Die Welt ist englisch#
Mit freundlicher Genehmigung zur Verfügung gestellt von: DIE FURCHE, Donnerstag, 6. Mai 2010
Von
Gerald Sommer
Wenn Heimito von Doderer Großbritannien erwähnt – und das geschieht gar nicht selten –, so ist immer nur von "England" die Rede. Die übrigen Teile des Vereinigten Königreichs und ihre Völker spielen bei ihm keine Rolle. Britisches und Englisches sind diesem Autor ungeachtet der tatsächlichen Verhältnisse schlicht eins. Wo eine Einheit behauptet wird, die es so nicht gibt, ist das Klischee oft nicht fern. Doderers Darstellung Großbritanniens und seiner Einwohner zeigt demgemäß vorzugsweise das vermeintlich Typische von Land und Leuten, und wenn dieses Typische skurril ist, dann ist das Skurrile eben typisch und nicht weiter zu diskutieren. Bei alledem ist Doderers Sicht auf sein England gleichwohl eine fraglos positive. Das beste Beispiel dafür und zugleich eine Begründung findet sich im Gespräch einer abendlichen Herrenrunde in seinem bekanntesten Roman "Die Strudlhofstiege" (1951). Ein gewisser Baron Buschmann erzählt von einem Bekannten, der „von einer dreijährigen Welt-Reise zurückgekommen ist. Sein Resümee: „Bleibt’s zuhaus, nirgends ist es so schön und nirgends lebt man im entferntesten so angenehm wie hier in Wien.“ Seine hervorstechendste Erfahrung aber war: „Die Welt ist englisch.“
Die Welt in englischen Händen #
Doch sei sie dies nicht aufgrund der imperialen Größe und (See-)Macht Großbritanniens, sondern, so Buschmann weiter, weil „England die Welt fasziniert hat, deswegen hält es sie in den Händen. Es hat die Welt nicht fasziniert auf einem Einzelgebiete wie der Italiener oder der Deutsche durch die Musik oder die Franzosen durch ihre Literatur, sondern auf die allgemeinste Art, die gedacht werden kann, nämlich durch die Art zu leben. Es fällt mir übrigens nicht ein, die Ursachen, welche man schulbildungsgemäß für Englands Macht und Größe nennt, zu leugnen. Sie mögen dahin geführt haben. Aber zusammengehalten und tief eingesenkt in den heutigen Status der Welt wird diese Macht und Größe durch die englische Faszination [...]." Diese wiederum gründe auf einer "Versammlung von unscharfen aber zugleich intensiven Vorstellungen, die sofort da ist, wenn wir das Wort 'englisch' heute denken: Sie ist das Zeichen dafür, daß die Idee 'England' verwirklicht worden ist. [...] Und wo einer sich selbst fühlt und sich wohl fühlt auf die beschriebene Art, [...] dort ist England mit seiner Faszination und wenn der Betreffende gar nie um England sich gekümmert hätte.“
Erst am Ende der Entwicklung zeigten sich Auswirkungen im Detail, die "englische Gouvernante, die wir hatten, und der Trainer im Sport-Club und die Jagdreiterei und daß wir beim Tennis englisch zählen und Bennos Capstan und Pistas Sweater und Mackintosh. Das alles sind schon die letzten Äußerlichkeiten des Phänomens". Man darf, ja, man muss dieser Sicht des Barons Buschmann, die sein Autor, wie sich an anderer Stelle im Werk zeigen ließe, zu teilen scheint, wohl widersprechen. Dies allein schon, weil Doderers Roman "Ein Mord den jeder begeht" (1938) über die Figur des Landgerichtspräsidenten Robert Veik ein Argument ins Spiel bringt, das die Ausführungen Buschmanns relativiert und als Wunschvorstellung entlarvt: "Wir sind immer glücklich, wenn wir einen Typus richtig ausgefüllt und verwirklicht erblicken, wir wünschen uns den Engländer so englisch, den Wiener so wienerisch wir nur möglich, als ein Zeugnis einer eben doch und trotz allem noch in der Welt herrschenden Ordnung..."
Die europäische Lokomotive Hinzu kommt, dass die Übernahme des von Doderer sogenannten "englischen Lebensstils" ohne die im 19. Jahrhundert herrschenden wirtschaftlichen Verhältnisse nicht möglich gewesen wäre. Das Heimatland der Industriellen Revolution konnte infolge seines Entwicklungsvorsprungs im Grunde gar nicht anders als stilprägend auf die bürgerlichen Schichten anderer Länder wirken. Britische Erzeugnisse dominierten die Märkte auf dem europäischen Kontinent. Britische Maschinen und Textilien fanden nicht nur allgemeine Verwendung Verwendung, sie bestimmten auch die öffentliche und private Wahrnehmung Großbritanniens bei den Menschen in den Importnationen: Der Eisenbahnverkehr begann mit britischen Lokomotiven, Handwerksbetriebe und Fabriken verwendeten britische Werkzeuge und Maschinen, landwirtschaftliche Großbetriebe setzten britische Landmaschinen ein, Stoffe und Kleidungsstücke britischer Herkunft hatten den Rang von Statussymbolen. Zugleich zog das ökonomisch prosperierende Vereinigte Königreich Arbeitsmigranten, Geschäftsleute und Studenten technischer Fächer in großer Zahl an, die den „British way of life“ naturgemäß übernahmen und nach ihrer Rückkehr in die jeweiligen Heimatländer nicht selten beibehielten und folglich propagierten.
Im Gegenzug entstanden auf dem europäischen Festland, wo immer dies lohnend und möglich war, Niederlassungen britischer Firmen mit oftmals britischem Führungspersonal. Von nicht zu unterschätzender Bedeutung war sicherlich auch der von Großbritannien seinen Ausgang nehmende Tourismus wohlhabender Adeliger und Bürger. Britische Lebensart wurde mithin nicht nur nolens volens exportiert, sie wurde auch gezielt von britischen Staatsbürgern in Europa nachgefragt. Betrachtet man Doderers Gesamtwerk, so finden sich darin immer wieder Figuren britischer Herkunft, an denen die genannten Umstände, sei es nun am Rande oder im Zentrum, dargestellt werden. Bereits in "Die Bresche" spielt Bobby Halms, ein englischer Diplomatensohn, eine für die Handlung wesentliche Rolle. Eher skurrile Aspekte des englischen Lebensstils spricht Doderer in zwei 1932 bzw. 1964 entstandenen Erzählungen an: die Spleens reicher Engländer in „Die Peinigung der Lederbeutelchen" und die seltsame Wirkung einer englischen Touristengruppe in "Tanz im 'Café Kratzki' oder Die Fülle der Halbstarken".
Im Unterschied zur Strudlhofstiege ist Großbritannien für "Die Dämonen" (1956) gleich in mehrfacher Hinsicht von Bedeutung: Die wirtschaftlichen Verhältnisse nach dem Ersten Weltkrieg bieten die erzählerische Grundlage für die Verschleppung einer für die Romanhandlung essentiellen Erbschaft, die Schwester einer zentralen Romanfigur arbeitet als Dienstmädchen in London, und London selbst dient Doderer wiederholt als Schauplatz für die Geschichte wichtiger Figuren.
"Faltige Pfeifen-Engländer" #
Auch „Die Merowinger“ (1962) weisen zahlreiche Bezüge zu Großbritannien auf: Drei seiner Brüder und der Sohn Childerichs III. von Bartenbruch, des Protagonisten des Romans, dienen bei der britischen Armee, die Firma Hulesch & Quenzel hat ihren Sitz in London; und einem Mr. Aldershot, einer „Erscheinung von jener Art, die Johannes Victor Jensen lange faltige Pfeifen-Engländer' genannt hat“, seines Zeichens Kapitän eines auf Langstrecken operierenden "Fracht-Dampfers", ist es gegeben, die Ultima Ratio dieses grotesken Romans auszusprechen: "Verzeihen Sie, Doctor, aber das ganze ist doch ein Mordsblödsinn."
Doderers letzter abgeschlossener Roman, "Die Wasserfälle von Slunj" (1963), spielt nicht nur zu großen Teilen im Kernland der Industriellen Revolution, er erzählt auch eine dazu passende Geschichte. Robert Clayton, Sohn des Inhabers der Landmaschinenfirma Clayton & Powers, baut ab 1877 deren Niederlassung in Wien auf und leitet sie fortan. Mit ihm, seiner Frau Harriet und dem gemeinsamen Sohn Donald gelangt viel britische Lebensart nach Wien, bis hin zu Sportarten wie Tennis, Cricket oder Golf. Die Art, wie Robert und Donald Clayton sich geben, ihr "Gepräge mit festem Wert", wirkt auf drei Gymnasiasten im Jahr 1910 "in weitgehender Weise verändernd, ja revolutionierend" und inspiriert diese zur Gründung des "Metternich-Clubs", dessen Ziel die Selbstausbildung seiner Mitglieder zu einem rechten Gentleman ist.
Doderers "Welt ist englisch". Dies mag daran gelegen haben, daß der American way of life erst nach 1945 exportiert wurde und die Kriegsgefangenschaft in Sibirien zwar den Autor, nicht jedoch seine Welt prägen konnte. In gewisser Weise verhält es sich ebenso mit Doderers Österreich, das, sieht man einmal vom weiteren Umland Wiens und der als Sommerfrische mental eingemeindeten Rax ab, am Ende doch stets ein wienerisches gewesen ist.
Der Autor ist Germanist in Berlin und Vorsitzender der Heimito von Doderer-Gesellschaft.