Eleganz als Lebensprinzip#
Vor fünfzig Jahren ist Raoul Aslan, der feinsinnige Charakterdarsteller und Grandseigneur des Burgtheaters, gestorben#
Von der Wiener Zeitung, (Samstag, 14. Juni 2008) freundlicherweise zur Verfügung gestellt.
von
Friedrich Weissensteiner
Raoul Aslan war eine überragende Schauspieler-Persönlichkeit des Wiener Burgtheaters, ein strahlender Fixstern am Himmel des deutschsprachigen Theaters in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts.
Der große Mime war eine auffallend elegante Erscheinung: Aus frühen Photos blickt dem Betrachter ein junger Mann mit vollem schwarzem Haar, klassisch geschnittenem Profil, schönen, aristokratisch feinen Gesichtszügen entgegen, die eine südländische Abkunft erahnen lassen, eine unverkennbar mediterrane Erscheinung.
Raoul Aslan, der Charakterdarsteller, der nicht nur auf der Bühne, sondern auch als Privatmann durch Vornehmheit, Gemütstiefe und Seelenreichtum bestach, entstammte einem wohlhabenden, orientalisches Flair ausstrahlenden Elternhaus. Sein Vater, der riesige Tabakplantagen in Anatolien besaß, hatte armenische Vorfahren; seine Mutter, eine Italienerin, wuchs in einem französischen Pensionat in Konstantinopel auf. Raoul, der Drittgeborene von sechs Kindern, kam am 16. Oktober 1886 in Saloniki zur Welt, wohin der Vater mit der Familie übersiedelt war, nachdem im Osmanischen Reich Tabak zum Staatsmonopol erklärt worden war.
Jugend im Wohlstand#
Die Kinder wuchsen, von Dienern umgeben und verwöhnt, im Wohlstand auf. Raoul, dessen Muttersprache Französisch war, wurde von fremdsprachigen Gouvernanten erzogen. Multinationalität war ein wesentlicher Bestandteil seiner Erziehung. Der entscheidende Faktor für seine Charakterbildung und -entfaltung war jedoch die römisch-katholische Religion, die in sein junges Herz gepflanzt wurde.
Der kleine Raoul kam im Alter von acht Jahren mit seiner Mutter und den beiden älteren Brüdern zur weiteren Ausbildung nach Wien. Die Familie logierte zunächst auf der Stubenbastei und übersiedelte dann in eine Hietzinger Villa. Raoul besuchte die Volksschule in der Wiener Innenstadt, anschließend das Hietzinger Gymnasium in der Fichtnergasse, wo er allerdings nur durch Teilnahmslosigkeit und schlechte Leistungen auffiel. Viel mehr als die Schule interessierte ihn das Theater! Seit ihn die Mutter einmal in die Hofoper mitgenommen hatte, ließ ihn die Faszination des Bühnenlebens nicht mehr los.
Die Eltern reagierten standesgemäß. Sie steckten den Buben in ein Konvikt in Horn, weit weg von den Bühnen und den Verlockungen der Großstadt. Einer von Aslans Konviktslehrern war Wilhelm Miklas, der spätere österreichische Bundespräsident.
Der Schulwechsel fruchtete nicht viel. Raoul hatte nur jugendliche Dummheiten und das Theater im Kopf. Nach ein paar Jahren Horn kehrte er in die Fichtnergasse zurück. Die Matura schaffte er allerdings nicht, was ihm nichts ausmachte. Er spürte ja unwiderstehlich die Berufung zum Schauspieler in sich, und setzte seinen Herzenswunsch gegen den hartnäckigen Widerstand des Vaters schließlich durch. "Du wirst sehen", schrieb ihm der Filius, "Du wirst eines Tages stolz sein auf mich." Er sollte recht behalten.
Raoul Aslan begann seine fulminante Theaterkarriere 1906 am Hamburger Schauspielhaus. Von dort führte ihn sein Weg über kleinere und kleine Stadtbühnen (St. Pölten, Teplitz-Schönau, Graz) an das Stuttgarter Hoftheater, dessen Ensemble er sechs Jahre angehörte (1911-17). Hier reifte er in modernen und klassischen Rollen zur Schauspielerpersönlichkeit heran. Über das Deutsche Wiener Volkstheater kam Aslan schließlich an die "Burg", wo er am 15. Oktober 1920 in seiner ersten großen Premiere – als "Hamlet" – beim theaterbegeisterten Wiener Publikum wie der Kritik einen durchschlagenden Erfolg erzielte.
Raoul Aslan und das Burgtheater, das ist eines der großartigsten Kapitel der österreichischen Theatergeschichte: er spielte im Haus am Ring unzählige Rollen. Sein Repertoire reichte von Shakespeare und der deutschen Klassik bis zum modernen Drama und zum Lustspiel. Er war ein höhnischer, geistfunkelnder Mephisto, ein listenreicher Mark Anton, ein zynisch-hintergründiger Lord Leicester, ein weiser Nathan, ein erschütternd einsamer Philipp II., ein rührender, ergreifender "Jedermann" – um nur ein paar seiner großen Rollen zu nennen. Er brillierte aber auch als Komödiant, als alter Schwerenöter in den "beiden Klingsberg" etwa. In Lustspielen konnte sich jene Seite seines Wesens entfalten, die als Charakterdarsteller kaum sichtbar wurde: sein nobler Humor.
Elegische Darstellung#
Raoul Aslan, so beurteilte ihn einmal ein Kritiker, war kein dämonischer Verwandlungskünstler, sondern ein elegischer Menschendarsteller, der Würde und Eleganz ausstrahlte. Vielen seiner Rollen haftete etwas Weiches und Lyrisches an, das durch den verzaubernden Wohlklang seiner Stimme noch verstärkt wurde. Aslan war nämlich ein Meister der Zwischentöne und der feinen, boshaften Ironie.
Der erklärte Nazigegner, der im Visier der Gestapo stand, übernahm nach Kriegsende als Doyen die Leitung des Hauses, in dem er so viele Triumphe gefeiert hatte. Da das Gebäude am Ring schwer bombenbeschädigt war, übersiedelte er mit seinen Schauspielern in das "Ronacher", wo bereits am 30. April 1945 Grillparzers "Sappho" zur Aufführung gelangte – eine organisatorische wie schauspielerische Meisterleistung! Aslan gestaltete einen abwechslungsreichen Spielplan und nahm Albin Skoda, Gusti Wolf, Josef Meinrad und Judith Holzmeister in das Ensemble auf. Die Notjahre der Nachkriegszeit und die aufreibende Tätigkeit am Theater setzten seiner labilen Gesundheit schwer zu, 1948 legte er sein Amt zurück. Seinem geliebten Burgtheater blieb er weiterhin verbunden, doch war er jetzt seltener, vorwiegend in kleineren Rollen zu sehen. Eine Woche vor seinem Hinscheiden sprach er als Ottokar von Horneck in Grillparzers "König Ottokars Glück und Ende" das Loblied auf Österreich.
Der Grandseigneur des Burgtheaters erlag am 17. Juni 1958 in seinem langjährigen Urlaubsdomizil auf der Insel Litzlberg (bei Kammer) im Attersee einem Herzschlag. Der Leichnam wurde nach Wien überführt, am Zentralfriedhof aufgebahrt und nach einer feierlichen Trauerzeremonie in der Michaelerkirche (zelebriert von Kardinal Franz König) auf dem Grinzinger Friedhof in einem Ehrengrab der Stadt Wien bestattet.
Raoul Aslan war eine feinsinnige Künstlernatur, ein kultivierter und gebildeter Mensch. Der passionierte Raucher und Schöngeist entwickelte seine Rollen vom Intellekt her, war mit der deutschen und französischen Literatur eng vertraut und befasste sich intensiv mit philosophischen Fragen. Sein Lebenskompass war jedoch der christliche Glaube. Jeden Morgen besuchte er die 7-Uhr-Messe in der Kapelle des Priesterseminars in der Boltzmanngasse (er wohnte in der Nähe); in seinem Schlafzimmer, dessen Wände Engelsfiguren schmückten, stand ein barocker Betschemel. Der Gottsucher, der als "Bruder Michael" dem III. Orden der Franziskaner angehörte, war unter anderen mit dem Domprediger Diego Götz befreundet, mit dem er tiefsinnige geistliche Gespräche führte.
Seiner homophilen Veranlagung wurde sich Aslan schon in der Adoleszenz bewusst. Er knüpfte eine fixe Beziehung zu einem jungen Kroaten, an dessen Stelle ab 1931 der um zwanzig Jahre jüngere Schauspielerkollege Tonio Riedl trat, der bis an sein Lebensende sein Partner blieb. Mit ihm war er geistig und seelisch tief verbunden. "Mit Deiner gleich bleibenden Liebe bist Du wie die Sonne in meinen Leben", schrieb er Tonio in einem der vielen Briefe, die das Paar miteinander wechselte. Die Korrespondenz der beiden (1978 publiziert) ist von berührender Innigkeit und gewährt einen tiefen Einblick in die Geisteswelt und das Seelenleben Aslans, in seine melancholischen Anwandlungen, seine Anfechtungen, seine mystischen Neigungen, seine Zweifel an der Kunst. Äußerlich ein strahlender Held, war der grandiose Burgschauspieler innerlich ein zerrissener, verzweifelter, mit sich unzufriedener Mensch.
"Was wissen meine Biographen von mir" , schrieb er Tonio im August 1943. " Wie dumm sind die sogenannten Aslan-Anekdoten, und wie interessant und psychologisch wertvoll ist doch die Wirklichkeit, aus der ich hervorgegangen bin!"
Die beiden Biographien, die zu Aslans Lebzeiten erschienen, stellen das Innenleben des Künstlers nicht zur Schau, konnten oder wollten es gar nicht. Und die berühmten Aslan-Anekdoten? Sie drehen sich vor allem um seine legendären "Hänger": Mitten in einer Vorstellung fiel der "souveränste Schwimmer" in der langen Geschichte des Burgtheaters ganz plötzlich um. Seine Partnerin beugte sich besorgt zu ihm hinab und fragte leise: "Was fehlt dir, Raoul?" Aslan: "Der Text".
Friedrich Weissensteiner war Direktor eines Wiener Gymnasiums und ist Autor zahlreicher historischer Bücher.