Zeitkritik mit der Kamera#
Österreich hat in der Zwischenkriegszeit große Fotojournalisten hervorgebracht. Die grafisch wie fotografisch beste Bilderzeitung dieser Jahre hieß "Der Sonntag". Sie war eine Plattform für ausgezeichnete Fotografen und spannende Reportagen.#
Von der Wiener Zeitung (Sa./So., 17./18. August 2013) freundlicherweise zur Verfügung gestellt
Von
Anton Holzer
Wer einen Blick in die aktuellen österreichischen Magazine und Illustrierten wirft, erkennt recht bald: Die große Zeit des anspruchsvollen Fotojournalismus ist längst vorbei. Hervorragende, sich über mehrere Seiten ziehende Reportagen werden kaum mehr veröffentlicht. An die Stelle umfangreicher fundierter Fotorecherchen ist häufig einfaches illustratives Beiwerk getreten. Die Pressefotografen haben in den letzten Jahren einen gesellschaftlichen Abstieg hinnehmen müssen.
Blütezeit der Fotografie#
In der großen Ära des Fotojournalismus, die von den späten 1920er bis in die späten 1950er Jahre reichte, stand der Fotograf oft gleichberechtigt neben den Textautoren am Beginn eines journalistischen Beitrags. Heute werden die Namen der Lichtbildner oft am äußersten Bildrand genannt - wenn überhaupt.
Kehren wir also noch einmal zurück in die Blütezeit der österreichischen Pressefotografie in der Zwischenkriegszeit. Eine heute in Vergessenheit geratene Zeitung bildete das Flaggschiff des modernen österreichischen Fotojournalismus: "Der Sonntag". Sie erschien nur wenige Jahre, von 1934 bis 1938. Der Nationalsozialismus setzte diesem innovativen publizistischen Projekt ein abruptes Ende.
Die Jahre des "Sonntag" decken sich erstaunlicherweise ziemlich genau mit den Jahren der austrofaschistischen Diktatur. Das ist erklärungsbedürftig. Immerhin passte die Illustrierte, die im April 1934 auf den Markt kam, ganz und gar nicht in das diktatorische und reaktionäre Klima des österreichischen "Ständestaates". "Der Sonntag" war in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre die einzige österreichische Illustrierte, die sich nicht vor den Karren der regierungsnahen Heimattümelei spannen ließ. Nicht nur das: Sie war inhaltlich zum großen Teil anspruchsvoll und grafisch durchwegs hervorragend gemacht.
"Der Sonntag" war mehr als eine Illustrierte. Er war, mitten in der Diktatur, auch ein kultureller Treffpunkt für liberale und linke Intellektuelle, für Andersdenkende und Oppositionelle, die in anderen Zeitungen und Zeitschriften nicht mehr veröffentlichen konnten bzw. wollten. Autoren und Schriftsteller, die um Abstand zum Regime bemüht waren, etwa Jura Soyfer oder Theodor Kramer, fanden im "Sonntag" eine, wenn auch prekäre, öffentliche Existenz. Zahlreiche weitere bekannte Journalisten und Autoren veröffentlichten im "Sonntag", etwa Arnold Höllriegel, Eugenie Schwarzwald, Veza Canetti, Vicki Baum, Johannes Urzidil, Franz Werfel oder Hilde Spiel.
"Der Sonntag" war aber auch - und das ist vielleicht noch bedeutsamer - ein wichtiges Forum für jene Fotografen, die sich nicht mit der patriotischen Gefühlsduselei des "Ständestaates" etwa in Gestalt der Heimatfotografie zufrieden gaben. Viele dieser österreichischen Lichtbildner sind heute - zu Unrecht - in Vergessenheit geraten. Aber auch die Bilder international bekannter Fotografen, etwa eines László Moholy-Nagy, Hein Gorny, Jan Lukas, Bill Brandt, Philippe Halsman, André Kertész und Arkadi Schaichet, wurden im "Sonntag" veröffentlicht.
Ein gewisser Freiraum#
Die Frage liegt auf der Hand: Warum wurde diese Zeitung nicht verboten? Ein wichtiger Grund lag darin, dass der "Sonntag" als wöchentlich erscheinende illustrierte Beilage zum "Wiener Tag" erschien. Die Mutterzeitung wiederum war mehrheitlich in tschechischem Besitz, was die Redaktion einigermaßen vor dem Zugriff der staatlichen Behörden in Österreich schützte. Der 1922 gegründete "Wiener Tag" (das Blatt hieß zunächst "Der Tag") hatte eine bürgerlich-demokratische, linksliberale Ausrichtung, bekannte Autoren wie Robert Musil und Alfred Polgar schrieben für die Zeitung.
Sowohl der "Wiener Tag" wie auch "Der Sonntag" schützten sich auch in der Zeit der Diktatur dadurch, dass sie sich von der innenpolitischen Tagesberichterstattung auffallend fernhielten. Gegründet und geleitet wurde die Beilage von dem jungen Journalisten Hans Ernst Oplatka. Dieser hatte sein publizistisches Handwerk u.a. bei der fortschrittlichen französischen Illustrierten "VU" gelernt. Als er Anfang April 1934 als Chefredakteur des "Sonntag" begann, war er erst 23 Jahre alt. Sein Vater, Emil Oplatka, war tschechischer Herkunft und leitete in den 1930er Jahren in Wien den Medienkonzern Vernay, zu dem neben dem "Wiener Tag" auch eine Reihe andere Zeitungen und Zeitschriften gehörten, etwa die Tageszeitung "Die Stunde", aber auch Magazine wie "Die Bühne", "Mein Film" oder "Illustrierte Film- und Kinorundschau".
Redakteursarbeit#
Anfangs produzierte Oplatka die Zeitung nahezu im Alleingang. Er setzte die Themen fest, organisierte die Bilder und redigierte die Texte, er verhandelte mit den Fotografen und Zeichnern, sichtete das Material und ordnete es zu Geschichten. Immer wieder fotografierte er eigene Fotoreportagen, zu denen er auch die Texte schrieb. Er hatte ein ausgezeichnetes Gespür für interessante Themen und ihre spannende fotografische und grafische Umsetzung.
Nach gut einem Jahr erhielt er Unterstützung. Ab Mitte 1935 ging ihm der junge Wiener Zeichner Wilhelm (Bil) Spira als Bildredakteur zur Hand. Dieser war zwei Jahre jünger als Oplatka. "Meine Aufgabe war es", erinnerte sich Spira Jahre später, "aus Dutzenden Photos die besten herauszusuchen. Aus den besten jene, die einander am besten ergänzen. Entscheiden, ob aus dem Material eine, zwei oder drei Seiten werden sollen. Erster Entwurf für die Aufmachung der Seiten. Sind zu viele Bilder da, entscheiden, welche nicht unbedingt nötig sind. Sind zu wenig Photos da, die guten stärker vergrößern oder das Thema auf kleinerem Umfang behandeln und eine oder zwei Spalten mit einem kurzen Artikel füllen. Bei jeder Reportage ergeben sich neue Probleme. Das macht den Beruf des Redakteurs so interessant und lebendig. Bald war ich imstande, meine Seiten allein aufzubauen und, wenn Hans krank war, eine Reise unternahm oder in Ferien ging, konnte ich ihn vertreten." Spira beschränkte sich in der "Sonntag"-Redaktion freilich nicht auf die Arbeit des Bildredakteurs. Er zeichnete weiterhin viel, schlug Themen vor und knüpfte Kontakte zu neuen Mitarbeitern. Auf seine Initiative hin wurde etwa Jura Soyfer, den er als Mitarbeiter der "Arbeiter-Zeitung" kannte, eingeladen, beim "Sonntag" mitzuarbeiten.
Oplatka verfolgte im "Sonntag" eine eigenständige, überaus moderne inhaltliche und ästhetische Linie. Sehr oft stehen Menschen im Zentrum der Betrachtung, dargestellt in ganz alltäglichen Situationen. Es sind einfache Menschen, so wie sie uns alle Tage begegnen können, nicht entrückte und idealisierte Figuren, wie sie in der Presse dieser Jahre bevorzugt auftauchten. Stars und Schauspieler kamen im "Sonntag" weit seltener vor als in anderen illustrierten Zeitungen. Und wenn sie porträtiert wurden, wurde ihnen ein menschliches Antlitz abgerungen. Als am 24. Dezember 1935 der Wiener Komponist Alban Berg starb, widmete ihm der "Sonntag" ein einfaches, aber eindrückliches Titelblatt. Es ist in ruhigen, klaren Schwarz-Weiß-Flächen gehalten. Im Zentrum steht das frontal aufgenommene, knapp beschnittene Porträt des Musikers. Daneben, leicht über der Augenhöhe des Abgebildeten, findet sich in einem senkrechten weißen Kasten der Zeitschriftentitel und unten der Hinweis auf den Fotografen. Das Foto, es stammt von Otto Skall, ist, zusammen mit dem schlichten Namenszug des Verstorbenen, in einen schwarzen Grund gesetzt und tritt so besonders deutlich hervor, ohne monumental oder pathetisch zu wirken.
Blicke in den Alltag#
Regelmäßig brachte "Der Sonntag" Berichte und Reportagen über das Leben und den Alltag in den Wiener Außenbezirken und Vororten, wo Not und Armut zu Hause waren. Anfang 1935 etwa erschien eine Aufnahme von Felix Braun, in der das visuelle Programm der Zeitschrift kondensiert erscheint. Die Straßenszene entstand in Lichtental, einer ärmlichen, slumähnlichen Vorstadtgegend im 9. Wiener Gemeindebezirk, die zwischen dem Franz-Josefs-Bahnhof und der Nussdorferstraße gelegen ist. Die Not der Bewohner ist deutlich sichtbar. Aber es geht dem Fotografen nicht in erster Linie um Sozialkritik. Er verhält sich vielmehr als stiller Beobachter, der - wohl von einem erhöht gelegenen gegenüberliegenden Fester aus - eine kleine, alltägliche Begebenheit festhält, die scheinbar im Kontrast zum Elend der Straße steht: das Spiel eines Straßenmusikanten, dem eine Kinderschar aufmerksam zuhört.
Um die Lebensbedingungen und den Alltag der "anderen Hälfte der Bevölkerung" einzufangen, mussten die Fotografen und Reporter des "Sonntag" oft nicht weit reisen. Anfang 1937 erschien eine Fotoreportage von Robert Haas, einem der talentiertesten und wichtigsten Fotografen des Blattes, die in die Vorstadt im Süden Wiens führte, in den Arbeiterbezirk Simmering. Der Fotograf besuchte einen Kindergarten in einem desolaten Barackenlager. Dieser "Garten im Lande der Armen" ist, so erfahren wir gleich auf der Titelseite, "hauptsächlich von Familien Arbeitsloser bewohnt." Das ganzseitige Titelfoto zeigt ein kleines Mädchen, das den Mittagskakao für die anderen Kinder einschenkt.
Unter den vielversprechenden Talenten, die in den 1930er Jahren zu fotografieren begannen und im "Sonntag" veröffentlichten, waren auffallend viele Frauen. Zu ihnen gehörte auch Steffi Schaffelhofer, die seit Anfang der 1930er Jahre interessante Alltags- und Reisereportagen gestaltete. Ab 1934 arbeitete sie regelmäßig für den "Sonntag," 1935 fotografierte sie ein ausdrucksstarkes Porträt einer bekannten chinesischen Figur im Wiener Vergnügungsviertel Prater, die im Volksmund "Chineser" (Der Chinese) heißt.
Die Wege trennen sich#
Das Ende des "Sonntag" kam abrupt. Die letzte Nummer erschien am 6. März 1938. Eine Woche später wurde die Mutterzeitung "Der Wiener Tag" und damit auch der "Sonntag" verboten. Am 12. März 1938 wurde die Redaktion von Nationalsozialisten besetzt. Hans Oplatka erinnert sich Jahre später an diesen Tag. "Zu dritt saßen wir (Oplatka, Spira und Soyfer, A. H.) im Café Dankl am Gürtel unter dem Stadtbahnviadukt bei der Volksoper. Zum ersten Mal marschierten die gesamten Naziformationen Währings in voller Uniform in der Stärke von ungefähr drei Kompanien hinter der Hakenkreuzfahne in Richtung Innere Stadt. (. . .) Während die Nazis defilierten, sprachen wir darüber, wie wir herauskommen. Ich riet gegen die ČSR (eine Falle für Österreicher) und gegen die Schweiz, wegen der Haltung der Behörden. Ich sagte via Italien, Frankreich oder sogar via Deutschland."
Hans Oplatka, Bil Spira und Jura Soyfer waren jüdischer Herkunft, ebenso zahlreiche andere Mitarbeiter und Fotografen des "Sonntag". Im März 1938 trennten sich ihre Wege. Die drei engsten Freunde, Oplatka, Spira und Soyfer, schlugen bei ihrer Flucht ganz unterschiedliche Richtungen ein. Hans Oplaka entkam (entgegen seinem ursprünglichen Ratschlag) nach Prag. Im Herbst 1938 floh er über Jugoslawien und Italien nach Paris und später nach England, wo er sich während des Krieges den alliierten Truppen anschloss. Nach dem Krieg konnte er sich in England als Fotograf etablieren.
Bil Spira flüchtete nach Paris, wo er sich als Zeichner durchschlug. 1939 wurde er als "feindlicher Ausländer" interniert und überlebte ab 1942 mehrere Konzentrationslager. Jura Soyfer schließlich versuchte am 13. März 1938 im vorarlbergischen Montafon auf Skiern über die Berge in die Schweiz zu gelangen. Er wurde von österreichischen Grenzbeamten verhaftet. Im Juni 1938 wurde er in das KZ Dachau gebracht, wo er am 16. Februar 1939 an Typhus starb.
Was bleibt vom großen fotojournalistischen Erbe des "Sonntag"? Wenig. Jahrzehntelang nicht einmal die Erinnerung. Nach 1945 knüpfte niemand mehr an die Sternstunden des Fotojournalismus vor dem Krieg an. Den verfolgten jüdischen Fotografen weinte man keine Träne nach. Viele von ihnen kehrten, so sie überlebten, nach dem Krieg nicht nach Österreich zurück. Heute, so viele Jahre nach dem Ende des NS-Regimes, ist es an der Zeit, die wunderbaren Bildgeschichten und Reportagen des "Sonntag" wieder an die Öffentlichkeit zu holen und an die Lebensgeschichten der Fotoreporter und Zeitungsmacher, die hinter diesen Berichten stehen, zu erinnern.
Anton Holzer ist Fotohistoriker, Publizist und Ausstellungskurator in Wien. Am 5. September erscheint im Metro Verlag, Wien, sein neues Buch: "Fotografie in Österreich. Geschichte, Entwicklungen, Protagonisten. 1890 bis 1955". Mehr unter www.anton-holzer.at
Rasende Reporter: Eine Kulturgeschichte des Fotojournalismus