Elektrifizierende Gedankenwelt #
Obwohl überzeugter Kommunist, konnte der Ingenieur und Autor Andrej Platonow aufgrund seiner antitotalitären Gesinnung zu Lebzeiten wenig publizieren. Nun kann das Werk des sowjetischen Schriftstellers in neuer Übersetzung entdeckt werden. #
Mit freundlicher Genehmigung übernommen aus der Wochenzeitschrift DIE FURCHE (16. April 2020)
Von
Erich Klein
„Der Mund der Erde ist halb geöffnet. Unsere Aufgabe ist es, ihn ganz zu öffnen.“ Was der 23-jährige angehende Sowjetschriftsteller Andrej Platonow (1899–1951) in seinen Artikeln über Aufgabe und Zukunft des Kommunismus in Zeitschriften wie Rotes Dorf publizierte, entsprach ganz dem Geist der Zeit. Hieß es bei einem Lenin „Kommunismus ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des Landes“, brach bei Platonow das „goldene Zeitalter“ des Sozialismus materialistischer und mit mehr Metaphorik an: „Die Elektrifizierung ist die Verwirklichung des Kommunismus in der Materie: in Stein, Metall und Feuer.“
Als erstes von zehn Kindern eines Eisenbahnschlossers im zentralrussischen Woronesch 1899 geboren, besuchte Andrej Platonow eine Konfessionsschule und wurde am örtlichen Polytechnikum zum Elektroingenieur ausgebildet. Während des Bürgerkrieges schlug er sich auf die Seite der Bolschewiki – womit auch seine Karriere als Korrespondent und Verfasser zahlreicher Artikel und Aufsätze begann, die sich vor allem durch Messianismus auszeichnen. Die kürzlich unter dem Titel „Frühe Schriften zur Proletarisierung 1920–1927“ erschienenen „Gedanken eines Kommunisten“ sprechen eine zwischen Philosophie, Technik und Kultur mäandernde Sprache von unten: „Die Elektrifizierung wurde von den russischen Arbeitern und Bauern erfunden, die auch den Kommunismus erfunden haben.“ Mit Lenin, der bekanntlich auf Arbeitsorganisation à la Henry Ford und weniger auf Marx setzte, teilt Platonow die Bewunderung für Amerikas Technik, allerdings nehmen seine Überlegungen bald höchst praktischen Charakter an.
Faustisch bis Nietzscheanisch #
In der ersten Hälfte der 20er Jahre als „Meliorator“ bei der Landgewinnung in Zentralrussland und Mittelasien tätig, macht er die Erfahrung großer Dürrekatastrophen, die seine Überzeugung, nur der Kommunismus könne die Probleme der Zeit lösen, bestätigen: „Die große kosmische Katastrophe vereint, verbrüdert die Menschheit und zwingt sie, die Schläge der Natur zu erwidern.“ Platonow konzipiert utopisch detailreiche Pläne zur „Erhöhung des Wasserkoeffizienten“ – ganze Landstriche seien durch „Sprengung der Reliefkonstruktion“ umzugestalten; mit „elektromagnetischen Methoden“ gelte es, in das Innere der Materie vorzudringen, um den „Rhythmus der Elemente“ zu verändern. Derart wissenschaftlichtechnischen Betrachtungen stehen die nicht weniger faustischen oder besser gesagt nietzscheanischen Überlegungen zu Erziehung und Propaganda, zu Journalismus und Literatur zur Seite. Es geht um einen neuen Homo Sovieticus: „Der Kapitalismus schafft Idioten, der Sozialismus begabte Menschen.“ Nicht ohne Kraftmeierei weiß Platonow auch die Literatur in einem umfassenden roten Ideen-Kosmos aufgehoben: „Die Kunst gehört, wie das Schwitzen zum lebendigen Körper, wie die Bewegung zum Wind, organisch zum Leben.“
Dass sich Andrej Platonow mit seiner Entscheidung für eschatologisch imprägnierte literarische Mittel auf die falsche Seite proletarischer Kunst geschlagen hatte, sollte sich alsbald herausstellen. Ab Ausrufung des Sozialistischen Realismus zur offiziellen ästhetischen Doktrin war jede radikal eigene Stimme, und sei sie noch so „kommunistisch“, der Unterdrückung unterworfen. Stalin selbst schrieb an den Rand eines Platonow-Manuskripts: „Dreckskerl!“ Ein Hilferuf an Maxim Gorki, Unterstützer zahlreicher literarischer Abweichler, blieb unbeantwortet – dem nicht genug, der einstige „Feuervogel“ distanzierte sich von Platonows Schreiben, das „an einen finsteren Albtraum grenzt“. Abgesehen von Artikeln als Zeitungskorrespondent im Zweiten Weltkrieg sollte Andrej Platonow zu Lebzeiten kaum mehr publizieren.
Seine beiden antitotalitären Meisterwerke „Die Baugrube“ und „Tschewengur. Die Wanderung mit offenem Herzen“ konnten erst veröffentlicht werden, als das Sowjetsystem in letzten Zuckungen lag. Der Horror einer höchst surrealen Großbaustelle in der „Baugrube“, Platonows Reaktion auf Stalins Industrialisierungsprogramm, und die donquichoteske Suche der beiden Protagonisten nach dem Kommunismus in „Tschewengur“ bezeichnete der russisch-amerikanische Literaturnobelpreisträger Joseph Brodsky als den Werken der großen Autoren des 20. Jahrhunderts von Joyce bis Kafka und Musil ebenbürtig. Platonow trieb Sowjetkommunismus und Stalinismus von innen her auf die Spitze. Dabei ging es – wie in „Tschewengur“ – ganz aus dem Geist der bolschewistischen „Gottlosenkampagne“ mehr als rabiat zu: „Auf den Hodensack von Jesus Christus, auf die Rippe der Gottesmutter und auf die ganze Christensippe. Feuer!“
Legendenhafter Erzählstil #
Andrej Platonows Religion war eine andere. In zwei jüngst neu übersetzten Romanen folgt er gleichsam Robert Musils Idee, wonach drei Ideen das 20. Jahrhundert wesentlich bestimmen würden: Sex, Gott und Sozialismus. Im Roman „Die glückliche Moskwa“ aus 1932 lässt er seine Protagonistin Moskwa Iwanowna Tschestnowa aus dem Bürgerkrieg in die Hauptstadt fliehen und ihr Glück bei drei unterschiedlichen Männern suchen. Zuerst zur Pilotin und Fallschirmspringerin ausgebildet, endet sie als Arbeiterin beim UBahn- Bau – nach einem Unfall wird ihr ein Bein amputiert. Platonow demonstriert an dieser Frauenfigur, was er schon früher in obskuren Überlegungen über Sexus und Antisexus (die nach Otto Weininger klingen) „theoretisch“ dargelegt hatte: Sex ist bürgerlich, Klassenbewusstsein hingegen proletarisch. Das Buch wäre krude, beherrschte Andrej Platonow nicht eine Art legendenhaftes Erzählen, das scheinbar naiv in jeder geringsten Bewegung den ganzen Kosmos zu bannen versteht: „Nein, die Welt ist besser und geheimnisvoll: Weder eine Handbewegung noch die Arbeit des menschlichen Herzens beunruhigen die Sterne, sonst hätte das Beben dieser Nichtigkeiten längst alles zerrüttet.“
Noch radikaler gerät der Roman „Dshan“ aus 1935, in dem der Aktivist Nasar Tschagatajew im Auftrag der Partei aus Moskau in seine Heimat Turkmenistan aufbricht, um das sterbende Nomadenvolk der Dshan ins Leben zurückzuführen. „Wir werden Unglück nicht mehr zulassen“, erklärt das Waisenkind, das von seiner Mutter einst weggeschickt wurde, am Beginn seiner Reise in eine apokalyptische Landschaft aus Sand, Wind und Tod. Nur eine Schafherde kreuzt den Weg der Gruppe aus 47 von Sumpffieber befallenen Menschen, die kaum Fetzen am Leib tragen, sich von Grassamen ernähren, Tümpel aufrühren, um das Wasser „nahrhafter“ zu machen oder das Blut erlegter Schafe schlürfen. Beinahe pornografische Gewaltszenen gehen über in Slapstick und verwandeln sich weiter in einen mythologischen Bilderbogen göttlichen Schreckens. Riesige Raubvögel greifen an.
Die Geschichte von Ormuzd und Ahriman wird neu interpretiert und Stalin immer wieder als guter Vater beschworen. All das geschieht in überhitzt biblischem Ambiente, in dem sich Innigkeit und Aussichtslosigkeit bis zu einem zweifelhaften Happy End die Waage halten. Vermutlich wurde nie ein schrecklicherer Roman als Andrej Platonows „Dshan“ geschrieben, auch wenn es am Schluss heißt: „Tschagatajew war jetzt überzeugt, dass ihm Hilfe nur von einem anderen Menschen kommt.“
Frühe Schriften zur Proletarisierung 1920–1927
Von Andrej Platonow
Turia + Kant 2019
242 S., geb.,
€ 29,–
Die glückliche Moskwa
Von Andrej Platonow
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Dshan oder Die erste sozialistische Tragödie
Von Andrej Platonow
Quintus 2019
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