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Warum diese Ohnmacht Europas? #

Politik und Gesellschaft werden von vielen Seiten her beschädigt. Das Hadern mit der eigenen kolonialen Vergangenheit schwächt den Kontinent zusätzlich.#


Von der Wiener Zeitung (20. Juli 2022) freundlicherweise zur Verfügung gestellt.

Von

Tibor Pásztory


In ganz Europa suhlen sich viele schon seit geraumer Zeit in Selbstmitleid aller Art, wobei der Fantasie kaum Grenzen gesetzt sind und das Spektrum von reversem Rassismus über Klimawandel-Panikmache, Political Correctness, die als olympische Disziplin ausgeübt wird, Verdammung der eigenen Geschichte, Technik- und Wissenschaftsfeindlichkeit, Impfgegnerschaft, Putin-Verstehertum, Energie- und Gaskrise bis hin zur Cancel Culture reicht.

Apropos Cancel Culture: Nein, wir reden hier nicht von der ÖVP, die sich gerade redlich Mühe gibt, Sebastian Kurz und dessen Kanzlerschaft vergessen und so ungeschehen wie möglich zu machen. Auch ist es nicht besonders bedeutend, nur traurig, dass etwa die niederösterreichische Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner jüngst tatsächlich "100 Jahre Niederösterreich" gefeiert hat. In Anbetracht dessen, dass man an die 100 ruhigen Gewissens eine Null dranhängen könnte, hätte ein Blick in ältere Landkarten genügt, um zu wissen, dass es Niederösterreich schon seit Jahrhunderten gibt und lediglich die Stadt Wien vor 100 Jahren das gemeinsame Bundesland verlassen hat. Ein Schelm, der vermutet, dass hier lediglich ein Motiv gesucht wurde, um vor dem nahenden Landtagswahlkampf etwas abzufeiern.

Tibor Pásztory ist Wirtschaftsjournalist und Historiker
Tibor Pásztory ist Wirtschaftsjournalist und Historiker
Foto: © privat

Scheint dieses Beispiel noch relativ harmlos (und von der Öffentlichkeit glücklicherweise weitgehend ignoriert), zeigen sich andere Formen selbstzerstörerischer Europa-Feindlichkeit schon auf ernsterem und Europa-feindlichem Niveau. So hat ein live zugeschalteter "Wissenschafter" aus dem Benelux-Raum - sein Name sei an dieser Stelle zu Recht verdrängt - anlässlich der Präsentation des Buches "Crudelitas. Zwölf Kapitel einer Diskursgeschichte über die Grausamkeit" des Kulturphilosophen Wolfgang Müller-Funk doch tatsächlich gemeint, die Grausamkeit sei 1492, also mit der Entdeckung Amerikas aus europäischer Sicht, erfunden worden.

Offensichtlich hat der gute Mann nicht nur vergessen, dass etwa Caesars Streifzüge durch die keltischen und germanischen Wälder von der heutigen Geschichtsschreibung weitgehend als Genozid gewertet werden, dass etwa die Geschichte Asiens an Grausamkeiten kaum zu überbieten ist, dass etwa die Sklaverei in Afrika schon vor der Ära des Kolonialismus als Konjunkturtreiber gegolten hat, oder dass - last but not least - die von den "bösen Weißen" kolonialisierten Azteken, Maya etc. ihre Menschenopferkulte ins Unermessliche pervertiert hatten.

Dies alles soll die vielfältige Problematik des Kolonialismus freilich nicht unter den Tisch kehren, jedoch sehr wohl relativieren, dass die Menschheitsgeschichte eben aus einer Folge von Eroberung, Überschichtung, Diebstahl, und leider auch Mord, Totschlag und sogar Genozid besteht. Warum der europäische Kolonialismus hier als singuläres Verbrechen hingestellt wird, weiß der Himmel. Oder hat das Methode? Dummheit und Verdrängung sind nur zwei der Ursachen, warum historische (und andere) Unwahrheiten verbreitet werden. Womöglich gibt es ja Gruppierungen, in deren Interesse jegliche Schwächung Europas (und dieser ist ein kollektives schlechtes Gewissen bezüglich der eigenen Geschichte durchaus förderlich) ist?

Äußere Konkurrenz und innere Feinde#

Da ist zunächst natürlich die außereuropäische Konkurrenz zu nennen, der jegliche Schwächung Europas naturgemäß dient oder zumindest zu dienen scheint. Die Regimes in China und Russland zum Beispiel haben zwar nicht das geringste Problem mit den Grausamkeiten ihrer eigenen Geschichte (und Gegenwart), doch zeigt sich gerade seit dem 24. Februar, seit dem Beginn des russischen Einmarsches in der Ukraine, wie trefflich zupass ein mit sich im Unreinen befindliches (West-)Europa der russischen Aggressionspolitik kommt.

Es ist daher nicht auszuschließen, dass der russische Cyberwar, der in Form von Desinformation und Einmischung in innere Angelegenheiten westlicher Staaten seit Jahren stattfindet (auch in Form von Cyberangriffen gegen Hillary Clinton im US-Präsidentschaftswahlkampf 2016), nicht nur (reichlich) über rechtspopulistische Kanäle, sondern auch - mit oder ohne deren Wissen - über die Apologeten übertriebener Political Correctness und Cancel Culture läuft. Dem Kreml ist egal, von welcher Seite aus das europäische Selbstbewusstsein geschwächt wird. Hauptsache, die Gesellschaft wird gespalten und destabilisiert. Gewiefte Machiavellisten unterstützen ja gerne zwei Seiten.

Nein, hier sollen keine neuen Dolchstoßlegenden propagiert werden. Trotzdem muss festgestellt werden, dass Europa auch innere Feinde hat, und zwar mehrere. Da sind zum einen die Rechts-Rechten und Rechtspopulisten, die nicht die geringste Scham zeigen, jegliche Krisenerscheinung, die sich ihnen bietet, auf Kosten der Gesamtgesellschaft für sich zu vereinnahmen. Herbert Kickls Tanz auf der Corona-Pandemie sei hier als unappetitliches Beispiel genannt. Viktor Orbáns Packelei mit Wladimir Putin scheint in Anbetracht der für die ungarische Nation traumatischen Einmärsche russischer beziehungsweise sowjetischer Armeen 1849, 1944/45 und 1956 besonders verstörend. Die finanzielle Unterstützung Marine Le Pens durch den Kreml wiederum wurde längst zugegeben.

Ein uneiniges Europa ist im Sinne der Weltmächte#

So weit, so bekannt. Nachdem es die europäischen Mächte in zwei Weltkriegen geschafft hatten, einander und somit auch sich selbst unwiederbringlich zu schwächen und teilweise sogar zu zerstören, war ein ungeeintes Europa für die nach 1945 entstandenen Weltmächte USA, Sowjetunion und China sehr bequem: wirtschaftlich ein guter Handelspartner, dessen technologische Errungenschaften man lange kaufen (oder noch besser kopieren) konnte. Die europäische Einigung wurde und wird daher in Außereuropa nicht als vorteilhaft gesehen. Die Tatsache, dass es nun einmal kein leichtes Unterfangen darstellt, einen über Jahrhunderte in Kriege verfallenen Haufen heterogener europäischer Staaten und Völker zu einen, wurde dabei auch von proeuropäischen Kräften oft unterschätzt.

So ungern es wohl manche hören wollen, die an das Gute glauben (oder das, was sie für gut halten), dienen auch Bewegungen wie "Black Lives Matter" oder "Fridays for Future" einer Destabilisierung Europas. Nicht, dass diese Bewegungen von Natur aus schlecht wären - sie allen entstanden ursprünglich aus hehren moralischen Beweggründen -, aber die Verführbarkeit, sie zur Destabilisierung, wenn nicht sogar Zerstörung gewachsener gesellschaftlicher Strukturen zu missbrauchen, liegt für die Post-68er-Linke einfach zu nahe. Und so verhält es sich heute eben so, wie es schon immer war, dass Politik und Gesellschaft durch den rechten wie auch den linken Rand beschädigt werden. Zwar läuft diese Entwicklung noch lange nicht so radikal ab wie etwa in der Weimarer Republik, doch verfügen die heutigen politischen Ränder über mediale Möglichkeiten zur Agitation, in erster Linie die Sozialen Medien, von denen man in der Zwischenkriegszeit nicht einmal träumen konnte.

Negativer Einfluss einer abhängigen Wirtschaft#

Leider kommt auch die politische Mitte nicht ungeschoren davon. So lässt sich der brave Staatsbürger oder die brave Presseabteilung eines Unternehmens allzu leicht vorschreiben, was man sagen oder denken darf und was nicht, sodass man sich fragt, wozu eigentlich die Gouvernanten des 19. Jahrhunderts abgeschafft wurden. Als viel größer erweist sich hier noch der negative Einfluss der Wirtschaft als solcher, die sich - wir sehen dies gerade sehr deutlich - in Abhängigkeiten von konkurrierenden Mächten gebracht hat und nun vor existenziellen Problemen in der Energie- und Lieferkettenthematik steht.

Und einmal ehrlich: Wie viele westliche Unternehmen warten nur darauf, mit Russland wieder fröhlich handeln zu dürfen? Und wie viel an Wertschöpfung wollen DAX-Konzerne, allen voran VW und Daimler, eigentlich noch nach China auslagern? So naiv kann gar kein Konzernlenker sein, nach einem späteren Crash mit China, wie immer dieser aussehen wird, einmal sagen zu können: "Das habe ich nicht erwartet." Eher grenzt dieser wissentliche Drift in Abhängigkeiten schon an Hochverrat. Aber noch besteht die Möglichkeit einer Schubumkehr für eine europäische Renaissance. Wir müssen nur wollen.

Wiener Zeitung, 20. Juli 2022


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