Erinnerung an einen Winterschmetterling #
Vor 40 Jahren, am 22. Juni 1970, starb die Tänzerin Grete Wiesenthal #
Aus: Literarischer Zaunkönig, Zeitschrift der Erika Mitterergesellschaft
Von
Martin G. Petrowsky
„Was ist eigentlich Charme?“ fragte Christiane, im damals so genannten Backfischalter, ihre Mutter Erika Mitterer. Und diese antwortete, nach kurzem Nachdenken: „Du kennst doch die Grete Wiesenthal!“
Tatsächlich wird es kaum jemanden gegeben haben, der von der sprühenden Liebenswürdigkeit, dem hellwachen Interesse und der so ansteckenden Menschenfreundlichkeit der berühmten Tänzerin nicht bezirzt worden wäre. Ich selbst habe sie ja nur als Kind, wenn sie bei meinen Eltern auf Besuch war, erleben dürfen, Zeugnisse der Bewunderung, Begeisterung, Verehrung und Liebe sowohl für das junge Mädchen am Beginn ihrer Kariere, als auch für die ältere Dame, die einen der letzten großen Wiener Salons betrieb, gibt es unzählige - z. B. von Peter Altenberg, Josef Weinheber, Felix Braun und Alfred Polgar.
Es war wohl Felix Braun zu verdanken gewesen, dass meine Eltern nach dem Krieg in den Kreis der Grete Wiesenthal eingeführt wurden; und sofort zeigte sich eine künstlerische und menschliche Nähe, die von großem wechselseitigen Respekt und tiefem Vertrauen gekennzeichnet war. In meinen Kinderohren klang es allerdings immer sehr merkwürdig (man war ja so erzogen worden, dass man von jedem Erwachsenen als der Frau X oder dem Herrn Y zu sprechen hatte), wenn die „Tante Grete“ eine Anwesende in ihrer Art ins Gespräch einbeziehen – „Was meint die Gold?“ – oder einem Anwesenden recht geben wollte – „Das sagt der Guttenbrunner ganz richtig!“ - Man erklärte mir, dass dies eben in Künstlerkreisen korrekt wäre.
Von Wien aus die Welt erobert #
Grete Wiesenthal wurde am 9.12. 1885 in Wien geboren, sie war schon mit sieben Elevin des k.k. Hofopernballetts, 1902 wurde sie Solotänzerin. 1907 war sie Ursache eines Skandals: Der damalige Operndirektor Gustav Mahler wählte sie unter Umgehung des Ballettmeister Josef Hassreiter für die Rolle der Fenella in der Oper „Die Stumme von Portici“ aus. Die darauf folgende Demission Hassreiters wurde vom Hof abgelehnt, dafür verließ Grete Wiesenthal – mit dem Segen Gustav Mahlers – die Staatsoper, und feierte im Jänner 1908 mit ihren ebenfalls ausgebildeten Schwestern im Cabaret-Theater „Fledermaus“ einen durchschlagenden Erfolg. „Außer Tänzen zu Musik von Chopin und Beethoven waren es die von Grete gestalteten Walzer, die sofort Begeisterung hervorriefen“, erinnerte sich Gunhild Schüller[1]. In der Folge begeisterten Grete, Elsa und Berta Wiesenthal auf Tourneen durch ganz Europa mit ihrem neuen Tanzstil (der „G.-Wiesenthal-Technik“), der bahnbrechend für die moderne Tanzkunst werden sollte, das internationale Publikum.
Gunhild Schüller berichtete weiter: „Grete Wiesenthal wußte nicht, daß sich in dieser Zeit die gesamte Tanzwelt im Umbruch befand, kannte weder Theoretiker noch Praktiker, die die Wegbereiter für den modernen Tanz wurden; sie wußte nur, dass sie spontan tanzen wollte, allein aus sich und der Musik heraus, mit ihrer ganzen Kraft und Persönlichkeit.“ Und: „Walzer – das war nun nicht mehr das hohle und eintönige ‚Eins, zwei, drei’, [...] das war eine Art des Rausches, der vollständig durchlebt wurde. Mit gelöstem Haar und weitausschwingendem Kleid tanzte Grete Wiesenthal nun in einem ewig scheinenden Bewegungsfluß. [...] Walzer, das war Seligkeit, aber auch dunkles Ahnen. Walzer, das war nicht mehr Paartanz, [...] das war nun ein individuelles Sich-Geben, [...] – das war ein Delirium, das es auszukosten galt.“
Natürlich nutzten die Schwestern Wiesenthal einen Trend. Um 1900 hatte die Amerikanerin Isadora Duncan auf einer Europatournee das klassische Ballett als „tot“ bezeichnet und den „freien Tanz“ – frei von künstlerischen und moralischen Regeln - verkündet. Das war die Geburtsstunde des „Ausdruckstanzes“ gewesen. Duncan tanzte barfuß, nur mit einer losen Tunica bekleidet und sie wollte ein neues weibliches Freiheitsgefühl vermitteln. Doch die Wiesenthal-Schwestern waren anders als die von Duncan beeinflussten jungen Ausdruckstänzerinnen. Sie hatten eine fundierte Ballettausbildung, waren aber von der klassischen, versteinerten Ballettchoreographie enttäuscht („Es war nur ein Hopsen nach dem Takt, ohne Empfindung und Ausdruck von der Idee der Musik“ zitiert Reingard Witzmann aus Gretes Erinnerungen[2]); sie nutzten weiterhin ihre in der Ausbildung angeeignete perfekte Körperbeherrschung, ersetzten aber die Statik des klassischen Balletts durch „schwerelos wirkenden Bewegungsfluß“.
Grete Wiesenthal betonte selbst: „[...] war es für die Duncan die Vorstellung der antiken Griechenwelt, die sie zum lebendigen Tanz wieder führte, so kam ich wohl vor allem durch die Musik auf das Wesen des Tanzes und die Art, in der ich es ausdrücken wollte. Ich lebte mit der Musik der großen Musikschöpfer, sie waren die Hohenpriester meiner Jugendtage“.[3]
In seiner Einführung zum Buch Grete Wiesenthal – Holzschnitte von Erwin Lang, dem auch die Abbildungen entnommen sind, schreibt Oscar Bie: „Die drei Schwestern Wiesenthal sind eine Naturnotwendigkeit geworden. Es mußte in unserer tanzsüchtigen Zeit Jemand erstehen, der zwischen der alten Wiener Musik und dem modernen Wiener Kunstgewerbe die tanzende Verbindung herstellte. Das haben sie getan.“ Und: „Grete ist die Charakteristische. Else die Charmante. Bertha die Blühende.“ Und weiter: „Grete ist die Künstlerin. [...] Sie gehört zum Schönsten, was ich gesehen habe. Die Zeichnungen dieses Malers, die – in den Akt verklärt – sehr gut die Nuance ihrer Bewegung, ihre persönliche Körpersprache wiedergeben, sind Kontakte dieser Erinnerung. [...] Sie ist so unstofflich und so bescheiden, fast ganz tanzende, schwebende Kunst und doch wieder so sehr Mensch in der Güte ihrer intelligenten Empfindung.“[4]
Nach ihren ersten Erfolgen in Wien arbeitete Grete Wiesenthal mit Max Reinhardt in Berlin; Hofmannsthal und Mell schrieben Pantomimen für sie. 1910 heirate sie den bildenden Künstler Erwin Lang, die Ehe sollte allerdings nur einige Jahre halten.
1913 wurde der Film Das fremde Mädchen nach einer Pantomime von Hofmannsthal gedreht. 1919 gründete sie mit ihrem Tanzpartner Toni Birkmeyer ihre erste Schule in Wien. Sie gastierte bei den Salzburger Festspielen und ihre Balletteinlage für die Fledermaus-Inszenierung von Max Reinhardt in Berlin begeisterte. 1933 bezauberte sie das amerikanische Publikum bei einem Gastspiel gemeinsam mit Willy Fränzl.
1934 vertraute man ihr eine Meisterklasse an der Akademie für Musik und darstellende Kunst an, von 1938 bis 1951 leitete sie dort die Abteilung „Tanz“. 1945 gründete sie die „Tanzgruppe Grete Wiesenthal“, die bis 1956 Gastspiele in Europa, Nord- u. Südamerika absolvierte.
1985 wurde ihre Tanztechnik wieder in den Lehrplan der Ballettschule der Österreichischen Bundestheater aufgenommen; in einer großen Ausstellung in der Hermesvilla wurde ihres 100. Geburtstags gedacht.
Salon am Modenapark #
Seit Anfang der Dreißigerjahre hatte Grete Wiesenthal eine komfortable Wohnung am Modenapark im dritten Bezirk in Wien; eingerichtet vom Architekten Otto Niedermoser, befand sich in der Wohnung ein riesiger Salon, der, durch ein großes Gemälde des Freundes Wilhelm Müller-Hofmann eindrucksvoll dekoriert, bald zu einem geistigen und gesellschaftlichen Zentrum Wiens wurde. Meine Schwester, Christiane Tagunoff, erinnert sich gut an eindrucksvolle Abendveranstaltungen am Modenapark:
"Die weltberühmte Tänzerin versammelte in ihrem Salon – wohl dem letzten in Wien! – viele interessante Persönlichkeiten, vor allem Künstler, zu höchst anregenden Gesprächen. Immer wieder lasen Dichter dort ihre neuesten Werke vor, so auch Erika Mitterer unter anderem die Dramen "Wähle die Welt" und "Wofür halten Sie mich?". Ich hatte das Glück, als ganz junges Mädchen zuerst mit meinen Eltern, dann auch ohne sie, in den Kreis um diese bezaubernde, gescheite, an allem interessierte Künstlerin aufgenommen zu werden.“
Grete Wiesenthal pflegte auf ihrem Hausherrinnen-Lehnstuhl zu sitzen, die Gesprächsrunde um sie zu kontrollieren und alle Gäste zur Teilnahme am Gespräch zu ermutigen. Milan Dubrovic meinte, Grete Wiesenthal sei es nicht darum gegangen, Gastlichkeit um der Geselligkeit willen zu veranstalten. Ihre Motive beim Zusammenführen von Menschen seien allein ihrem Künstlertum, ihren intellektuellen Neigungen und ihrem Bedarf an Wissen und Anregungen zu verdanken gewesen. „Sie [...] wußte sich mit ihren Freunden darin einig, daß die Rettung aus den Miseren des Jahrhunderts und seiner apokalyptischen Untergangsstimmung nicht von Reformen im materiellen Bereich, sondern von spirituellen Impulsen zu erwarten sei.“[5] Sie war befreundet mit Hugo von Hofmannsthal, Franz Theodor Csokor, Max Mell, Carl Zuckmayer, Friedrich Heer, Stefan Zweig und vielen anderen bedeutenden Persönlichkeiten dieser Zeit.
Der Salon bestand sogar im Dritten Reich. Mit Charme und demonstrativer Naivität gelang es der Wiesenthal, die regimekritische Tendenz der Soireen vor der SA zu verbergen. Und Felix Braun schrieb in seinem Nachruf auf die Tänzerin: „Wie vielen hat sie geholfen, so Franz Theodor Csokor, der sie am Tag vor seiner Flucht durch Zufall im Belvederepark traf, und auch mir, wie oft!“[6]
Auch nach dem Krieg trafen sich im Salon die führenden Köpfe des künstlerischen und intellektuellen Wien: unter vielen anderen auch Carl Zuckmayer mit seiner Frau Alice Herdan und Tochter Winnetou, Michael Guttenbrunner, Rudolf Kassner, Ernst Lothar, Otto Mauer, Heimito von Doderer, Käthe Gold, Imma von Bodmershof und Erika Mitterer mit ihrem Mann Fritz Petrowsky. Grete Wiesenthal versuchte sich nun auch als Schriftstellerin; sie hielt in einer berührenden Autobiographie Die ersten Schritte (1947) fest, hinterließ uns schöne Erinnerungen an Hofmannsthal und überraschte mit einem sehr originellen, von Felix Braun aber auch als „seltsam“ charakterisierten Roman Iffi (1951) – eine lustige, bisher unveröffentlichte Glosse zu diesem Roman aus ihrer eigenen Feder lesen Sie bitte im Anschluss an diese Erinnerung.
Und sie begeisterte sich für das Werk Erika Mitterers, deren Roman „Kleine Damengröße“ sie selbst in der „Furche“ rezensierte: „Es ist wahrhaft ein köstliches Mädchenbuch und eine Freude für Mütter, es ihren Töchtern unter den Weihnachtsbaum zu legen.“ (12.12.1953)
Große Künstlerin – eindrucksvolle Persönlichkeit #
Nach ihrem Tod fasste Friedrich Langer in der Wiener Zeitung ihre Bedeutung so zusammen: „Mit ihrem Namen verbindet sich konzentriert wieder der Begriff von Wien, laut Wildgans, der Stadt der Geiger und Tänzer – und Grete Wiesenthals Wiener Tanzform hat die Welt erobert“[7] Sie hatte Neues ohne Vorbilder geschaffen, ihre Tänze weder nach Bildern, noch nach Posen einstudiert, sich auch nicht – wie viele andere – von Folklore oder Gymnastik inspirieren lassen. Alles war bei ihr original aus dem Inneren durch den Tanz nach außen gedrungen. Musik und Bewegung waren für sie eine Einheit – die Rudolf-von-Laban-Schule, die sich von anderen Künsten unabhängig machen wollte und daher teilweise auch auf Musik verzichtete, war ihr völlig fremd.
‚Winterschmetterling’ nannte sie Reinhold Schneider in seinem letzten Buch Winter in Wien. „Wer konnte so zuhören wie sie? Wie liebte sie die Musiker und die Dichter, zuhöchst Goethe!“ schwärmte Felix Braun von ihr.[8] Und sie selbst lobte den Boden, auf dem ihre Kunst entstehen konnte: „Wir in Österreich haben etwas Eigenes mitgebracht, etwas auf diesem Boden Gewachsenes, den Walzer als Tanzkunstwerk.“[9]
***
Was ist mir, der ich sie nur als Kind und Halbwüchsiger kannte, von Grete Wiesenthal in Erinnerung geblieben? – Als ich um die sechzehn Jahre alt war und „Grüß Gott“ sagen durfte (die Teilnahme am Abendessen der Erwachsenen war mir noch verwehrt) fragte sie mich freundlich, wie ich denn zur Musik stünde. Verlegen meinte ich, Elvis Presley würde mir schon sehr gut gefallen, aber mit der klassischen Musik könnte ich nichts anfangen. „Ja, warum denn nicht?“ fragte sie. Ich antwortete verlegen: „Die hat halt keinen Rhythmus ...“ Da erhob sich die über 70-jährige Dame, summte einen Walzer und schwebte so beschwingt und in demonstrativem Takt durch den Raum, dass ich am liebsten im Boden versunken wäre. Und sie lachte. Sie lachte so herzlich und gleichzeitig so wohlwollend und fragte: „Das soll keinen Rhythmus haben?“
– Dieses Lachen, das auch oft aus dem Esszimmer in unser angrenzendes Kinderzimmer drang, ist noch immer in mir und lässt mir diese wunderbare Frau ganz gegenwärtig sein.
[2] Reingard Witzmann in: Wahrheit und Klarheit der „freien Linie“, Die Presse, 7./8.12.1985
[3] wie FN1
[4] Oscar Bie in: Grete Wiesenthal – Holzschnitte von Erwin Lang, Erich Reiss Verlag 1910
[5] Milan Dubrovic in: Die Welt der Grete Wiesenthal, Die Presse, 16./17.6.1984
[6] Felix Braun in: Liebendes Gedenken, Die Presse 26.6.1970
[7] Friedrich Langer in: Grete Wiesenthal gestorben, Wiener Zeitung 25.6.1970
[8] wie FN6
[9] wie FN1