertel "Krasni Oktjabr" - "Roter Oktober", wo auf einer Insel in der Moskwa, am Gelände einer ehemaligen Schokoladenfabrik Hipster-Bars, die Büros von Start-ups, schicke Clubs und von Studenten frequentierte Pubs stehen. Ein weltweites Unikat. Es scheint sich das Motto des 1979 erschienen Liedes von der Deutsch-Pop-Band Dschinghis Khan erfüllt zu haben: "Moskau, Moskau, wirf die Gläser an die Wand".
Und während Russland immer repressiver auf Gegenkultur reagiert, blüht in Moskau die Theaterszene: Das Gogol-Zentrum in der Kazakowa-Straße, zwei Metrostationen vom Roten Platz entfernt, ist das Mekka der interdisziplinären Kunst: Diskussionen und Vorträge, Film, Musik und Theater treffen in dem Ziegelbau aufeinander. Kirill Serebrennikow, der Denkverbote missachtet und sich regelmäßig an gesellschaftskritische Stücke heranwagt, leitet das Haus. Er gastierte 2015 bei den Wiener Festwochen.
Kampf der Verkehrslawine als offenes Problem#
Anfang der 90er Jahre war die Überquerung einer Straße in Moskau nur unter größter Lebensgefahr möglich - wer bremst schon für Fußgänger? Mittlerweile hat die Stadt mehr als 100 Kilometer Straße zu Fußgängerzone erklärt. Der Verkehrsminister der Stadt, der aus Estland stammende, 40-jährige Maxim Liksutow, bemüht sich redlich, den Bürgern das zu Fuß Gehen anzugewöhnen sowie ihnen Fahrrad und öffentliche Verkehrsmittel schmackhaft zu machen. Und tatsächlich: Die Moskauer Autofahrer sind geduldiger und disziplinierter geworden. Ein Schritt auf den Zebrastreifen - und es wird gebremst.
Ein Besuch in der Verkehrsleitzentrale zeigt, dass Moskau den Paradigmenwechsel bitter nötig hat. 3,9 Millionen Autos gibt es in der Stadt, jedes Jahr kommen 200.000 hinzu. Acht Millionen Metrofahrten fallen pro Tag an, plus sieben Millionen Bus- und Straßenbahnfahrten, dazu werden jeden Tag 600.000 Fahrten mit dem Taxi gezählt, berichtet Alexander Poljakow vom Institut für Transportwirtschaft an der Hochschule für Ökonomie und Vizedirektor der Moskauer Verkehrsleitzentrale. Auf einem riesigen Monitor beobachten die Experten das Straßengeschehen. 150.000 Kameras sind entlang der Straßen angebracht, 40.000 Ampeln regeln den Verkehr, die Mitarbeiter der Verkehrsleitzentrale können jederzeit eine Karte aufrufen, die den Verkehrsfluss in Echtzeit zeigt. "Wir können so genau beobachten, was sich auf Moskaus Straßen abspielt", sagt Alexander Poljakow. Und mit einem verschmitzten Grinsen fügt er hinzu: "Viele fragen uns, wo war meine Frau oder mein Mann gestern Abend? Nun ja, wir können viele Fragen beantworten, diese aber nicht."
Um den Verkehr in den Griff zu bekommen, sei der Ausbau des öffentlichen Verkehrs unabdingbar, sagt Poljakow. Denn noch immer ist Moskau nach Angaben des niederländischen Autonavigationsherstellers TomTom die Stadt mit den fünftschlimmsten Verkehrsstaus weltweit. Also soll das 300 Kilometer lange Schienennetz der Moskauer Metro bis 2020 um 140 Kilometer und 60 Stationen erweitert werden, ein rund 60 Kilometer langer U-Bahn-Ring verknüpft die Vorortelinien miteinander. 2012 wurde das Stadtgebiet der russischen Hauptstadt im Südwesten erweitert, die Fläche der Stadt hat sich verdoppelt. 5700 neue Straßenbahnen, Busse und Oberleitungsbusse wurden angeschafft, Busspuren und Fahrradwege eingerichtet und die Zahl der Taxis verachtfacht. Zwischen 2012 und 2020 will die Stadtverwaltung 4,4 Billionen Rubel (rund 69 Milliarden Euro) in den Ausbau des Moskauer Verkehrsnetzes stecken.
Fußball-WM als Vehikel für Renovierungsarbeiten#
Den nächsten Schritt in der Entwicklung der Stadt soll die Abhaltung der Fußballweltmeisterschaft im Jahr 2018 bringen. Man könnte in Abwandlung des berühmten Zitats des preußischen Heeresreformers Carl von Clausewitz sagen: "Sport ist die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln." Und so wird überall in Moskau gebaut und renoviert. Bei einem Besuch im Luschniki-Olympiastadion im Südwesten der Stadt ist zu beobachten, wie die Ränge mit neuen Sitzen bestückt werden. Die Bauarbeiten werden auch mitten im Winter mit Hochdruck fortgesetzt, bestätigt der Bauleiter. Alexander Polinsky, Generaldirektor für Sport und Freizeit der Stadtverwaltung von Moskau, zeigt sich auf einer Diskussionsveranstaltung in Moskau zuversichtlich, dass der Zeitplan eingehalten werden kann: Bis Juni 2017 wird das Stadion fertig sein, sagt er.
Moskau will Start-ups fördern und mit Wien kooperieren#
"Im Moment werden alle großen Stadien in der Stadt renoviert", sagt der für Stadtaußenbeziehungen zuständige Stadtrat Sergei Cheriomin im Gespräch mit der "Wiener Zeitung". Cheriomin besuchte im April 2016 Wien, um über engere Kooperationsmöglichkeiten zwischen Moskau und Wien zu sprechen.
"Österreichische Firmen werden auch in den kommenden Jahren wichtige Partner für beispielgebende Lösungen sein", sagt Cheriomin. Die Wirtschaft der Stadt werde weiter diversifiziert, Tourismus und Dienstleistungsindustrie sollen gefördert werden, von den 1,2 Millionen Studenten, die in der Stadt leben, erwartet Cheriomin sich Impulse für den Hi-Tech- und Start-up-Sektor. In Technopolis im Südosten der Stadt sollen Start-ups ideale Voraussetzungen finden, sagt Cheriomin. Denn: "Moskau, das ist ein gigantischer Magnet."