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Auf die Strudlhofstiege zu Wien#

Eine kleine literarische Erwanderung#

Von

Harald W. Vetter

Strudlhofstiege, Grafik
Strudlhofstiege, Grafik

Heimito von Doderer war durchaus kein Lyriker, aber gerade darum durchziehen sein ganzes gewaltiges Prosawerk Weltzusammenhänge, Melancholien, ihm eigentümliche Rhythmen und ein Sprachmaß, das seinesgleichen sucht. Man darf sich wohl auch daher fragen, wo denn hier der Nobelpreis geblieben war? Wie ungerecht dies alles doch ist!

Im Hochsommer 1979 machte ich mich auf den Weg nach Wien, denn ich hatte dort von einem Dichterfreund eine Einladung fürs Wochenende am Rande des Wienerwaldes erhalten. Ein größerer Bekanntenkreis sollte sich vorerst am Nachmittag in Nußdorf nördlich Wiens treffen, und natürlich in einem Heurigen. Nun war und bin ich zwar ein halber Wiener, in Hietzing zeitweise sozialisiert, aber die Stadt kam mir schon damals so fremd vor, dass ich mir im Zug nach Wien den Stadtplan einigermaßen gründlich vorgenommen hatte. Es gab bereits zu dieser Zeit die erste fragmentarische U-Bahn-Verbindung, aber ich nahm mir verrückter Weise vor, die Stadt ab dem Südbahnhof bis Nußdorf zu durchwandern, also ohne Straßenbahnen oder Busse. Ich schleppte noch dazu eine ziemlich schwere Reisetasche mit, deren Tragen so ab der Mitte der Stadtdurchquerung etwas qualvoll wurde. Das Wetter war prachtvoll und ich sollte damals noch ein Wien erleben, das ich von den Kindheitstagen her kannte. Hier war ich schließlich jetzt nur mehr zu Gast. Die Vielfalt der Eindrücke in einer so belebten Stadt ermüdet irgendwann einmal, den Stadtplan hatte ich also stets griffbereit. Mittags bog ich in die Liechtensteinstraße ein und ging die ehrwürdige Boltzmanngasse entlang (eingedenk des tragisch geendeten Physikers), um dann plötzlich und unversehens vor der Strudlhofstiege zu stehen. Nun hatte ich bereits „meinen“ Doderer schlecht und recht gelesen (nicht aber noch die „Dämonen“), die Verblüffung war dennoch groß, jetzt über diese geschichtsträchtige Treppenanlage im Jugendstil der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg gehen zu können. Ich machte rasch eine Skizze und fotografierte die Stufen von unten mehrmals, ging dann durch elendslange Vorstädte, immer begleitet von der träge dahinfließenden Donau, bis ich irgendwann am späten Nachmittag den avisierten Heurigen fand. Ich wurde dort, einigermaßen erschöpft, gleichsam als schon vermisster „Weitwanderer“ staunend empfangen. So etwas tut man sich bestenfalls in der Studentenzeit an und nachher niemals wieder. Daheim warf ich ein Blatt mit der Strudlhofstiege hin, als Bleistiftskizze und mit Tempera übermalt. Es hing lange Zeit später in meinem Amtszimmer und ich sollte es bei der Pensionierung auch wieder ins Haus zurückholen. Seitdem steht es auf einer kleinen Staffelei am Zeichentisch und erinnert mich an die fernen Jahre, genauer gesagt an Doderers „Tiefe der Jahre“.

Erst fast ein Jahrzehnt nach dieser Stadtwanderung sollte ich mit dem verehrten Autor György Sebestyén zusammentreffen, der mich nach Kräften förderte, aber leider bald verstarb. Er lud mich Ende der 80er Jahre einmal nach Wien ein und wir machten einen ausgedehnten „Raid“ durch verschiedene Beisl, wobei er manch Interessantes über Doderer zu erzählen wusste, den er in den 60er Jahren öfters beim „Blauensteiner“ getroffen hatte. (Es ist tatsächlich ein Wunder, wie ich in jener Winternacht etwas bezecht mit dem Auto wieder unbeschadet in Graz angekommen war!)

Heimito von Doderers geniales, unnachahmlich sprachschöpferisches Werk scheint Generationen ganz verschiedener Charaktere und Sozialschichten zu verbinden, er ist der eigentliche Archäologe des uns jedenfalls unüberschaubar scheinenden, sedimentierten Menschentums. In seinem Studio konstruierte er gleichsam die mannigfaltigen Personen und Lebenszusammenhänge an einem Reißbrett, immer einen kohlrabenschwarzen „Pulverer“-Kaffee auf dem erstaunlich kleinen Schreibtisch. Hätte es damals bereits Computer gegeben, wer weiß, wie umfangreich seine Romane etwa noch geworden wären? Doderers Dichtung gerann so quasi zu einer eigentümlichen Schicksalshaftigkeit, die alle, die nur einigermaßen den Willen haben, sich auf diese Literatur einzulassen, zwingend, aber auch schmerzlich erleben können. Leider, und das ist meine Erfahrung, geben viel zu viele oft nach den ersten 50 Seiten auf, weil ihnen dieser ganze fließende Kosmos schließlich befremdlich ist. Ein leicht überschaubarer Plot mit durchgängigem Handlungsstrang ist ja nun tatsächlich leichter leserlich und „stiehlt“ keinerlei Zeit… Am ersten Absatz der von Theodor J. Jaeger entworfenen Strudlhofstiege ist links vom wasserspeienden Fischkopf (der so etwas wie die „Ewige Wiederkunft des Gleichen“ symbolisieren mag) eine Marmorplatte nach der 1962 erfolgten Stiegen-Renovierung angebracht worden. Sie trägt wohl eines der größten Gedichte deutscher Sprache eines „Nicht-Lyrikers“, der diesen berührenden, geschichtsträchtigen Ort zum unnachahmlichen Kreuzungs-und Mittelpunkt seines Jahrhundertromans gemacht hat. Die Überschrift heißt Auf die Strudlhofstiege zu Wien. Und sind die letzten beiden Verszeilen nicht im ganzen und unwiederbringlichen Succus unsere Existenz verortet? Wenn die Blätter auf den Stufen liegen / herbstlich atmet aus den alten Stiegen / was vor Zeiten über sie gegangen./ Mond darin sich zweie dicht umfangen / hielten, leichte Schuh und schwere Tritte, / die bemooste Vase in der Mitte / überdauert Jahre zwischen Kriegen. / Viel ist hingesunken uns zur Trauer / und das Schönste zeigt die kleinste Dauer.


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