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„Wie ein gerupfter Geier“ #

In Heimito von Doderers „Die Dämonen“ personifiziert der mörderische Dunkelmann Meisgeier das absolut Böse. Doch noch weit dämonischer wirken die „Halbbösen“.#

Mit freundlicher Genehmigung übernommen aus: DIE FURCHE (Donnerstag, 5. Dezember 2013)

Von

Gerald Sommer


15. Juli 1927 vor dem Justizpalast. Der 1956 erschienene Roman Heimito von Doderers (1896–1966) behandelt die letzten Wochen vor dem Justizpalastbrand in Wien 1927 und..., Foto: IMAGNO / ÖNB
15. Juli 1927 vor dem Justizpalast. Der 1956 erschienene Roman Heimito von Doderers (1896–1966) behandelt die letzten Wochen vor dem Justizpalastbrand in Wien 1927 und...
Foto: IMAGNO / ÖNB

Eigentlich beginnt dieser Roman viel zu harmlos – mit einem Blick in das Atelier des Erzählers. Der Horror, den der Titel Die Dämonen in Aussicht stellt, wird sich – man ahnt es – so bald nicht zeigen. Nur einmal blitzt er eingangs kurz auf: „Furchtbares hat sich begeben (…) in dieser Stadt“ und „eines Namens wurde würdig, wahrhaft eines schrecklichen, was bei währenden Begebenheiten hier noch ungestalt lag und wie keimweis gefaltet beisammen: aber es trat hervor, und bluttriefend, und jetzt auch dem Auge (…) in seinen Anfängen kenntlich“.

Arnolt Bronnen, dem solcherlei Geraune wohl allzu dezent war, hat Die Dämonen in seiner Besprechung folglich zu „Dämontscherln“ verniedlicht und dabei verkannt, dass es dem Autor eben auch darum zu tun war, vor zwar gebannten, aber immer aufs Neue drohenden Gefahren zu warnen.

Der Schrecken in Die Dämonen bleibt daher zunächst im Hintergrund und einstweilen auch anonym. Erstmals in Erscheinung tritt er im Rahmen einer Anekdote: Der Zoologe Dwight Williams erzählt von einem „kleinen Kerl aus Wien“, der „wie ein nackthalsiger Geier“ ausgesehen und bei einem Wirtshausstreit mit einer Handvoll starker Bauernburschen angebunden, aber infolge seiner hemmungslosen und „vollends abgefeimten Roheit“ obsiegt habe. Nach weiteren rund 300 Seiten erwähnt der Zeitungsredakteur Holder eine Fotografie, welche die Alsergründler Bedienung Anna Diwald mit einem „schrecklichen kleinen Mannsbild“ zeige, das „wie ein böser gerupfter Geier“ ausgesehen habe. Der Horror rückt unaufhaltsam näher, örtlich, aber auch in der Art seiner erzählerischen Gestaltung: Ein „Unveröffentlichtes“ ist quasi zur Nachricht geworden und wird nach abermals 236 Seiten Teil der Handlung, als Anny Gräven einem Freier erzählt, dass „Meisgeier“ (der „Geierschnabel“) heute in ihrem Lokal Ärger gemacht habe.

Bald darauf beobachtet sie, wie Meisgeier zu nächtlicher Stunde in der Manier eines Fassadenkletterers „mit geradezu leichten und fast anmutigen Bewegungen“ vier Stockwerke überwindet: „Da Schauspiel nahm der Anny den Atem. Es war eine vollends unglaubliche Darbietung der Kraft, Gewandtheit und des Mutes“. Er dringt durch ein offenes Fenster in die Wohnung der Prostituierten Hertha Plankl ein, verlässt diese aber kaum 15 Sekunden später und begibt sich, einer „zuckenden Spinne“ gleich, nach unten. Am nächsten Morgen betritt Anny die Wohnung und findet Hertha erstochen, aber kein Anzeichen eines Raubmords: „Jetzt erst begriff sie, was sich hier abgespielt hatte. Das Fehlen des Ringes, des Paketchens mit dem Bruchgold (...) hätte das Ganze um vieles weniger furchtbar erscheinen lassen: so aber war es der nackte Schrecken; ein Schrecken höherer Art, möchte man fast sagen: glatte Vergeltung; statuiertes Exempel; Drohung; Macht; Terror.“

15. Juli 1927 vor dem Justizpalast
...schildert den Aufschwung radikalpolitischer Kräfte. 15. Juli 1927 vor dem Justizpalast
Foto: IMAGNO / ÖNB

Der Böse und die Halbbösen #

Derart klar zeigt sich das Dämonische freilich nur in Meisgeier, dem Berufsverbrecher, den man als das personifizierte Böse in Doderers Roman bezeichnen könnte. Adelige und Bürger, die im Zwielicht agieren, treten hingegen dezent auf: Sie handeln weder offen verbrecherisch noch ist ihr Benehmen unzivilisiert, mögen sie da auch ein Testament unterschlagen, Industriegüter verschieben oder einem Versicherungsbetrug Vorschub leisten. Mitgliedern (prä-)faschistischer Organisationen wie der Frontkämpfervereinigung Deutsch-Österreichs oder der Erwachenden Ungarns kann man in Die Dämonen indes leicht anmerken, wie sie sich – einmal an die Macht gekommen – verhalten werden: Exzessive „Notwehr“, Folter und Mord im eigenen Interesse werden in diesen Kreisen wie selbstverständlich als legitim angesehen, auch wenn man sich als Aristokrat oder Bourgeois pro forma gesetzestreu gibt.

Doderers Roman würde gleichwohl unterschätzt, ja verharmlost, wenn man in ihm nur die kenntlichen dämonischen Mächte als schädliche Elemente am Werke sähe, das Verhalten der gesellschaftlichen Eliten aber außer Acht ließe. Deren Repräsentanten, die zum Ende des Romans so standesgemäß wie zweckdienlich miteinander verheiratet werden, eignet keine offensichtliche Dämonie. Angesichts der mit dem Justizpalastbrand am 15. Juli 1927 zu Tage getretenen fundamentalen Krise der Ersten Republik erweisen sie sich jedoch als buchstäblich von allen guten Geistern verlassen. Die Eliten fliehen bei drohender Gefahr aus der politischen Verantwortung für ein Staatswesen, dessen Verfassung doch ganz wesentlich nach ihren bürgerlich-liberalen Werten und Vorstellungen gestaltet wurde und verfolgen stattdessen nur mehr ihre Einzel- oder Gruppeninteressen.

Nur eine einzige Figur im Roman, die Witwe Anna Kapsreiter im Haus „Zum blauen Einhorn“, erkennt, dass um sie herum Schreckliches sich anbahnt. In ihren Träumen, die sie in ein „Nachtbuch“ notiert, bemerkt sie Präsenz und Wirken dämonischer Kräfte. Machtloser noch als eine blinde Seherin erahnt sie träumend die Schüsse von Schattendorf und den Tod ihres Neffen Pepi Grössing, den Brand des Justizpalastes und auch ein Ereignis, das Meisgeier an jenem Tag das Leben kostet.

Dieser hat, begleitet von Anna Diwald, auf Höhe der Brigittabrücke durch den „Überfall- und Regenauslauf der unterirdisch strömenden Als“ die Wiener Kanalisation betreten und ist bis zum Schmerlingplatz vorgedrungen. Vor dem brennenden Justizpalast sind die Kämpfe zwischen Polizei und Demonstranten in vollem Gange. Meisgeier steigt in einem Schacht nach oben bis zum Kanalgitter, über das die Polizisten in geschlossenen Rotten und mit Karabinern im Anschlag hinwegmarschieren. Mit einer als Fußangel dienenden Stahlrute bringt er nacheinander drei der ihm verhassten Polizisten zu Fall. „Unmittelbar danach“ kommt ein Polizei- Offizier, der dies bemerkt hat, hinzu und stößt „den Lauf seiner Pistole in das Gitter des Schachtes. Er feuerte ein halbes Dutzend Mal hinab.“ Meisgeier und Diwald werden getötet, doch erweisen sie sich letztlich nur als Vorhut jener Dämonen, die in den Jahren danach ans Licht drangen und nicht nur Individuen, sondern ganze Staaten zu Fall brachten.

Doderer- Spezialist Gerald Sommer ist Germanist und Vorsitzender der Heimito von Doderer- Gesellschaft. Er veröffentlichte Monographien, Sammelbände und zahlreiche Aufsätze zum Werk des österreichischen Autors.

DIE FURCHE, Donnerstag, 5. Dezember 2013