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Zeichenkunst und Humanität#

Zum 100. Geburtstag des Wiener Zeichners Bil Spira (1913-1999)#


Von der Wiener Zeitung (Samstag/Sonntag, 22./23. Juni 2013) freundlicherweise zur Verfügung gestellt

Von

Oliver Bentz


Der Künstler fälschte in Südfrankreich Visa und Pässe, um Flüchtlinge vor den Nazis zu retten.#

Bil-Spira: 'Selbstbildnis'
Bil Spira: "Selbstbildnis" (um 1930).
© Sammlung Oliver Bentz

Der Wiener Zeichner Bil Spira gehört zur Generation jener Künstler, deren Leben und Werk durch die unruhigen Zeitläufte des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts maßgeblich beeinflusst wurden. Geboren noch in der Habsburger Monarchie am Vorabend des Ersten Weltkrieges, erzielte er gerade erste künstlerische Beachtung und Anerkennung, als das Aufkommen der Nationalsozialisten seine junge Laufbahn jäh abbrechen ließ.

Marseille, im Sommer 1940: Nach der Niederlage Frankreichs sind viele prominente Gegner Hitlers, die nach der nationalsozialistischen Machtübernahme im Jahr 1933 aus Deutschland und nach dem "Anschluss" 1938 aus Österreich nach Frankreich geflohen waren, nun von der Auslieferung an die Gestapo bedroht. Der Norden Frankreichs ist von den Deutschen besetzt. Im vermeintlich freien Süden regiert der greise Marschall Philipp Pétain, der mit den Nazis kollaboriert.

Exilhelfer in Marseille#

Im deutsch-französischen Waffenstillstandsabkommen hat sich Pétains Marionetten-Regierung verpflichtet, "alle in Frankreich sowie in den französischen Besitzungen befindlichen Deutschen, die von der deutschen Reichsregierung namhaft gemacht werden, auf Verlangen auszuliefern." Tausende von Emigranten, die sich nach Südfrankreich retten konnten, sitzen jetzt in der Menschenfalle Marseille in tödlicher Gefahr fest und hoffen auf ein rettendes Visum, das ihnen die Flucht aus Europa ermöglicht.

Aufgerüttelt von in die USA geflüchteten Exilanten, machte sich eine Gruppe reicher amerikanischer Menschenfreunde daran, diesen in Lebensgefahr schwebenden Flüchtlingen zu helfen. Auf Anregung von Erika Mann und mit Unterstützung der Präsidentengattin Eleonore Roosevelt gründeten sie in New York das "Emergency Rescue Committee", eine Organisation zur Rettung der wegen ihrer politischen Haltung oder ihrer Religion Verfolgten.

Zur Durchführung der Hilfsaktion schickten sie den 33-jährigen Harvard-Absolventen Varian Fry nach Europa. Im August 1940 kam er, ausgestattet mit einer Liste der zu Rettenden und den Taschen voller Dollar nach Marseille und knüpfte binnen kürzester Zeit ein engmaschiges Netz von Einheimischen und Flüchtlingen, um in den nächsten dreizehn Monaten etwa 4000 Menschen die Flucht aus Frankreich zu ermöglichen.

Bil Spira: 'Pariserin'
Bil Spira: "Pariserin" (um 1930).
© Sammlung Oliver Bentz

Für seine Mission, von ihm bewunderte europäische Intellektuelle wie etwa Franz Werfel, Lion Feuchtwanger, Heinrich und Golo Mann, Alfred Döblin, Walter Mehring, Max Ernst oder Marc Chagall vor den Nazis zu retten, war Fry jeder Helfer Recht: Jane Gold, eine amerikanische Millionärin; Männer der französischen Geheimpolizei, die sich den Nazis nicht fügen wollten; Konsularbeamte vieler Nationalitäten, die Visa verkauften; die örtliche Unterwelt; die Mafia - und schließlich der aus Österreich geflohene Zeichner Bil Spira, der sein Talent dazu einsetzte, für die Flüchtlinge Pässe und Dokumente zu fälschen.

Varian Fry und dessen bis zu seinem Tod 1967 kaum gewürdigte "Heldentat" wurden erst spät wieder entdeckt und zuletzt 2007 in einer großen Schau der Berliner "Akademie der Künste" dokumentiert. Diese Ausstellung widmete auch Frys Helfern ausführliche Kapitel. Von Bil Spira aber hatte man kaum noch Lebensspuren gefunden, weshalb man ihn im Katalog fast nur durch kurze Zitate aus seiner 1998 veröffentlichten Autobiographie "Die Legende vom Zeichner" vorstellte.

Die Straße als Schule#

Dabei haben es Bil Spira, sein Wirken in Marseille, seine Zeichenkunst und seine Autobiographie, in der er neben seiner Rettungsarbeit in Südfrankreich seine Jugend in Wien, die Flucht vor den Nazis und sein Martyrium durch diverse deutsche Konzen-trationslager schildert, wahrlich verdient, der Vergessenheit entrissen zu werden.

Am 25. Juni 1913 in Wien unter dem Namen Wilhelm Spira als Sohn eines Beamten geboren, fertigte Bil Spira, wie er sich als Künstler nannte, schon als 16-Jähriger Theaterzeichnungen für das "Kleine Blatt" und politische Karikaturen für die "Arbeiter-Zeitung" an, wo er auch die Artikel und Gedichte des befreundeten Autors Jura Soyfer illustrierte. Die künstlerische Ausbildung erhielt Spira an der Wiener Kunstgewerbeschule. Seine eigentliche Schule jedoch war die Straße, waren die Künstler- und Literatencafés und die Kleinkunstbühnen Wiens, deren Protagonisten er porträtierte. Nach dem Studium wurde er Redakteur der Zeitung "Sonntag" und schuf Bühnenbilder und Programmhefte für diverse Kabaretts der noch blühenden Brettl-Szene.

Mitte der dreißiger Jahre zog es den Sozialdemokraten Bil Spira, nachdem er infolge des Verbotes der Sozialdemokratischen Partei durch die Dollfuß-Regierung seine wichtigsten Auftraggeber verloren hatte, für ein Zeichentrickfilm-Projekt ein halbes Jahr nach Paris. Er durchstreifte die Stadt und hielt deren buntscheckiges Leben mit dem Zeichenstift fest. Arbeiter, Bettler, Kinder und die mondänen Flaneure waren das bevorzugte Personal seiner Zeichnungen, die noch einmal Menschen und typische Stimmungen einer Epoche zeigen, die kurz darauf in der Katastrophe des Krieges untergehen sollte.

Zurückgekehrt nach Wien, bemerkte Bil Spira rasch die sich weiter verfinsternde politische Lage. Als freier Zeichner konnte er seine Blätter aber noch in Zeitungen wie "Der Wiener Tag" unterbringen. Nach Hitlers Einmarsch in Österreich 1938 wurde er zusammen mit seinem Vater verhaftet und in einer zum Gestapo-Folterlager umgewandelten Volksschule in der Karajangasse vier Wochen festgehalten. "Wenn S’mich net schön zeichnen, kommen S’ nach Dachau!", erinnerte sich Spira später an die Drohungen der Peiniger, die er porträtieren musste. Die bedrückenden Erfahrungen, die er in dieser "Prügelanstalt" machte, sollten nur "ein kleiner Vorgeschmack" auf jene "Scheußlichkeiten" sein, die ihm noch bevorstanden.

Zunächst ermöglichte ihm eine "wundersame Fügung" in Form eines schriftlichen Arbeitsvertrages als Zeichner in Schweden das Entkommen aus dem Wiener Gestapo-Kerker. Während seine Eltern nach Schweden emigrierten, floh Spira über Saarbrücken nach Paris, wo er seine spätere Frau Mina kennen lernte. Dort beschloss er, seinen Pass zu vernichten und sich - seiner Sehnsucht nach Freiheit Ausdruck gebend - fortan Willy Freier zu nennen.

Aufgrund des französischen Asylrechts wurde er nicht abgeschoben, aber aus der von Flüchtlingen überfüllten Hauptstadt in die östlich liegende Kleinstadt Lagny-sur-Marne verwiesen. Täglich jedoch zog es ihn ins Zen-trum von Paris, wo er sich mit anderen Emigranten wie Joseph Roth, Friedrich Torberg, Walter Mehring, Hans Natonek oder Soma Morgenstern meist im "Café de Tournon" traf. Seinen Lebensunterhalt verdiente er sich in dieser Zeit mit Zeichnungen für die Schweizer Zeitschrift "Nebelspalter", die französische humoristische Zeitung "Le Rire" oder die Emigrantenzeitung "Österreichische Post", die er gemeinsam mit Friedrich Torberg gestaltete. Eindrucksvolle Porträt-Zeichnungen zeugen von Spiras Begegnung mit emigrierten Künstlerkollegen.

Nach dem deutschen Angriff auf Frankreich war auch Spira nicht mehr sicher. Wie viele andere Emigranten wurde er zunächst von den misstrauischen Franzosen "als feindlicher Ausländer" verhaftet und interniert. Wieder freigelassen, zog man ihn im Mai 1940 zum "nichtmilitärischen Militärdienst" in einer Waffenfabrik heran. Als die Deutschen Paris näher rückten, floh er nach Marseille, damals noch unbesetzte Zone.Dort bemühte er sich zusammen mit Mina, die er im Internierungslager geheiratet hatte, wie Zehntausende Schicksalsgenossen vergeblich um Ausreisepapiere.

Dabei stieß er auf Varian Fry, der gerade mit seinem Rettungsauftrag in der Hafenstadt angekommen war. Fry erfasste, wie nützlich Spiras zeichnerisches Talent war: Unter dem Tarnnamen "Bill Freier" kam ihm fortan die Aufgabe zu, Stempel und Unterschriften in Pässen und anderen Dokumenten zu fälschen. "Bill Freier", so Varian Fry in seinen Erinnerungen, "war ein . . . absolut aufrichtiger junger Mann. (. . .) Er war ein sehr geschickter Zeichner und machte Stempel so perfekt nach, daß nur ein Experte erkennen konnte, daß sie mit dem Pinsel gemalt waren. Er kaufte Blanko-Ausweise in Tabakläden, setzte die Personalien ein und fälschte dann den Stempel der Präfektur, der das Papier zu einem offiziellen Dokument machte. (. . .) Wie viele andere machten wir von seinen Diensten ausgiebigen Gebrauch."

Odyssee durch KZs#

In einem Exempel unfasslicher Niedertracht wurde Spira dann von einem Spitzel im Komitee verraten und, so Varian Fry, "inmitten seiner ganzen Fälscher-Ausrüstung verhaftet". Zuerst vom Vichy-Regime im berüchtigten Lager "Le Vernet" interniert, wurde er im August 1942 wie die anderen jüdischen Häftlinge an die SS ausgeliefert. Es folgte eine Schreckensodyssee durch mehrere Konzentrationslager (die Nebenlager von Auschwitz, dann Buchenwald und Theresienstadt). 1945 wurde Spira, mit knapp über 30 Kilo Körpergewicht kaum noch am Leben, von der Roten Armee befreit.

"Wie Sie sehen, habe ich überlebt", sagte er lakonisch zu einem französischen Beamten, als er nach Paris zurückkehrte. Wegen seiner Arbeit für das "Emergency Rescue Committee" wurde er als Widerstandskämpfer vom französischen Staat unterstützt. Unter dem Künstlernamen "Bil" arbeitete er als Karikaturist und Fotograf ein halbes Jahrhundert für französische Zeitschriften. Nach Wien wollte Spira nicht zurückkehren, obwohl er viele Verbindungen in seine Heimatstadt pflegte und auch für österreichische Verlage Bücher illustrierte, etwa die 1972 und 1984 im Zsolnay-Verlag unter dem Titel "Der Mond schlug grad halbacht" und "Steif weht die Brise von der Postsparkassa" publizierten wunderschönen Sammlungen der Groteskgedichte des von den Nazis ermordeten genialischen Dichters Peter Hammerschlag. Bil Spira starb im Jahr 1999 in Paris.

Oliver Bentz, geboren 1969, Germanist und Kulturpublizist; schreibt regelmäßig fürs "extra" der Wiener Zeitung". Lebt in Speyer.

Wiener Zeitung, Samstag/Sonntag, 22./23. Juni 2013


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