Ödipus’ Erben#
Der Krimi ist und bleibt die beliebteste Urlaubslektüre - fallweise ist er sogar literarisch anspruchsvoll.#
Von der Wiener Zeitung (Do./Fr., 14./15. August 2014) freundlicherweise zur Verfügung gestellt.
Von
Edwin Baumgartner
Am Anfang ist einer ermordet. Am Schluss erfährt man, wer’s getan hat. Das nennt man dann einen Krimi. Was zwischen Anfang und Schluss liegt, zeigt die Kunst des Autors, aus einem der scheinbar beschränktesten Genres der Literatur etwas zu machen, was man wenigstens als Knust bezeichnen mag. Denn kann Krimi Kunst sein?
Verachtet mir den Krimi nicht - ganz leise angemerkt: Er kann Weltliteratur sein. Wenn zum Beispiel der Chef auf die Jagd nach einem Mörder geht und schließlich zur Überraschung des Lesers merkt, dass er die Schlinge um den eigenen Hals gelegt hat, weil es just um diesen einen dunklen Punkt in seiner sonst makellosen Vergangenheit geht.
Ist das der erste Krimi überhaupt? Geschrieben hat ihn jedenfalls nicht Edgar Allan Poe, den man gemeinhin als Vater des Krimis bezeichnet, sondern ein Grieche namens Sophokles etwa 429 v. Chr.: "Ödipus" ist tatsächlich ein Krimi reinsten Wassers.
Aber seien wir nicht ungerecht zu Poe, geben wir zu: Was wir heute als Krimi von Agatha Christie bis Henning Mankell als beliebte Urlaubslektüre kennen, wurzelt eher in seiner Geschichte "Die Morde in der Rue Morgue", die das Muster vorgibt: Ein Verbrechen wird verübt, und ein Detektiv (es kann auch ein Polizist sein) findet aufgrund von Nachforschungen und kluger Schlussfolgerungen den Täter.
Alle anderen kriminellen Literaturmachenschaften, also die Jagd auf einen bekannten Täter (heute in der Regel ein Serienkiller) oder die Schnitzeljagd, die, nach extremem Blutzoll mit anschaulich geschilderten Perversionen, zum Mörder führt, sind, bitteschön, Thriller. Der Krimi ist und bleibt ganz altvaterisch der Whodunit ("wer war’s?").
Holmes und die Klassiker#
Und da ist man schon bei Arthur Conan Doyles Sherlock Holmes, dem Detektiv aller Detektive - bei dem ich mich aus persönlichen Gründen für unzuständig erkläre. Doyle hat es geschafft, eine absolut lebensechte Gestalt zu entwerfen, bei der es mir so ergeht, wie es mir bei manch einem Menschen ergeht: Er ist mir unsympathisch, und ich kann nicht einmal sagen, weshalb. "Der Hund der Baskervilles" ist fabelhaft - die restlichen Holmesiaden habe ich nach mehrfachen Versuchen gemieden.
Überhaupt die, sagen wir: klassischen Krimis - ist das heute noch lesbar?
Gretchenfrage für Krimifans: Wie hältst Du’s mit Agatha Christie? Hercule Poirot und Miss Marple sind in ihrer Schrulligkeit Jahrhunderterfindungen. Aber jetzt mal im Ernst: Wie gut funktionieren ihre Romane auf Krimi-Ebene wirklich? Rein von der Lösung eines Rätsels her - perfekt. Es ist kein Zufall, dass Agatha Christie (wie übrigens auch Gilbert Keith Chesterton und Dorothy L. Sayers) Mitglied des 1928 in London gegründeten Detection Club war. Dessen Angehörige, allesamt Krimiautoren, verpflichteten sich, 10 Regeln einzuhalten, die lauteten:
1) Der Verbrecher muss zu Beginn erwähnt werden.
2) Übernatürliche Kräfte sind untersagt.
3) Es darf nur eine Geheimkammer oder ein Geheimgang verwendet werden, und nur, wenn die geschilderte Umgebung ihn plausibel erscheinen lässt.
4) Unbekannte Gifte sind ebenso untersagt wie eine Verabreichung, die eine wissenschaftliche Erklärung erfordert.
5) Exotische Bösewichte haben nichts zu suchen.
6) Der Detektiv darf weder aufgrund eines Zufalls noch einer unerklärlichen Eingebung den Fall lösen.
7) Der Detektiv darf das Verbrechen nicht selbst begehen.
8) Alle Spuren, auf die der Detektiv stößt, muss der Leser unverzüglich erfahren.
9) Der Freund des Detektivs, sein Watson, darf keinen seiner Gedankengänge verschweigen.
10) Zwillinge und Doppelgänger dürfen erst nach einer gebührenden Vorbereitung auftreten.
Die Crux der elften Regel#
Würde die elfte Regel lauten: Das Personeninventar muss individuell charakterisiert und überschaubar sein, wären alle Agatha-Christie-Krimis als Makulatur abzuhaken.
Das nämlich ist die Crux der Christie: Ihre Personen haben keine Individualität. Es ist dem Leser völlig egal, ob nun Archibald Knox die Kordel um Susan Campbells Hals zugezogen hat oder Reginald Everett, weil Archibald Knox und Reginald Everett auch Reginald Knox oder Archibald Everett sein könnten oder auch Rupert Winterbottom oder sogar Susan Carmichael - alle sind untereinander austauschbar. In einem guten Krimi braucht der Mörder eine Identität. Es muss quasi ein Bekannter des Lesers sein, nicht einer, mit dem man niemanden identifiziert.
Und überhaupt - sind Agatha Christies Handlungen wirklich so perfekt? In "Zehn kleine Negerlein" etwa, jenem Roman, der als eines ihrer Meisterwerke gilt und der jetzt politisch korrekt umgetauft wurde zu "Und dann gab es keine mehr", ist der Mörder einer, der zuvor seine eigene Ermordung vorgetäuscht hat. Grande Dame de crime?, würde Monsieur Poirot ausrufen, parbleu, une tricheuse - wie sagt man? Eine Schummlerin ...
Chestertons Pater-Brown-Geschichten sind da weit überlegen, wenn man akzeptieren kann, dass ein Krimi bisweilen zur Predigt katholischer Moralvorstellungen wird. Im deutschsprachigen Raum seltsamerweise ganz verschwunden sind die Romane von Dorothy L. Sayers, eigentlich mehr stilistisch makellose Milieustudien als Krimis - vielleicht literarisch zu schwere Kost für die Bahnfahrt oder den Strand?
Obwohl: Gerade einige der heute so favorisierten Krimis aus nordischen Ländern sind ebenfalls anspruchsvolle Lektüre. Überhaupt hat der Schwedenkrimiboom allerhand an interessanten Entwicklungen im Genre ausgelöst, vor allem Krimis mit dezidiertem Lokalbezug. Da mag es dann um ironieprall geschilderte Dörflichkeiten in der deutschen oder österreichischen Provinz gehen, wo sie am tiefsten ist, oder es tun sich auch die erschreckendsten Abgründe an den abgelegenen Orten auf. Alpenkrimi, Allgäukrimi, Provencekrimi, Bayernkrimi, Altausseekrimi, Bodenseekrimi (ich warte sehnsüchtig auf Orkneyinselkrimi und Lofotenkrimi): jeder Region und jedem Kaff seine eigenen kriminellen Umtriebe - viele davon übrigens glänzend geschrieben und eine echte Genrebereicherung.
Wo ist Kommissarin Forensik?#
Andere Autoren wenden sich der jüngeren Vergangenheit zu: Ihre Krimis spielen im NS-Staat oder knapp nach dessen Zusammenbruch oder in der Sowjetunion der Stalinzeit. Die Ermittler sind oft Außenseiter wie der jüdische Kommissar, auf dessen Dienste die Nationalsozialisten in Harald Gilbers brillantem Roman "Germania" angewiesen sind, oder der verurteilte Antikommunist in Stalins Diensten in Sam Eastlands "Roter Zar".
Der Rückgriff auf diese Vergangenheit enthebt die Autoren nicht zuletzt der Begründung, weshalb Kommissarin Forensik nicht ermittelt. Denn die modernen Ermittlungsmethoden hätten einen Mr. Holmes in Pension geschickt. Anders gesagt: Der größte Teil der klassischen Krimis wäre nicht mehr möglich unter Voraussetzungen wie DNA-Test, und selbst ein simples Handy brächte manchen Fall zu Fall (glauben Sie es einem Autor, dessen wohlüberlegter Thriller einfach deshalb nicht funktioniert, weil heute jede Yacht mit GPS ausgestattet ist...)
Der Krimi aber schert sich nicht um solche Hindernisse und geht weiter unbehindert um die Welt: Galten früher die Briten als die krimiversessenste Nation (so, als müssten sie ihre formellen Umgangsformen literarisch mit Mord und Totschlag kompensieren), und zogen dann die Amerikaner gleich, so haben heute auf dem deutschsprachigen Buchmarkt die Einheimischen, also die Deutschen, die Nase vorne, wenn man lieferbare Titel als Messlatte nimmt. Die Skandinavier mischen kräftig mit, die Russen hingegen fast gar nicht: Die haben’s, ihrer Tradition entsprechend, wohl eher mit der Science-Fiction. Oder sie wissen, dass sie mit ihrem größten Krimischreiber ohnedies nicht gleichziehen könnten, weil das so ein Weltliteraturautor war, nämlich Fjodor Dostojewski mit "Verbrechen und Strafe". Wobei: Eigentlich ist das kein Krimi, sondern ein waschechter Thriller. Und kein Krimi, der was auf sich hält, will ein Thriller sein.
Ödipus von Sophokles ist niemals ein Krimi sondern eine klassische griechische Tragödie, die zeigen soll, dass niemand, nicht einmal ein König seinem Schicksal entgeht, auch wenn er es durch das Orakel von Delphi kennt (du wirst deinen vater töten und deine mutter heiraten etc...) und alles unternimmt, es nicht zu vollziehen.....
Es ist nicht leicht die klassischen Werke der Weltliteratur verstehen zu wollen, aber der Vergleich mit einem Krimi ist unter jeder Kritik...Auch der Ausdruck "Ödipus- Komplex" beruht auf einem schweren Missverständnis, da Ödipus keineswegs wusste, dass er mit seiner Mutter, der Königin von Theben, verheiratet war..er strebte keineswegs wie die Ödipus-Komplexler eine sexuelle Beziehung zu seiner Mutter an....Die Umbennenung von Christies Roman Zehn kleine Negerlein zeigt die ganze Ideologiedeterminiertheit des Autors,es gibt übrigens auch ein Kinderlied gleichen Titels.
Die alten Römer nannten die Neger "homines niger", daher die Ländernamen Nigeria und Niger, die natürlich sofort umbenannt werden müßten und die altrömischen Texte müssten auch um geschrieben werden sowie die gesamte völkerkundliche wissenschaftliche (!!!) Literatur, denn die Afrikaforscher wie Livingstone waren ja alle Rassisten, oder doch nicht ?
-- Glaubauf Karl, Dienstag, 19. August 2014, 22:56