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Regionale Tyrannei#

Die Europäisierung der Ostukraine wird nicht durch das kommunistische Erbe verhindert, sondern durch eine neue, undemokratische Elite, die auf den Ruinen der UdSSR entstanden ist.#


Von der Wiener Zeitung (Sa./So., 27./28. September 2014) freundlicherweise zur Verfügung gestellt.

Von

Tatiana Zhurzhenko


Lenin-Denkmal und das 'Derschprom'-Gebäude in Charkiw
"Leere Zeichen": Lenin-Denkmal und das "Derschprom"-Gebäude in Charkiw.
© Dean Conger/Corbis

Der Maidan 2013/14 ist von vielen Beobachtern als Versuch interpretiert worden, die 1989er Revolutionen in Ostmitteleuropa nachzuholen und die Entsowjetisierung der Ukraine zu vollenden. Forderungen, die herrschende Elite einer Lustration zu unterziehen oder die Kommunistische Partei zu verbieten, spiegeln die verbreitete Auffassung wider, dass fast alle Probleme des Landes mit der immer noch lebendigen sowjetischen Vergangenheit zusammenhängen.

Während überall, wo der Euromaidan das Land erfasste, Lenin-Denkmäler gestürzt wurden, blieben sie im Osten, insbesondere in Charkiw, Donezk und Luhansk und in vielen kleinen Städten des Donbass, nicht nur stehen, sondern erhielten ein zweites Leben als Orte pro-russischer Mobilisierung und des symbolischen Widerstands gegen die Regierung in Kiew. Doch geht es bei dem Zusammenprall von Werten und Ideologien in der Ukraine tatsächlich um den endgültigen Abschied von den Überbleibseln des Sowjetsystems?

Sowjetische Moderne#

Vor zwölf Jahren widersprach ich der These der Rückständigkeit und Inferiorität des Ostens mit dem Argument, dass die Ukraine ihre moderne industrielle, kommunikative und kulturelle Infrastruktur und den Rahmen ihrer kollektiven Identität aus der Sowjetära geerbt habe, und dass dieses Erbe nicht unbedingt etwas Negatives sein müsse.

Ich war auch davon überzeugt, dass die Ostukraine mit ihrem industriellen und wissenschaftlichen Kapital, ihren Humanressourcen und ihrer modernen urbanen Kultur ein vitales Moment des europäischen Projekts der Ukraine sein könne. Die ostukrainischen Städte beriefen sich stolz auf das Erbe der sowjetischen Urbanisierung und den ukrainischen Modernismus der 1920/30er Jahre.

In Charkiw wurde 1928 Derschprom, das gewaltige konstruktivistische Haus der Staatsindus-trie, fertiggestellt. Die Architektur gemahnt an Fritz Langs ein Jahr zuvor entstandenen Film "Metropolis"; Dsiga Wertow und Sergei Eisenstein verwendeten das Gebäude in ihren Filmen als Symbol der Moderne, und Charkiw, das sich gern als "Erste Hauptstadt der Ukraine" (1919-1934) präsentiert, hat es zu seinem Wahrzeichen gemacht. Ebenso waren die mit der Sowjetära assoziierte Industriekultur und das Ethos der Arbeiterklasse der ganze Stolz des Donbass und wesentliche Elemente der lokalen Identität.

Heute, mehr als zwei Jahrzehnte nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, bin ich nicht mehr so optimistisch. Es scheint, dass die sowjetische Moderne keine Basis mehr für die längst fällige postsowjetische Modernisierung bildet. Das grandiose Scheitern von Dmitri Medwedews groß angekündigtem Modernisierungsprogramm für Russland ist nur ein weiteres Beispiel dafür.

De-Industrialisierung ist ein globaler Trend und nicht spezifisch für den postsowjetischen Raum. Auch und gerade in den hochentwickelten Ländern leiden die alten Industrieregionen unter Strukturproblemen, man denke nur an das Ruhrgebiet oder De-troit. Ihre Wiederbelebung erfordert Investitionsbereitschaft, Kreativität und politischen Willen. Die postsowjetische Privatisierung und die lokalen Varianten neoliberaler Wirtschaftsformen bieten keine Lösung für die komplexen Probleme der alten Indus-trieregionen im Osten der Ukraine, im Gegenteil, sie haben sie verschärft. Die aus der Sowjetzeit geerbten Industrieanlagen wurden und werden in der Regel nicht modernisiert, sondern bis an die Grenzen ausgebeutet.

"Rote Direktoren"#

Der in der Ostukraine entstandene postsowjetische Kapitalismus ist aus einer Symbiose von "Roten Direktoren" und lokalen kriminellen Clans hervorgegangen, während Gewerkschaften bzw. eine institutionalisierte Arbeiterbewegung weitgehend fehlten. Wer das Glück hat, beschäftigt zu sein, hat zeitlich befristete Verträge und ist der Willkür des lokalen Managements ausgeliefert. Viele kleinere Städte mit industrieller Monokultur, vor allem im Donbass, sind heute entvölkert, weil viele ihrer arbeitsfähigen Einwohner in Russland Geld verdienen, sich Schmugglerbanden angeschlossen haben oder versuchen, sich mit Subsistenzwirtschaft über die Runden zu bringen.

Die städtische Infrastruktur ist allenthalben überaltert, und die Bürgermeister verbuchen es schon als Erfolg, wenn sie die Mittel auftreiben, wenigstens das Zentrum kosmetisch zu renovieren. Von der Fußball-Europameisterschaft 2012, die die Regierung Janukowytsch mit großen Versprechungen verband, blieben ein paar Stadien und Hotels in Donezk, Charkiw, Kiew und Lwiw; der erhoffte Impuls für die ukrainische Wirtschaft stellte sich nicht ein.

Die ukrainische Variante des postsowjetischen Kapitalismus korrespondiert mit einem spezifischen politischen System, das seine Wurzeln in der Ostukraine hat. Insbesondere dem Donbass fehlt es an politischem Pluralismus und Wettbewerb, und es war das hier etablierte Modell, das die regionalen Eliten auf das gesamte Land übertragen wollten. Das politische Monopol der Partei der Regionen, das die Interessen eines Oligarchen-Clans vertritt, hat die Entstehung politischer Alternativen verhindert. Als unangefochtene wirtschaftlich-politische Beteiligungsgesellschaft konnte es sich die Partei der Regionen erlauben, ihre Wählerschaft zu ignorieren und auf Ideologie weitgehend zu verzichten.

Intransparente Macht#

Dieses Modell hat, wie die Politologen Oleksandr Fisun und Oleksiy Krysenko argumentieren, eine Zeitbombe unter den ukrainischen Staat gelegt. Es konnte nicht gutgehen, dass Wahlen zu einer formalen Prozedur degenerierten, deren einziger Zweck es war, das bestehende, durch Ungerechtigkeit und Intransparenz charakterisierte Machtsystem mit Legitimation zu versehen. Es konnte nicht gutgehen, dass die erwerbstätige Bevölkerung in technisch obsoleten, aus der Sowjetzeit ererbten und staatlich subventionierten Industrieunternehmen arbeitete und Aufstiegschancen blockiert waren.

Anders als in den übrigen Regionen gab es im Donbass so gut wie keine Gegeneliten. Daher waren dort die lokalen Ausbildungsformen des Euromaidan marginal, und die im Frühjahr 2014 organisierten Anti-Kiew-Proteste zogen vor allem die Verlierer der postsowjetischen Transformation an.

Protektionismus#

Ähnliche Tendenzen waren in anderen ostukrainischen Städten zu beobachten, etwa in Charkiw, wo Gouverneur Dobkin und Bürgermeister Kernes die lokalen politischen Ressourcen monopolisierten und alle Geldflüsse, gleich ob privat oder öffentlich, unter ihre Kontrolle brachten.

Die Partei der Regionen beanspruchte, die Interessen der russischsprachigen Ostukraine zu vertreten, doch in Wahrheit reflektierte sie nur die anti-demokratische, anti-liberale politische Kultur ihrer Wählerschaft, die nicht an Repräsentation, sondern an Protektion interessiert war. Paternalismus - von Geschenken, etwa Buchweizen, der vor Wahlen gratis an Pensionäre verteilt wurde, bis zum Versprechen, den Osten vor der "faschistischen Bedrohung" aus dem Westen zu beschützen - war das Fundament für die apolitische Politik der Partei der Regionen. Deren lokale Führung versuchte, die Proteste auf dem Maidan in Kiew zu ignorieren und warb Demonstranten für Gegenproteste an, in der Regel Angestellte aus dem öffentlichen Dienst. Angeheuerte Schläger aus dem kriminellen Milieu, die Tituschki, wurden losgeschickt, um die Euromaidan-Aktivisten einzuschüchtern, und verprügelten Demonstranten auf offener Straße.

Das Phänomen der Tituschki - oft ehemalige Sportler, die informell mit der Polizei zusammenarbeiteten und vor allem in der Geschäftswelt als Leibwächter und Schlägertruppen eingesetzt wurden - illustriert gut den Mafia-Hintergrund eines Teils der lokalen Elite.

Der Donbass war der Extremfall, aber zusammen mit den vielen ost- und südukrainischen Städten und ihren enttäuschten Einwohnern, die immer noch unter den wirtschaftlichen Auswirkungen des Zusammenbruchs der Sowjetunion litten, mit einem Unternehmertum und einer politischen Landschaft, die von in die örtliche Polizei und Sicherheitskräfte integrierten Donezker Aufpassern kontrolliert wurden, waren die sozialen und politischen Voraussetzungen für eine ukrainische Vendée gegeben. (Das französische Departement Vendée bekämpfte 1793 die Revolution. Anm.)

Es ist nicht die sowjetische Moderne, sondern ein auf ihren Ruinen gewachsenes monströses Neoplasma, das die Europäisierung der Ukraine behindert.

Streit um Denkmäler#

Von daher verfehlt die aggressive anti-sowjetische Rhetorik vieler Euromaidan-Aktivisten ihr Ziel. Für sie symbolisieren die Lenin-Denkmäler eine sowjetische Identität, die in den desolaten Indus-trieenklaven des Ostens überlebt hat. Doch womit die Regierung in Kiew hier konfrontiert ist, hat wenig mit sowjetischer Ideologie und Werten zu tun, vielmehr steht sie wohl vor einem Phänomen, das der russische Soziologe Lev Gudkov als "negative Identität" beschrieben hat. Diese konstituiert sich über ein Feindbild: Aus der Perspektive der pro-russisch eingestellten Bürger sind es die "Banderisten" und "Nationalisten" aus Kiew und der Westukraine, die "unsere Denkmäler" stürzen und "unsere Vergangenheit" stehlen.

Die Lenin-Denkmäler verkörpern nicht mehr die Sowjetunion, sondern sind ein Ort und Symbol pro-russischer Mobilisierung geworden - "leere Zeichen", die keinen ideologischen Inhalt transportieren, sondern die lokale Identität als "anti-Kiew" markieren.

Tatiana Zhurzhenko
Tatiana Zhurzhenko


Auszug aus dem auf Englisch geschriebenen Aufsatz "Im Osten nichts Neues?", der in "Transit 2014" in der Übersetzung von Andrea Marenzeller erscheinen wird. Die Autorin unterzieht hier ihre älteren Analysen einer kritischen Revision .

Tatiana Zhurzhenko kommt aus Charkiw (Ukraine), wo sie bis 2002 an der Nationalen V. N. Karazin Universität lehrte. Sie ist Research Director des "Russia in Global Dialogue Programms" am IWM in Wien. Buchpublikation: "Borderlands into Bordered Lands: Geopolitics of Identity in Post-Soviet Ukraine" (Stuttgart 2010).

Wiener Zeitung, Sa./So., 27./28. September 2014


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