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Erzählkunst für Geduldige #

Vor 70 Jahren ist Heimito von Doderers Roman "Die Strudlhofstiege" erstmals erschienen.#


Von der Wiener Zeitung (17. Juli 2021) freundlicherweise zur Verfügung gestellt

Von

Stefan Winterstein


Heimito von Doderer, österr. Schriftsteller. Photographie. 1966.
Heimito von Doderer, österr. Schriftsteller. Photographie. 1966.
Foto: © Barbara Pflaum/Imagno

"Ein Werk der Erzählungskunst ist es um so mehr, je weniger man durch eine Inhaltsangabe davon eine Vorstellung geben kann."

So formulierte Heimito von Doderer 1966 sein poetologisches Credo zur epischen Kunst. Was Wunder, dass seine eigenen Romane nach diesem überraschenden und zugleich doch durchaus einleuchtenden Maß gut abschneiden.

Rampe zum Hauptwerk#

Den Gipfel Doderer’scher Erzählkunst bildete, daran gemessen, freilich nicht sein Opus magnum, die 1956 nach etwa 25-jähriger Werkgeschichte abgeschlossenen "Dämonen", sondern jener Großroman, den er stilisierend-abschätzig als "Rampe" dazu bezeichnete und der den Autor 1951 auf einen Schlag berühmt machte: "Die Strudlhofstiege oder Melzer und die Tiefe der Jahre", ein unangefochtener Zentraltext der heimischen Nachkriegsliteratur, der heuer also sein 70. Jubiläum zu feiern hat.

Dieses Buch, mit dem sich Doderer die (durch Exil und Tod) vakante Stelle als Galionsfigur der österreichischen Literatur sicherte, zeichnet sich nicht zuletzt durch genremäßige Vielgestaltigkeit aus. Die "Strudlhofstiege" ist vieles, und sie bietet mit über 900 Seiten ja auch viel Platz dafür: Gesellschaftsroman - über die Wiener Gesellschaft rund um den Ersten Weltkrieg -, Großstadtroman, Familienroman, Liebesroman, Entwicklungsroman.

Zudem gibt es da einen kleinen, etwas undurchsichtigen (und zugegebenermaßen völlig unaufregenden) Kriminalstrang, und sogar eine, rein äußerlich an der Kippe zur Unterhaltungsliteratur wandelnde Verwechslungskomödie (mit zwei feschen Damen, eineiigen Zwillingen!) wird geboten.

Die "Strudlhofstiege" ist ein komplexes, ein schwer einzuordnendes Buch. Dem eingangs zitierten Anspruch genügt sie allein schon, weil jeder Versuch einer Nacherzählung an der schieren Unzahl von Figuren scheitern müsste. Ihre Schicksale sind vielfach miteinander verwoben, wobei jede scheinbare Nebenfigur, die zunächst nur randständig in einer Episode auftaucht, später überraschend zum Mittelpunkt einer eigenen Episode mutieren kann. Der im Nebentitel genannte Major Melzer sollte der Konzeption nach lediglich als "Spagat" dienen, der das literarische Paket zusammenhält - der Autor hat ihm, um jeden Hauptrollenverdacht auszuräumen, partout einen Vornamen verweigert.

Vor allem aber passiert in diesem Roman nichts eigentlich Sensationelles, Außeralltägliches, eben: Nacherzählbares, es sei denn, man würde einen Straßenbahnunfall bereits als solches gelten lassen. Wie oft bei Doderer, erweist sich gerade das Nebensächliche als die Hauptsache.

Das vermeintliche Hauptereignis, der genannte Straßenbahnunfall, bei dem, am 21. September 1925, der verwitweten Mary K. das rechte, "sehr schöne" Bein über dem Knie abgefahren wird, wird im ersten Satz des Romans in Parenthese angekündigt, um schließlich auf Seite 843 zur Durchführung zu gelangen.

Viele Erzählfäden#

Gewiss, der Unfall ist tragisch, aber er bildet nicht das Eigentliche, und er wäre ja auch kaum als Rechtfertigung für 900 Seiten Prosa überzeugend: Es ist das buchstäblich minutiös organisierte Erzählarrangement, es ist das Zusammenlaufen der vielen Fäden an diesem Unfalltag (der gut als österreichischer Bloomsday zu begehen wäre), das die erzählerische Spannung ausmacht, es ist die Zwangsläufigkeit, in der das Unintendierte hier erreicht und das Intendierte allenthalben verfehlt wird, die Probleme sich vielfach von selbst lösen und die verschiedenen Charaktere unverhofft bei sich anzukommen scheinen.

An die Stelle der Handlung treten mehr die Beobachtung und Beschreibung, das Kommentieren, Abschweifen, Erinnern. Das Essayistische wiederum war Doderers Sache nicht. Über Robert Musils "Mann ohne Eigenschaften" urteilte er boshaft, dieses Buch bestehe "aus Randglossen zu einer nicht vorhandenen Substanz und sollte demnach - wäre es dem Sinne gemäß auch im Satzbild hergestellt - aus lauter leeren Seiten zusammengeheftet sein, deren Ränder mit Petit-Druck gefüllt sind".

Allerschönste Muster#

Würde man die "Strudlhofstiege" in ein entsprechendes Satzbild zu bringen versuchen, so wäre dieses dagegen vielleicht wie folgt vorzustellen: ein in wirr scheinender Anordnung bedrucktes Buch, dessen Optik zunächst kaum Regelmäßigkeiten erkennen lässt - mit fortschreitender Lektüre aber die allerschönsten Muster offenbart. Denn was scheinbar formlos anhebt, gehorcht in Wirklichkeit einem streng organisierten Formprinzip. Die "Strudlhofstiege" ist Erzählkunst für Geduldige, und die Geduld wird doppelt belohnt, indem ein tieferer Sinn dieser wunderschönen Prosa sich vielfach erst im Rückblick zeigt - es sind die Verschachtelungen der Handlung und die Querverbindungen des Personals, die den Roman entscheidend tragen.

So gehört zur Doderer’schen Finesse, dass es kontrapunktisch zum Tag des Unfalls auf dem Althanplatz einen vorgeordneten zweiten, kleineren Höhepunkt gibt, den sogenannten "Skandal auf der Strudlhofstiege" vom August 1911, ausgelöst durch einen gesellschaftlich ungehörigen Kuss im Badezimmer, im Rahmen einer "Garden-party" in einer Döblinger Villa: Auch dieser Skandal wird im Roman vorangekündigt (diesfalls um rund 200 Seiten), auch er wird vom Autor genauestens durchkomponiert, und auch hier laufen die Fäden einer ganzen Reihe von Figuren an einem Punkt zusammen - nur dass es hier um eine Trennung geht, während der Straßenbahnunfall als Initialzündung einer Liebesbeziehung dient (mehr sei nicht verraten).

In dem dichten Netz, das die Figurenschicksale bilden, ist letztlich auch der metaphysische Gehalt verborgen, den der Autor seinem Roman eingeschrieben hat. Dietrich Weber, der 1963 mit der ersten Dissertation über Doderer hervortrat, sprach zurecht von einer "Aura der Wohnlichkeit", und zwar einer "existentiell zu verstehenden Wohnlichkeit", die dessen Romane kennzeichne. In ihnen stehe niemand allein, und auch der Leser fühle sich "aufgehoben". Damit folgt Doderer seiner über die Lektüre des Thomas von Aquin gewonnenen philosophischen, ja letztlich religiösen Überzeugung von der Bejahbarkeit des Schöpfungsganzen - ein politisches Sedativum, wenn man es kritisch sehen will, ein Sedativ freilich auch für den Autor selbst. Nicht zufällig las Doderer den Scholastiker gerade zur Zeit seiner Ablösung vom Nationalsozialismus, Ende der 1930er Jahre.

Zur vollendeten atmosphärischen Harmonie trägt natürlich vor allem auch die Gestaltung des Raums bei: Der Germanist Wendelin Schmidt-Dengler hat einst empfohlen, hinsichtlich der Herausarbeitung der "Auren" einzelner Stadtteile diesen Roman auch als Baedeker zu lesen. Freilich sind es die eher unbeachteten Seiten der Großstadt abseits des Zentrums, wohin uns der Autor führt: etwa ein Doppelhaus in der Porzellangasse, das zur Romanentstehungszeit noch biedermeierliche Lichtentaler Viertel oder das mit Zierrat überladene Stiegenhaus eines historistischen Wohngebäudes auf dem Althanplatz.

Die "Strudlhofstiege" ist trotz alledem aber doch kein reiner Wienroman. Oft übersehen wird, dass gar nicht so geringe Mengen des Textes in Niederösterreich spielen. Und wer würde bei Doderers Schilderung der Schauplätze großbürgerlicher Sommerfrische bzw. sommerlichen Badevergnügens, des Raxgebietes und der Donauauen bei Kritzendorf und Greifenstein, nicht sehnsüchtig werden?

Zumal der Doderer’sche Sommer ein schier ewiger ist! Das Genre des Sommerromans mag ja nur in der Buchhändlersprache existieren, und doch wäre es weiter oben vielleicht an allererster Stelle anzuführen gewesen. Die Sommersonne scheint bei Doderer verlässlich auf jeder Buchseite, es herrschen ein "Indianer-Sommer, Bruthitze und Sonnenglast". Schwer, all den aufgebotenen Sommer-Ingredienzen nicht zu erliegen: der Feierlichkeit der "jedwede bewegte Einzelheit mit Gold grundierenden" Sommersonne einerseits, der angenehmen Trägheit in dem "grünen, aquarienhaften Unterwasser-Licht" hinter heruntergelassenen Jalousien andererseits, der Aussicht auf ein Konditoreitischchen, "überschwemmt von Eiscrème und Sachertorten mit Schlagobers", oder eben den Eindrücken eines Badetags in der Au als "unentbehrlichen Stufen und Tönungen eines Lebens-Akkords"...

Eine aktuelle Neuausgabe des Romans mit einem Vorwort von Daniel Kehlmann im Verlag C.H. Beck.
Eine aktuelle Neuausgabe des Romans mit einem Vorwort von Daniel Kehlmann im Verlag C.H. Beck.
Foto: © C.H. Beck

In der Schilderung von Alltagsdetails - den Abläufen an einem Taxistandplatz etwa, offenstehenden Haustüren, daraus die Kälte des Stiegenhauses strömt, oder der summenden Akustik einer dahinbrausenden Straßenbahn - erweist sich der Roman als formidable Schule der Wahrnehmung für den modernen Menschen. Der Autor macht die Lebenswelt des Alltags mit all seinen Dingen und Nichtdingen, all den kleinen Delektationen und Lektionen, Gesten, Tücken, Erwägungen fühl- und greifbar. Dies vor allem verleiht dem Text seine spezielle Atmosphäre - und zugleich seine wirkmächtige Suggestion, hier würden eine ganze Stadt, eine ganze Gesellschaft und ihre Zeit zu einer realistischen Darstellung gebracht.

Dahinter steckt nicht zuletzt ein hoher ideeller Anspruch Doderers, demzufolge nicht mehr länger Professoren "das Wesentliche unserer Tage aufzeichnen", sondern "die Romanliteratur". Für ihn, der selbst studierter Historiker war, findet Geschichte nicht auf der politischen Bühne, sondern im Kleinen statt, und für ihn ist es der Alltag, der die Kontinuität des Weltgeschehens gewährleistet und den die Literatur sichtbar machen muss. Alles jenseits davon, politische Weltentwürfe zumal, so will es das - nach zurückliegendem ideologischem Irrweg - strikt anti-ideologische Denken Doderers, sei im Grunde bloß Chimäre.

Die "Strudlhofstiege" ist eine Lektüre für einen langen Sommer, ein Roman für In-Wien-Gebliebene und für Wien-Liebhaber, egal wo. Nach den pandemischen Ausnahmezuständen der letzten Monate wird vieles von den genussvollen Alltagsschilderungen womöglich besonders intensive Leseeindrücke hinterlassen.

Über den Architekten der Stiegenanlage und sein Werk heißt es im Roman: "Der Meister der Stiegen hat ein Stückchen unserer millionenfachen Wege in der Großstadt herausgegriffen und uns gezeigt, was in jedem Meter davon steckt an Dignität und Dekor." Und damit hat Doderer, raffiniert, wie er war, vor allem sein eigenes Programm beschrieben.

Stefan Winterstein, geboren 1981, lebt als Literaturwissenschafter und Autor in Wien. Herausgeber u.a von "Die Strudlhofstiege. Biographie eines Schauplatzes" (Bibliophile Edition, Wien 2012).

Wiener Zeitung, 17. Juli 2021


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