Kunstsprache mit Weltgeltung #
Das Esperanto hat auch mehr als 150 Jahre nach der Geburt seines Erfinders Ludwik Lejzer Zamenhof nichts von seiner Vitalität eingebüßt. "Sur neutrala lingva fundamento / komprenante unu la alian / la popoloj faros en konsento / unu grandan rondon familian."#
Von der Wiener Zeitung (Samstag, 17. Juli 2010) freundlicherweise zur Verfügung gestellt.
Von
Wolfgang Bahr
Vor allem in der Reisezeit wird diese Vision Ludwig Lazar Zamenhofs von "Völkern, die auf der Grundlage einer neutralen Sprache einander verstehen und einmütig einen großen Familienkreis bilden", sichtbare Wirklichkeit. Denn dann strömen die Esperantisten weltweit zu Kongressen zusammen, auf denen sprachliche Barrieren bewusst überwunden werden.
Heuer reicht das Angebot von einer deutsch-französischen Begegnung in Kaiserslautern über einen "Nordorienta kongreso" im chinesischen Nanking bis zu einer "Ekotour" von Esperanto sprechenden Radfahrern und Wanderern in Südböhmen. In Wien trafen sich vom 10. bis 15. Juli 2010 blinde Esperantisten, und vom 17. bis 24. Juli findet in Havanna der 95. Esperanto-Weltkongress statt.
Die politische Neutralität der Universala Esperanto-Asocio als Veranstalterin der Weltkongresse ähnelt jener des Internationalen Olympischen Komitees – und ist ebenso umstritten. Einerseits ermöglichte sie diktatorischen Staaten, insbesondere im Ostblock, die Selbstverherrlichung, andererseits den geknebelten Untertanen die Kommunikation mit freien Ländern. Ein Nutznießer dieser einen Spalt breit geöffneten Tür war beispielsweise der kürzlich emeritierte tschechische Primas Kardinal Miloslav Vlk, der sich nicht zuletzt via Esperanto ein europaweites Kontaktnetz aufbauen konnte, das ihm nach der Wende von 1989 zugute kam.
Die Wurzeln#
Als Spracherfinder war Zamenhof Dilettant. Beispielsweise wählte er die verwendeten Phoneme nicht auf Grund einer weltweiten Analyse der wichtigsten Sprachen aus, sondern auf Grundlage seiner persönlichen Sprachkenntnisse und Alltagserfahrungen: Die Unterscheidung von stimmhaftem Z und stimmlosem S war ihm vom slawischen Ambiente her selbstverständlich, die reichliche Verwendung von Zwielauten wie aj lässt an das nahe litauische Sprachgebiet denken, und das einzige diakritische Zeichen, der Zirkumflex, erinnert an die seinerzeitige Dominanz des Französischen. In dem strengen Regelwerk von nur sechzehn Punkten schließlich mag des Schöpfers Schulung an Hebräisch, Latein, Griechisch und Deutsch Früchte getragen haben.
Doch der Augenarzt Zamenhof, der in Moskau und Warschau studierte, in Wien zwei Postgraduate-Kurse absolvierte und sich dann in Warschau niederließ, wo er auch 1917 sterben sollte, hatte offensichtlich einen scharfen Blick für das zu seiner Zeit Mögliche und Gewünschte. Hinzu kam eine Portion an polnisch-jüdischem Messianismus, die aber mit aufklärerischem Gedankengut gewürzt war. Angesichts eines Pogroms liebäugelte Zamenhof eine Zeitlang mit dem Zionismus, distanzierte sich aber schließlich von jeglicher Vorherrschaft einer Sprach- oder Religionsgemeinschaft in einem Staatsgebilde. Das ging so weit, dass er neutrale Staatsnamen forderte, wie sie Belgien, die Schweiz oder Österreich haben.
Letztlich sah sich Zamenhof als Philanthrop, dem die Propagierung seiner Philosophie des "Hilelismo" und "Homaranismo" zunehmend wichtiger wurde als jene des Esperanto, das er bloß als Mittel zum Zweck betrachtete. Andererseits war er zum Unterschied von den meisten anderen Spracherfindern klug genug, die Führung der Bewegung zurückzulegen, als der Druck vor allem französischer Laizisten zu groß wurde, die eine strikte Trennung von Sprache und Ideologie forderten und den Nutzen der Plansprache für Handel und Wirtschaft betonten.
Auf dem einzigen Weltkongress, der in Österreich-Ungarn stattfand (1912 in Krakau), zog sich Zamenhof völlig überraschend von der Bewegung zurück. Eigentlich wollte man das Silberjubiläum der Sprache feiern und das lokale Kongresskomitee wollte das erstarkende Selbstbewusstsein der polnischen Nation zum Ausdruck bringen, was beides im damals russischen Warschau nicht möglich gewesen wäre. Doch Zamenhof erklärte seine Eröffnungsrede zu seiner letzten und wollte nur mehr als einfaches Mitglied der Bewegung an Kongressen teilnehmen.
Vorangegangen waren dieser Entscheidung heftige Auseinandersetzungen um die sprachliche Gestalt des Esperanto. Es waren ebenfalls vor allem Franzosen, die das in ihren Augen zu wenig logische Esperanto reformieren wollten. Dass sich aber letztlich nicht das von den Reformatoren propagierte "Ido" durchgesetzt hat, sondern das "Esperanto", war wesentlich der Persönlichkeit Lazar Ludwig Zamenhofs zu verdanken, die in seltenem Maß Führungsstärke und Demut sowie Klugheit und Herzenswärme in sich vereinte.
Trennungslinien#
Im alten Österreich hat die Esperanto-Bewegung nicht in dem Maß Fuß gefasst, wie man das hätte erwarten können; das lag daran, dass sie stattdessen sozusagen Füße gefasst hat. Denn es ist nie gelungen, auch inhaltlich eine gemeinsame Sprache zu finden. Die Nationalitäten marschierten getrennt, wobei das Königreich Ungarn überhaupt eigene Wege ging. In der westlichen Reichshälfte wiederum artete die Entwicklung in einen Zweikampf von Tschechen und Deutschen aus, wobei beide Sprachgruppen auch in sich uneins waren. Bei den Tschechen dominierten die nationalbewussten Kräfte, die von einer übergeordneten Reichsorganisation nichts wissen und die noch austrophilen Tschechen erst gar nicht zu Wort kommen lassen wollten. Bei den Deutschen war die Trennungslinie auf der Landkarte nachzuvollziehen: Es dominierten bis zum Zusammenbruch von 1918 die eher nach Dresden als nach Wien orientierten Deutschböhmen, während in der Reichshauptstadt die kaisertreuen Kräfte die Oberhand behielten.
Groteskerweise blühte die Esperantobewegung im Donauraum just nach dessen Zerstückelung auf. War sie bisher überwiegend eine Sache des Bürgertums gewesen, so meldete sich jetzt auch die Arbeiterschaft zu Wort. Ihr wichtigster Vertreter war Franz Jonas, der Redakteur des "Socialisto", der sich auch als österreichischer Bundespräsident (1965 bis 1974) zu der Sprache bekannt und den Esperanto-Weltkongress in Wien 1970 mit einer Esperanto-Ansprache eröffnet hat, in der er den Esperantisten einschärfte, der eigenen Kraft zu vertrauen: "Fidu la propran forton." Auch Adolf Schärf, der Vorgänger von Jonas, sowie der derzeitige Amtsinhaber Heinz Fischer sind mit der Esperanto-Bewegung in Berührung gekommen, ohne freilich Aktivisten zu werden.
Ein wenig bekanntes Kapitel ist die Rolle der Esperanto-Bewegung im Ständestaat der Jahre 1934 bis 1938. Während der Nationalsozialismus, und in subtilerer Form auch der Stalinismus, die Esperanto-Bewegung bekämpften, stellte sie der Austrofaschismus in seinen Dienst und holte 1935 sogar den Esperanto-Weltkongress nach Wien. Zentrale Persönlichkeit bei diesen Unternehmungen war Hugo Steiner, der direkten Zugang zur Parteispitze der "Christlichsozialen Partei" und später der "Vaterländischen Front" hatte. Schon 1927 hatte Steiner die Gründung eines Esperantomuseums erreicht, das 1929 in die Österreichische Nationalbibliothek eingegliedert wurde. Nach der Sperre durch die Nationalsozialisten wurde das Museum 1947 wieder eröffnet.
Neue Räume#
Herbert Mayer, seit 1985 Direktor dieser größten Plansprachensammlung der Welt, hat 2005 die Übersiedlung von Sammlung und Museum in neue Räume geleitet. Fristete man bis dahin hoch oben im Dachgeschoß des Michaelertrakts der Wiener Hofburg ein eher unbeachtetes Dasein, und zeugte das "Panteono" unter der kleinen rechten Kuppel vom Pathos der alten Esperanto-Bewegung, so erfreut man sich nun im nahe gelegenen Palais Mollard in der Herrengasse eines barrierefreien Zugangs im Erdgeschoß und optimaler Bedingungen für Speicherung, Präsentation und Forschung.
"Esperanto wird es auch in Zukunft geben", sagt Mayer, denn die "Lust an Sprache und Kontakten" sei nicht geringer geworden, ein nicht unerheblicher Teil der Esperantisten nehme auch das ursprüngliche Anliegen weiterhin sehr ernst. Mayer verweist dabei auf seinen Mitarbeiter Bernhard Tuider, dessen Diplomarbeit über den Pazifisten, Friedensnobelpreisträger und Esperantisten Alfred Fried im Internet nachzulesen ist. Und wenn man Glück hat, trifft man im kleinen Esperanto-Lesesaal Otto Back an, den Doyen der österreichischen Interlinguistik.
Einen "positiven, aber neutralen Zugang" zum Esperanto und zu den Plansprachen insgesamt möchte das kleine, aber dank vielfältiger Interaktionsmöglichkeiten zu einer längeren Verweildauer durchaus einladende neue Museum bieten. Die Tondokumente reichen von einer Originalaufnahme Zamenhofs bis zum Klingonisch der Fernsehreihe "Star Trek", und was man hier nicht findet, findet man im Internet: Die Esperanto-Wikipedia nimmt mit 120.000 Stichwörtern unter den Sprachen dieser Erde den beachtlichen 21. und mit 160.000 Zugriffen täglich einen nicht minder beachtlichen 33. Platz ein.
Wolfgang Bahr geb. 1950, ist Publizist in Wien und hat über die "Geschichte der österreichischen Esperantobewegung von den Anfängen bis 1918" dissertiert.