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Witz und Wut und Bildungsgut#

Auch an seinem (vermutlich) 100. Geburtstag ist Arno Schmidt noch immer der ernsthafte Sprachspieler, dessen Werk sich allen Schnellerklärungen und Deutungsschablonen entzieht.#


Mit freundlicher Genehmigung übernommen aus der Wiener Zeitung (Sa./So., 18./19. Jänner 2014)

Von

Michael Rohrwasser


Arno Schmidt, Porträt von Jens Rusch
Arno Schmidt und seine "Kühe in Halbtrauer". Porträt von Jens Rusch.
© Foto: Wikipedia

Je länger wir auf Arno Schmidt schauen, desto fremder schaut er zurück - ist er der große Einzelgänger, als der er einst (1964) im "Spiegel" gefeiert wurde oder doch der "unerträglich pampige Oberlehrer", als den sein erster Verleger, Ledig-Rowohlt, ihn gesehen hat? Hat Alfred Andersch recht, der ihn (1955) als großen Sprach-Revolutionär feierte, oder ist er doch eher der Sprachgläubige, der sich "am liebsten in seine beschreibbare Umwelt auflösen möchte", wie Oswald Wiener 1979 postulierte?

Ja – aber#

Jetzt, wenn wir seinen hundertsten Geburtstag feiern (aber auch dieses Datum steht in Frage), ist er der große rätselhafte Autor des Nachkriegs geworden (freilich: gibt es einen Autor ohne Rätsel?). Ein wenig glühende Zigarettenasche ist zielgenau auf seine Hochzeitsurkunde gefallen, dorthin, wo sein Geburtsjahr stand, und Schmidt hat dann einige Male betont, dass er tatsächlich vier Jahre älter sei. Man hat jedenfalls den Eindruck, es sei immer noch zu früh, das große Werk zu heterogen, um sich auf eine bündige Formel zu einigen wie "gewaltiges Frühwerk und solipsistisches Spätwerk, in dem die Außenwelt allmählich verschwindet".

Verzichten wir also auf Konsensformeln, denn immer müsste man ein "ja aber" anhängen. Man kann beispielsweise mit einigen guten Argumenten seine vielgelobte Übersetzung des Werks von Poe kritisieren, und gleich noch die Übersetzungen seines Mitarbeiters Hans Wollschläger, aber was Schmidt bei Bulwer-Lytton und Stanislaus Joyce geleistet hat, reicht aus, um ihn auch als Übersetzer zu rühmen.

Noch mehr Rätsel gibt uns die Wirkungsgeschichte des "Heidedichters" auf. Es war ein unglaublicher Weg nach oben, den Arno Schmidt in der Adenauer-Ära angetreten hat, und das ganz ohne Gruppe 47, heraus aus dem schlesischen Abseits, nicht zum auflagenstarken, aber zum legendenumrankten, ja: berühmtesten deutschen Dichter, der poeta doctus in der Einsamkeit der Lüneburger Heide, wo die Kühe immer noch Halbtrauer tragen, zu dem jene, die in ihm ihren Wahlvater, den Antipoden von Adenauer, gefunden hatten, wallfahrten, und dem Jan Philipp Reemtsma so etwas wie einen alternativen Nobelpreis gestiftet hat. Er war zum Herrscher einer virtuellen Gelehrtenrepublik aufgestiegen, Liebling nicht nur der literarischen Nerds, der, als man ihm schließlich den Goethe-Preis verlieh, durch seine Gattin Alice mitteilen ließ, dass er, mit seiner 100stündigen Arbeitswoche, kein Verständnis für die gewerkschaftliche Forderung einer 35-Stunden-Woche habe (hinter der Betonung seiner Arbeitswut mag sich das schlechte Gewissen des Schriftstellers verbergen).

Kein anderer Autor hatte sein eigenes "Dechiffrier-Syndikat", in dem sich die Jünger zusammenschlossen, und eine Zeitschrift, die in bislang 377 Nummern Beiträge zum Werk versammelt (den "Bargfelder Boten"), es gibt sogar einige Liebeserklärungen von Leserinnen, unter anderem von Elke Schmitter und Juli Zeh (wichtig zu erwähnen, denn Schmidt hing bald der Ruf eines Buben-Autors an), und es gibt im Zweitausendeins-Verlag sogar eine Buchreihe, in der jene Bücher wieder aufgelegt wurden, die Schmidt seinen Lesern empfohlen hatte, die "Haidnischen Alterthümer", die inzwischen ein ganzes Brett im Bücherregal einnehmen (schaut man noch einmal kritisch zurück auf diese schön gebundenen Bände mit Silberschnitt, dann sind keine wirklich großen Bücher darunter, von Schnabels "Insel Felsenburg" abgesehen, aber der Rezensent kann sich täuschen).

Inzwischen geht man auf Konferenzen nicht mehr so zimperlich mit ihm um, was vielleicht die andere Seite der Vaterverehrung ist. Hatte Hans Wollschläger einst "Sitara" als "urkomisches Buch voll flitzenden Gelächters" gerühmt, so ist dies nach Schmidts Ableben für ihn "eine mörderische Schwulenhatz" geworden. Ein gewöhnlicher oder typischer Nachkriegsautor war Schmidt gewiss nicht. Wo andere mit Optimismus in die Zukunft blickten und einen Strich ziehen wollten oder sich ins Reich der ewig-schönen Poesie fantasierten, blieb Schmidt beharrlich bei Themen, die die Leser verstören mussten: Atomkriegs-Szenarien, Emigration auf den Mond, Schattenwelten mit Kriegsdeserteuren.

Das Arbeitszimmer des Autors in Bargfeld
Das Arbeitszimmer des Autors in Bargfeld.
© Foto: apa/dpa/Christoph Schmidt

Wie schreibt man nach Auschwitz, wie kann man im Schatten dieses Genozids leben, wie ist ein Wiederaufbau möglich auf dunklen Massengräbern? Wo andere nach vorne schauten und die Fahne des Wiederaufbaus und des Optimismus schwangen, herrscht Düsternis im Kosmos von Schmidt. Am Anfang steht der zornige Autor, der die Frage, wie die Überlebenden es in den Alltag des Nachkriegs geschafft haben, immer aufs Neue und anders beantwortet. Schmidts Frühwerk ist eine Sammlung verschiedener Anläufe zu einer Antwort. In "Leviathan": Wir haben es nicht geschafft, stecken fest oben auf der Brücke, wo die Lokomotive zum Stillstand gekommen ist und konnten nur noch eine Flaschenpost herabschleudern; in "Brand’s Haide" ist es die vertraute Figur des Kriegsheimkehrers, dem eine Konservendose als Tasse dient und die Reintegration als Hilfslehrer kaum möglich ist; in "Seelandschaft mit Pocahontas" heißt die Antwort: Wir haben uns in den Sex gestürzt, um zu vergessen, was wir gesehen haben. (Schmidt verwandelt sich einen Moment lang in den deutschen Henry Miller!) Seine Ich-Erzähler sind Kriegsheimkehrer, Deserteure, Versehrte, Flüchtlinge, aber keine Melancholiker und Pathetiker, sie klammern sich an ihr erlesenes Wissen, trumpfen auf damit und beeindrucken die Frauen (sie hängen vielleicht dem Glauben an, die Bildung sei eine Art von Schutzschild gegen NS-Ideologie).

Zorn und Blasphemie#

Am Anfang steht die Wut auf jene, die nun selbst die Position des Leidenden besetzen wollen, die Wut auf den Pastor, der seine Gebete an Gott richtet und sich dadurch einverstanden erklärt mit einer Schöpfung, in der Leichenberge aufgehäuft sind. Auch "Pocahontas" beginnt mit einem Wutschrei auf die Kirche, die ihre Utensilien blütenweiß ("suwaweiß") gewaschen hat. "Der Herr, ohne dessen Willen kein Sperling vom Dache fällt oder 10 Millionen im KZ vergast werden: das müßte schon ne merkwürdige Type sein - wenn’s ihn jetzt gäbe !" - ein Satz, mit dem Schmidt sich eine Anzeige wegen Blasphemie und Gotteslästerung einhandelte. "Es ist unglaublich, wie sich der faschistische Flügel des Katholizismus daran entlarvt hat", schreibt Andersch tröstend an Schmidt.

Was Schmidt aber noch mehr von den anderen unterscheidet, das ist, dass er von der ersten Zeile an der Sprache ihre Unschuld (oder: ihre Verkommenheit) raubt. Er befreit sich von der Duden-Dogmatik, zerrt die Wörter auseinander, macht die Satzzeichen zu lebendigen Wesen, setzt nebeneinander, was nicht zueinander zu passen scheint, legt die Wurzeln der Wörter frei und scheut dabei auch keine Kalauer. Konkrete Poesie ist nicht länger Kunstwerk, sondern Handwerkszeug, Sprachreihen werden aufgeraut; auf stilistische Eleganz wird verzichtet (das überlässt er Wollschläger). Ich sehe keinen anderen Autor, der in der deutschen Nachkriegsliteratur von Anfang an Erzählen und Sprachexperiment verbindet. Gegen ihn wirken Böll, Grass, Koeppen oder Bernhard und Haushofer bieder.

Im "Leviathan" (1949) geht es los auf Englisch, dann der erste deutsche Satz, der festhält (nicht beschreibt), dass ein Querschläger den Stahlhelm des Erzählers getroffen hat (man schreibt den 20. Mai 1945): "Der Kopf pulst wie ein schwellendes Glockenmaul" - ein Satz, der aus dem von Nazis und Stalinisten verbotenen Expressionismus gestiegen ist; mit einem Schlager beginnt "Gadir" und mit einem "Rattatá Rattatá Rattatá" geht es los in "Pocahontas": die Lokomotive nimmt wieder Fahrt auf...

James Joyce war für Schmidt der wichtigste Lehrmeister (ein böser Leser hat Schmidt zum "Joyce für Sozialdemokraten" ernannt), und in den 60ern kam Freud hinzu, mit dem der Gegensinn der (Ur-)Worte System bekam. Noch etwas scheint sicher: Schmidt ist einer der großen komischen Autoren seiner Generation - man muss nur die erste Seite von "Zettel’s Traum" aufschlagen und über die beiden "xxx"-Reihen nachsinnen, die sich öffnen, um einem :" - : king" ! - Platz zu machen, links daneben steht ein "Anna Muh=Muh ! -." Ja, da wird das Bild eines auseinandergezogenen Kuhweidenzauns entworfen.

Er attackiert seine Leserschaft als ein Volk von "linguistischen Kastraten", gegen die er Herder, Klopstock und Jean Paul als seine Schutzgötter anruft, und beklagt bei den Philologen eine "Phimose des Sprachgefühls". Der Witz sprüht erst recht in seinen Funk-Features, in den Plädoyers für James Fenimore Cooper oder seinen Attacken auf Adalbert Stifter (der im Hochwald bei Cooper abgeschrieben habe, wie er nicht müde wird zu wiederholen). Überhaupt Stifter: Während es beim "Nachsommer" noch eine Hassliebe scheint, wo sich insgeheim eine Verwandtschaft verbirgt, ist "Witiko" für Schmidt ein "schlechtes Handbuch für Offiziersanwärter", wobei sein Ärger auch daher rührt, dass die völkisch-nationale Germanistik Stifter unter ihre braunen Fittiche genommen hat.

Jedenfalls verbinden sich in seinen Attacken Witz und Wut. Das kann man auch an Schmidts erstem literarischen Angriff beobachten, der Karl May galt und dessen Gralswächtern in Bamberg. "Sitara und der Weg dorthin", 1963 erschienen, war sein erster Verkaufserfolg (1200 Exemplare). Trotz seiner recht verwegenen und angreifbaren These von subkutaner Beeinflussung der Leser bleibt es ein wunderbar komisches Buch. Zudem hat "Sitara" ein weiteres Verdienst: Es transportierte immerhin einige Leser (der Rezensent schließt sich nicht aus) von Karl May weg, hin zur Nachkriegsliteratur, als deren exponiertesten Vertreter wir Schmidt zählen dürfen. Vielleicht lag es an einer stillen Verwandtschaft der beiden, dass dieser Sprung so gut funktionierte.

Österreich und Schmidt#

Bleibt am Ende noch die Frage, ob man in Österreich ein besonderes (abschätziges) Verhältnis zu Arno Schmidt hegt. Stifter ist immerhin auch von Thomas Bernhard attackiert worden (es ist nicht die einzige Gemeinsamkeit zwischen den beiden). Schmidt hatte sich einst in einem "Spiegel"-Gespräch (1970) lustig gemacht über die vorgebliche Sprachradikalität der österreichischen Avantgarde, und Oswald Wiener hat darauf ein paar Jahre später geantwortet mit einem roten Bändchen, "Wir möchten auch vom Arno-Schmidt-Jahr profitieren", einer luziden Kritik, die erstaunlich frisch geblieben ist.

Aber man sollte nicht überlesen, dass diese Kritik auch eine Hommage ist. Am Ende konzediert Wiener: "gegen seine literatur selbst hab ich weniger als gegen die, die mit so einem erfolg leitartikelpsychologie verfeinern (pause) ist doch ein wahnsinn heller als tausend sonnen was hier heute grosse literatur ist und (pause) und irgendwie zwischen Grass und Handke kommt er mir fast noch stark vor".

Michael Rohrwasser, geb. 1949, ist Literaturwissenschafter und Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Wien.

Wiener Zeitung, Sa./So., 18./19. Jänner 2014