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Warum Putin nicht nachgeben kann #

Russland dürfte den Krieg gewinnen, kann aber seine Großmachtambitionen von zwei Jahrzehnten zunichtemachen.#


Von der Wiener Zeitung (24. August 2022) freundlicherweise zur Verfügung gestellt.

Von

György Vigóczki-Máté


Wahrscheinlich werden jene enttäuscht sein, die mit einem Nachkriegsrussland als unvermeidlichen Global-Player rechnen, genauso wie die, die den plötzlichen, spektakulären Kollaps des russischen Staates und einen Wechsel an dessen Spitze erwarten. Es wäre angebracht, die nahe Zukunft weder nach dem aktuellen Interesse des Westens noch nach den jetzigen Zielsetzungen des Kremls zu diskutieren, sondern eher nach den außenpolitischen Ambitionen Russlands der vergangenen zwanzig Jahre.

Den Ausgang des Krieges in der Ukraine genau vorauszusagen, ist zwar schwer, doch kristallisiert sich immer mehr heraus, dass sich Russland, selbst nach einem militärischen Sieg, von seinen seit Jahrzehnten gehegten regionalen und innenpolitischen Zielen verabschieden muss.

"Wenn man Schwäche zeigt, wird man besiegt"#

György Vigóczki-Máté ist Russologe an der Universität Pécs in Südungarn.
György Vigóczki-Máté ist Russologe an der Universität Pécs in Südungarn.
Foto: © Tamas Gyurkovits

Um zu verstehen, warum der Kreml den Krieg in der Ukraine um jeden Preis zu Ende führen will, ist es wichtig zu erkennen, welch hohen Stellenwert im heutigen Russland das Ideal der Stärke beziehungsweise der starke Staat hat. Die Legitimität von Wladimir Putins Politik beruht hauptsächlich auf seinen ersten beiden Amtszeiten als Präsident sowie dem permanenten Aufzählen der großen Taten eines aktiven Staates. Nach den verheerenden und demütigenden 1990ern erscheint die Periode zwischen 2000 und 2008 als ein echtes Auferstehen. Mit einem Stalin-Zitat kritisierte Putin 2004 die frühere Politik der Elite: "Wenn man Schwäche zeigt, wird man besiegt."

In seiner berühmten Münchner Rede von 2007 erklärte er, Russland fordere seinen bedeutenden Platz in der Weltpolitik zurück. Im Februar 2022 bei der Ankündigung des Angriffs auf die Ukraine wies er darauf hin, dass dies gewiss nicht ohne Grund geschehe, denn in der Sprache und Kultur des russischen Volkes würden Stärke und Wahrheit oft zusammengehören. Seit 24. Februar nun kämpft Russland nicht bloß gegen die Ukraine, sondern gegen den gesamten Westen. So gesehen wäre ein Sieg der russischen Armee für den Westen demütigend.

Hinter der großen Zustimmung der Russen zur "militärischen Sonderoperation" in der Ukraine verbirgt sich wahrscheinlich die Einstellung, egal wie genau ein Sieg aussähe, dass eine Niederlage Russland unwiderruflich schwach erscheinen ließe - und das darf nicht geschehen. Auch wenn Russlands Sieg unmittelbar bevorstehen sollte, kann genau diese Rolle, die auf dem Mythos der Stärke aufbaut, geschwächt werden.

Bereits während der Pandemie ist dem Kreml klar geworden, dass sich die Weltpolitik immer mehr auf den globalen Wettbewerb zwischen den USA und China fokussiert. Laut Dmitri Trenin, dem Direktor des Moskauer Carnegie Center, hätte sich Moskau in dieser Situation darauf konzentrieren sollen, das Gleichgewicht zwischen diesen beiden aufrechtzuerhalten und dabei zu vermeiden, eindeutig Partei zu ergreifen. Russland wäre dann hauptsächlich wegen seiner wirtschaftlichen Größe nur die Rolle der zweiten Geige geblieben. Mit dem jetzigen Krieg hat Putin aber erreicht, dass Russland als Vermittler zwischen Washington und Peking nicht mehr auftreten kann.

Moskau muss sich jetzt der vorher kaum vorhandenen Einigkeit zwischen EU und Nato stellen. Sie wurde gerade durch die Aggression gegen die Ukraine geschaffen. Dabei wollte Russland gerade die transatlantischen Gegensätze vertiefen und den Aufstieg des Westens eindämmen. Dagegen wird der Nato-Eintritt Schwedens und Finnlands das Baltische Meer zum "Binnenmeer" der Nato machen und die gemeinsame Grenze Russlands mit dem atlantischen Militärbündnis verdoppeln. Kein Wunder, dass nun alle EU- und Nato-Staaten von Russland als unfreundlich eingestuft werden. Inzwischen dürfte Moskau damit rechnen, dass sein wirtschaftlicher und politischer Einfluss in dieser Region schwindet. Die politischen Führer des Westens meinen, mit der aktuellen politischen Führungsriege in Russland sei eine Zusammenarbeit unmöglich.

Und China? Nun, Putin erklärte erst heuer, die Beziehungen zu China seien noch nie so gut gewesen. Doch Chinas Reaktion auf den Krieg ist eher ernüchternd. Die Rhetorik in den Erklärungen Chinas und Russlands deckt sich zwar oft, doch ziehen sich chinesische Firmen vom russischen Markt genauso zurück wie ihre westlichen Partner. Solange fast 40 Prozent der Exporteinnahmen aus dem Rohstoffhandel stammen und Russland ohne westliche und chinesische Technologie zum Wechsel seiner wirtschaftlichen Struktur unfähig ist, kann man über eine Modernisierung nicht sprechen. Die russische Wirtschaft ist durch ihre aktuelle Größe und Struktur für eine anspruchsvolle Zusammenarbeit nicht geeignet.

Scheinfreundschaft auf regionaler Ebene#

Russland hat sich in den vergangen zwanzig Jahren in Mittelasien, im Kaukasus und in Osteuropa um militärische und wirtschaftliche Integration bemüht. Kasachstans Präsident erklärte jedoch, er erkenne die von Separatisten geführten Staaten in der Ostukraine nicht an, missbillige die Verletzung der Souveränität der Ukraine und beteilige sich nicht am Umgehen der Sanktionen gegen Russland. Auch nicht mehr Erfolg hatte Putin mit Kirgistan und Tadschikistan. Sein Einfluss hält sich auch im Kaukasus in Grenzen. Währenddessen ist Russland im Westen durch den Krieg in der Ukraine gebunden.

In Russland selbst ist eine der schwerwiegendsten Folgen des Krieges, dass die demografische Krise weiter verstärkt wurde. Es war nämlich eines der wichtigsten Ziele der Putin-Ära, den Bevölkerungsschwund aufzuhalten. Stattdessen gab es in den vergangenen zwanzig Jahren nur drei, in denen die Bevölkerung gewachsen ist. Die Auswanderung hat in den vergangenen Jahren stark zugenommen. Hauptsächlich die besser ausgebildete Mittelschicht verlässt das Land. Der Bevölkerungsschwund traf am ehesten die Russen, während der Anteil der Muslime gewachsen ist. Der multiethnische (nicht multikulturelle) Charakter des Landes hat in den vergangenen zehn Jahren eine große Bedeutung bekommen. Laut Statistiken könnte Russland seinen "russischen Charakter" verlieren.

Diese Zeichen haben auch russisch-nationale Kräfte erkannt. Es gibt Leute, für die der Krieg die gefährliche Schwächung Moskaus verkörpert, insbesondere, wenn er sich länger hinzieht. Es gibt auch solche, die, um ihn möglichst bald zu beenden, an der Seite der Ukraine kämpfen. In einem kriegsmüden Land könnten sich solche Extreme verstärken, insbesondere in einem feindlichen internationalen Umfeld, in dem die außenpolitischen Möglichkeiten begrenzt und die demografischen Indikatoren tragisch sind.

Der vorliegende Text ist jüngst auf dem Wirtschaftsportal www.G7.hu erschienen.

Wiener Zeitung, 24. August 2022