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Der König von Zion#

Wie aus einem Reisefeuilletonisten und Lustspielschreiber der Begründer der zionistischen Bewegung wurde. Theodor Herzl – zum 150. Geburtstag.#


Freundlicherweise zur Verfügung gestellt von: Die Presse (Donnerstag, 29. April 2010)

Von

Günther Haller


Theodor Herzl
Theodor Herzl
© Foto: APA

Auf schön bedruckten Karten laden „Herr und Frau Jacob Herzl“ für den 3. Mai 1873 zur „Confirmation“ ihres 13-jährigen Sohnes Theodor in die Budapester Neue Synagoge ein. Die Einladungen verraten uns viel über die jüdisch-ungarische Familie Herzl: Papier und Druck sind elegant und teuer, die Familie ist wohlhabend; sie bevorzugt die deutsche Sprache, nennt ihren Sohn Theodor, nicht ungarisch Tivadar und nicht mit seinem hebräischen Namen; sie lädt nicht ein zur Bar Mizwa, die ja gemeint ist, sondern in Nachahmung des christlichen Ritus zur Konfirmation. Die Familie lebt also nicht in streng religiösen Gebräuchen, die Synagogenbesuche sind Elemente einer entleerten Kulturtradition geworden. Für Theodor Herzl endet wie für viele seiner Zeitgenossen aus dem modernen Judentum mit der Bar Mizwa die Beschäftigung mit dem religiösen Erbe, nur wenige lesen danach noch Thora-Texte oder betreten eine Synagoge.

Wer nicht religiös ist, fühlt sich nur mehr lose an das Judentum gebunden. Mit der Aufhebung der diskriminierenden Gesetze 1867 beginnt auch das durch Unterdrückung erzwungene Verbundenheitsgefühl bei den mehr als zwei Millionen Juden der Habsburgermonarchie zu schwinden. An seine Stelle treten in der Oberschicht Werte wie Bildungsorientierung, Modernisierung, Säkularisierung und Anpassung an weltliche und nicht jüdische Lebensstile, Anerkennung als gute Bürger eben. – Knapp vor seiner Matura 1878 übersiedeln Theodor Herzls Eltern nach Wien. Antijüdischer magyarischer Nationalismus, die Wirtschaftskrise und vor allem der Tod der 18-jährigen Tochter Pauline haben die Familie vorübergehend schwer erschüttert. An der Rechtsfakultät der Wiener Universität entwickelt Theodor Herzl eine deutschnationale Identität und tritt einer schlagenden Studentenverbindung bei. Die antisemitischen Strömungen in der Burschenschaft bezieht er nicht auf sich: Ein in die deutsche Kultur integrierter Jude werde überall akzeptiert. Doch in Wien ändert sich in diesen Jahren einiges. Georg von Schönerer propagiert in seiner antisemitischen Wahlkampagne 1882:„In der Rasse liegt die Schweinerei.“ Herzl spricht erstmals von der Last des „Semitismus“ auf seinen Schultern und bricht mit dem Deutschnationalismus seiner Studentenzeit. Tief getroffen wird er von der Rassenlehre in Eugen Dührings Buch „Die Judenfrage als Rassen-, Sitten- und Kulturfrage“. Das „infame Buch“ (Herzl) ist nicht einfach ein judenfeindliches Pamphlet wie gewohnt, sondern die mit rassischen Argumenten unterlegte Verneinung der Integrierbarkeit von Juden in die deutsche Gesellschaft. Der Antisemitismus nistet sich fortan bei den verschiedenen Volksgruppen der Monarchie ein, ein Dauerdiskurs über Ausgrenzung und Fremd-Kategorisierung macht das Zusammenleben zwischen jüdischer und nicht jüdischer Bevölkerung nur schwer erträglich.

Herzl promoviert, aber eine juristische Karriere im Beamtenapparat ist ihm als Jude verwehrt, Anwalt will er nicht werden. Er heiratet Julie Naschauer, hat mit ihr drei Kinder, aber die Ehe steht nicht zuletzt wegen seiner starken Bindung an die Mutter unter keinem guten Stern. Er beginnt eine literarische Karriere als Dramatiker und freiberuflicher Autor und Journalist, will anscheinend von der Schriftstellerei leben: wohl die „jüdischste“ Karriere, die er in Wien um 1890 einschlagen kann, doch zunächst mit wenig Aussichten auf Erfolg. Die Theater lehnen seine Stücke ab, nur wenige Zeitungen drucken seine Feuilletons: Erst allmählich finden seine leichten, eleganten und ironischen Plaudereien in der Tradition Heinrich Heines und der französischen Publizistik Anklang.

So gelangt er erst als 31-Jähriger an das Ziel seiner Wünsche: Die angesehenste Wiener Tageszeitung, die „Neue Freie Presse“, sucht einen Auslandskorrespondenten in Paris, Herzl sagt sofort freudig zu, er braucht die Fixanstellung dringend, zugleich hat sich Frustration und Bitterkeit über die Wiener Umgebung in ihm breitgemacht. Paris ist Flucht aus einer Identitätskrise: Er lebt ein Leben in einem überwiegend jüdischen kulturellen Milieu, mit jüdischen Freunden und einer typisch jüdischen Literatenkarriere; zugleich ist er voll Verachtung für alle kulturell weniger angepassten Juden, entwickelt eine zunehmende Abneigung gegen seine jüdische Frau und versucht, die jüdischen Komponenten in seinem Leben zu ignorieren. Er kann die Tatsache seiner jüdischen Herkunft nicht abschütteln und will sich nicht zu ihr bekennen.

Der Literat, der sich bis dahin wenig um Politik gekümmert hat, verfolgt nun die französischen Parlamentsdebatten, er liefert scharfe Analysen der von Korruption und Radikalismen fiebergeschüttelten französischen Republik. Den französischen Antisemitismus hält er zunächst für eine Modetorheit, ein „Stelldichein der Unzufriedenen“, denn „die Juden eignen sich von alters her vortrefflich dazu, für Fehler und Missbräuche der Regierungen, für Unbehagen und Elend Regierter, für Pest, Misswuchs, Hungersnot, öffentliche Korruption und Verarmung verantwortlich gemacht zu werden“. So gelassen-ironisch kann das nur einer kommentieren, der persönlich eben nicht vom Antisemitismus betroffen ist und in der Pariser Literatengesellschaft ohne persönliche Demütigungen als „akzeptierter Jude“ ein und aus geht.

Im Jänner 1895 berichtet er als Augenzeuge von der Verurteilung und Degradierung des wegen Hochverrats angeklagten jüdischen Hauptmanns Alfred Dreyfus. Der Fall erregt ganz Europa und führt zu innenpolitischen Erschütterungen in der französischen Republik. Niemand kennt damals noch die Wahrheit, die erst Jahre später enthüllt wird, nämlich dass das Urteil auf gefälschten Dokumenten beruht und Beweismittel unterdrückt werden. Doch die Begleitumstände des Prozesses, der eindrucksvolle Auftritt des angeklagten Hauptmanns, der seine Unschuld beteuert, die klassische antijüdische Diffamierung als Verräter, die antisemitischen Straßenkrawalle in Paris – dies alles irritiert und verstört Herzl zunehmend. Der Wutschrei der Pariser Menge bei der entwürdigenden Zeremonie der Degradierung, „A mort! A mort les juifs!“, gellt in seinen Ohren. Doch ist der Fall Dreyfus wirklich – wie von Herzl später behauptet – der Anlass, dass aus dem Reisefeuilletonisten und Lustspielschreiber der Begründer der zionistischen Bewegung wird? Es wird heute recht einhellig bezweifelt. Zum Zeitpunkt des Prozesses ist die Unschuld des Angeklagten nicht erwiesen. Zugleich erwähnt Herzl im wenige Monate danach begonnenen Tagebuch, in dem er seine „Bekehrung“ zum Zionismus schildert, den Dreyfus-Prozess gar nicht. Am 9. September 1899 kommentiert er den endgültigen Prozessausgang – Dreyfus wird entgegen der Beweislage neuerlich verurteilt – folgendermaßen: „Es wurde nämlich entdeckt, dass einem Juden Gerechtigkeit verweigert werden kann, aus keinem anderen Grunde, als weil er Jude ist.“ Zu diesem Zeitpunkt ist sein zionistisches Gedankengebäude aber schon fertig.

Herzl hat hier selbst mitgeholfen an einer Konstruktion post festum. Zweifellos ist in Paris seine Besorgnis über die Judenfrage allmählich gewachsen. Beleidigungen und Demütigungen der Gesamtheit bezieht er immer stärker auf sich. Im Gegensatz zum rüpelhaft-krawalligen Antisemitismus in Wien stößt er hier auf einen ihm bis dahin unbekannten theoretischen Überbau, pseudowissenschaftliche sozialdarwinistische Publikationen gelangen in Frankreich zu Bestsellerehren und lassen die Judendebatten im österreichischen Abgeordnetenhaus reichlich antiquiert erscheinen. Herzl gelangt zu der Prognose, dass das, was in Frankreich geschieht, zeitverzögert auch in Österreich eintreten werde: „In Österreich kann nämlich die Gasse alles durchsetzen, wenn sie aufbegehrt. Nur weiß es die Gasse noch nicht. Die Führer werden es ihr schon beibringen.“ So kann sein sich obsessiv entwickelndes Gedankengebäude zur Lösung des Judenproblems wohl am ehesten als dialektisches Ergebnis seiner persönlichen Wiener Erfahrung mit dem Antisemitismus und seiner Beobachtung der Pariser Politik betrachtet werden.

Es steht jedenfalls außer Zweifel, dass Herzls vierjähriger Aufenthalt in Paris einen wichtigen Abschnitt in seiner Entwicklung zum Zionismus markiert. Ab nun will er sich in seiner publizistischen Tätigkeit mit der antisemitischen Bewegung auseinandersetzen. Es gibt jetzt kein Loskommen von der Judenfrage mehr. Mit immer neuen Ideen versucht er, den Platz der Juden in der westlichen Gesellschaft neu zu überdenken. Er erkennt die Falle, in die die Juden Österreich-Ungarns geraten sind: Die Mehrzahl der emanzipationshungrigen Juden ist irgendwo in einem Zwischenstadium in bitterer Heimatlosigkeit stecken geblieben. Durch die konsequent betriebene Assimilation sind sie im ursprünglichen jüdischen Boden nicht mehr verwurzelt, zugleich sind die Versprechungen der Emanzipation leer geblieben, in vielen Berufen und den meisten Parteien sind sie nicht willkommen. „Der Fluch haftet. Wir kommen nicht aus dem Ghetto heraus.“ Wie in Trance schreibt er nach dieser Erkenntnis im Oktober 1894 binnen 17 Tagen sein bedeutendstes Theaterstück, „Das neue Ghetto“. Das Stück bedeutet Herzls Abschied von seinem Assimilationstraum, seinen Bruch mit der Idee, dass die Juden in die europäische Gesellschaft integriert werden könnten. Die „Wesensfremdheit“der Juden, die Ursache für die Ressentiments in ihren Gastländern, sei nicht charakterlich, sondern geschichtlich bedingt. Das Wien dieses Theaterstücks ist bevölkert von einer antisemitischen Bevölkerung einerseits und oberflächlichen, materialistischen und degenerierten Juden andererseits. Arthur Schnitzler, der diese düstere Atmosphäre in dem Stück kritisiert, erhält von Herzl eine schroffe Antwort: Er will keine Verteidigung oder Rettung der Juden, sondern einem Volk von Antisemiten zeigen, wie angespannt die Situation sei.

Seine Zeitung ist ihm dabei keine große Hilfe. Die Herausgeber der NFP, Moriz Benedikt und Eduard Bacher, halten nicht viel von den heiklen Ideen, die ihr Starjournalist nach Wien mitbringt, als er im Sommer 1895 vom Pariser Korrespondentenposten in die Wiener Feuilletonredaktion in der Fichtegasse wechselt. Sie verweigern ihm definitiv jede publizistische Unterstützung, Herzl ist von dieser Verdrängungs- und Verleugnungsstrategie tief enttäuscht. Die in ganz Europa angesehene Zeitung wäre wichtig für ihn, das Judenproblem öffentlich zur Diskussion zu stellen. Doch Herzl scheitert in diesem entscheidenden Jahr auch mit seinen anderen Initiativen. Der reiche Eisenbahnmagnat und jüdische Philanthrop Baron Hirsch hört sich in seinem Pariser Stadtpalais die fahrig vorgetragenen Ideen des Wiener Journalisten zur Lösung der Judenfrage an, er hat auch Sympathie für die Idee, dem jüdischen Volk ein politisches Zentrum zu geben, seine Auswanderung – egal wohin – durch eine Anleihe zu finanzieren, die jüdischen Massen durch Schulung ganz neu zu erziehen – interessante Fantasien, aber unrealisierbar. Doch dieser Pfingsttag, der 3. Juni 1895, ist wichtig. Zum ersten Mal teilt Herzl einem fremden Menschen die Umrisse seiner neuen Judenpolitik mit. Zugleich beginnt er ein Tagebuch mit der berühmt gewordenen Einleitung: „Ich arbeite seit einiger Zeit an einem Werk, das von unendlicher Größe ist.“ – Jetzt beginnen die Ideen in ihm zu wachsen, in fiebriger Besessenheit: „Ich habe in diesen Tagen befürchtet, irrsinnig zu werden. So jagten die Gedankenzüge erschütternd durch meine Seele. Ein ganzes Leben wird nicht ausreichen, alles auszuführen.“ In einem langen „Brief“ an die Familie Rothschild wird sein neues Selbstbewusstsein erkennbar: „Ich habe die Lösung der Judenfrage... Ich habe die Lösung gefunden, und sie gehört nicht mehr mir. Sie gehört der Welt.“ Erstmals formuliert er jetzt durchdachter und klarer; in einer Auflage von 3000 Exemplaren erscheint am 14. Februar 1896 in Wien sein Buch „Der Judenstaat. Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage“.

Die Hauptprovokation des Buches steckt in dem Satz „Wir sind ein Volk, ein Volk“, mit dem er – nicht zuletzt als Ergebnis eigener schmerzlicher Identitätskrise – ein Jahrhundert jüdische Emanzipationsbestrebung infrage stellt und die Judenfrage als nationales Problem begreift. Er verwirft sein früheres ganz persönliches Lebenskonzept – die vollständige Assimilation und devote Integration in die nicht jüdische Umwelt. Man bleibt Jude, egal ob man die Synagoge besucht oder areligiös lebt, nicht die Religion vereine das jüdische Volk, sondern die gemeinsame Abstammung, das gemeinsame Geschlecht, der gemeinsame Feind. Seine neue, freiere und radikalere Sicht auf die Lösung des Judenproblems habe er den Antisemiten zu verdanken, folgerichtig nennt er sie im Tagebuch „unsere verlässlichsten Freunde“. Ohne Burschenschaften, ohne Lueger, ohne Dreyfus-Prozess gäbe es den Zionisten Herzl nicht.

Von nun an ist Herzl Politiker, aus dem Traum, der Fantasie, der Utopie wird ein„tagheller“, mit Hilfe der Massen umsetzbarer Plan. Sein zionistisches Konzept, die Wiederherstellung einer jüdischen Nation, die Staatsgründung, ist natürlich nicht zu trennen von den zeitgemäßen Ideen des Nationalstolzes und Nationalbewusstseins. Die Judenstaat-Idee wird von ihm weitgehend intuitiv entwickelt, seine zionistischen Vorgänger hat er kaum gekannt. Für ihn ist der jüdische Nationalstaat der praktischeWeg zur Rettung der Juden aus ihrer gefährlichen Situation als Parias in antisemitischen Gesellschaften. Erst durch eine radikale geografische Trennung könnten die Juden die Last der Geschichte abwerfen und zu den übrigen Nationen eine von Selbstachtung getragene normale Beziehung entwickeln. Nur der eigene jüdische Nationalstaat erlaube es ihnen, die „Pflichten der Freiheit“ zu erlernen. Herzl entwickelt hier eine Modellgesellschaft für die Menschheit, sein Zionismus geht weit über eine politische Lösung hinaus, wird zu einem ethischen Konzept. Ohne angewiesen zu sein auf seelenzerstörerische Karrieren als Börsianer und Makler, sei es möglich, fortschrittliche soziale Ideen zu verwirklichen und Musterbürger eines Musterstaats zu werden, der das übernommene westliche Toleranzprinzip verwirklicht. Doch auch an organisatorischer Durchdachtheit sind Herzls Vorstellungen seinen Vorgängern überlegen. Voraussetzung für ihn ist die rechtliche Anerkennung des jüdischen Nationalstaates durch die internationale Gemeinschaft. Durch seine ständigen Vorsprachen bei europäischen Fürstenhöfen und diplomatischen Kreisen macht er im Alleingang den Zionismus zu einem Begriff der internationalen Politik.

Mit dem ersten Zionistischen Kongress 1897 in Basel gelingt ihm die Schaffung einer jüdischen Nationalversammlung, mit dem Wochenmagazin „Die Welt“ gründet er ein zionistisches Presseorgan, dazu kommt eine Bank als Finanzierungsinstrument, alles sehr fragile Einrichtungen, doch Herzl erweist sich als politisches Talent, er setzt auf die Macht der Symbole und Gefühle: „Ich hetzte die Leute allmählich in eine Staatsstimmung hinein.“ Er macht die Erfahrung, dass er stärker auf Massen als auf Einzelne wirkt, daher hält er unzählige Reden vor Vereinen, beruft insgesamt sechs Zionistenkongresse ein, fährt nach Osteuropa – zu den Ostjuden gewinnt er eine starke Beziehung – und reibt sich auf in der Agitation und Kleinarbeit zur Schaffung einer internationalen Volksbewegung.

In seinem „Judenstaat“ ist Herzl noch nicht auf ein spezifisches Territorium fixiert, der religiöse Zionsgedanke, der allein auf Palästina hinzielt, spielt bei ihm zunächst keine große Rolle, er hältauch Kolonien in Südamerika oder Afrika für möglich. Doch er erkennt bald, dass vor allem für die Juden Osteuropas nur Palästina der „gewaltig ergreifende Sammelruf“ ist: „Palästina ist das einzige Land, wo unser Volk zur Ruhe kommen kann.“ Hier wird aber zugleich die Schwäche von Herzls Zionismus deutlich: Er weiß keine saubere Lösung für die in Palästina lebende arabische Bevölkerung. In seiner fiktiven Staatsutopie „Altneuland“ zeichnet er naiv und kolonialistisch zugleich die Araber als begeisterte Mitglieder der neuen Gesellschaft: „Die Juden haben uns bereichert. Warum sollen wir ihnen zürnen? Sie leben mit uns wie Brüder. Warum sollten wir sie nicht lieben?“

Herzls Zionismus bietet den Juden eine alternative Identität, sie wird allerdings teilweise vehement abgelehnt. Die intellektuellen jüdischen Kreise Wiens zeigen sich befremdet, Herzl stört die Vogel-Strauß-Politik seiner Gesellschaftsschicht, die sich weigert, ihr eigenes Problem als Juden zu erkennen. Er wird als Don Quichotte mit Hohn und Spott übergossen. Herzl zwingt dazu, sich zu deklarieren, für oder gegen den Zionismus, den er verkörpert. Für die Orthodoxen, die auf Gottes Eingreifen warten, ist die Gründung eines jüdisch-nationalen Staates eine Blasphemie, die den messianischen Verheißungen des Judentums widerspricht.

Doch auch innerhalb der zionistischen Bewegung tut sich eine Kluft auf, die schließlich zur Spaltung führt. Der politische Zionismus Herzls und seiner vor allem west- und mitteleuropäischen Anhänger wird nicht von der Idee jüdischer Kultur und Identität angetrieben, sondern dient dazu, das jüdische Elend in der Welt zu bekämpfen und eine Modellgesellschaft zu entwickeln, die auf der Grundlage der liberalen Reformtradition Europas ein Jahrtausend reiner Menschlichkeit einläuten soll. Die Kulturzionisten Osteuropas sehen die Rückgewinnung Palästinas als geistiges Zentrum, eine Tradition, die Herzl nur akzeptieren will, wenn sie der Modernität nicht im Wege steht. Zwei praktisch unversöhnbare Positionen – damals wie heute.

In seinen letzten Lebensjahren bürdet sich Herzl zu viele Strapazen auf. Er hat Misserfolge zu verkraften: Vorsprachen bei der Hohen Pforte, einen (Vasallen-)Staat unter türkischer Oberhoheit zu dulden, scheitern, die Ansiedlungspläne in Ostafrika (Uganda-Projekt) unter britischem Protektorat führen zu einem innerzionistischen Aufstand. Herzls Sendungsbewusstsein bleibt bis zuletzt aufrecht, doch sein Gesundheitszustand wird immer schlechter, er stirbt im Alter von nur 44 Jahren, am 3.Juli 1904, im Sanatorium von Edlach an einem Herzleiden. Zu seinem Begräbnis am Döblinger Friedhof kommen Trauergäste aus allen Gegenden der Monarchie und Osteuropas. 50 Jahre nach dem Basler Kongress beschließen die Vereinigten Nationen die Errichtung eines Judenstaates in Palästina. Er wird als „Israel“ am 14. Mai 1948 durch Ben Gurion ausgerufen.

Die Presse (29. April 2010)


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