Kafka in Amerika#
Die Kärntner Kosmopolitin Maria Luise Caputo-Mayr sorgt für die digitale und mediale Präsenz des Meisters aus Prag in New York und in der Welt.#
Mit freundlicher Genehmigung übernommen aus der Wiener Zeitung, 27. Juli 2019
Von
Janko Ferk
Maria Luise Caputo-Mayr ist eine vielsprachige Dame aus Kärnten, eine in der Heimat und der Welt gleichermaßen verwurzelte Kosmopolitin. Aus Villach, von wo aus sie sich in die Welt aufmachte und dort blieb, nämlich in New York, und wo sie mit ihrem Ehemann, einem sizilianischen Diplomaten und späteren Unternehmer, ihre Familie gründete. Vorausgeschickt sei, dass sie aus der Alten in die Neue Welt bereits einen Mann mitgenommen hat, nämlich Franz Kafka.
Nach dem Studium an der Universität Wien lehrte sie zunächst in London sowie Rom und später Jahrzehnte, bis zum Jahr 2001, an der Temple University in Philadelphia deutsche Sprache, Kultur und Literatur sowie Vergleichende Literaturwissenschaften und Italienisch. Von allen Fächern, die sie unterrichtet habe, sei ihr das Vorstellen deutschsprachiger Lyrik das Liebste gewesen. Sie habe, so die Expertin, ihren Studentinnen und Studenten Gedichte vorgelesen, habe sie vorlesen lassen und versucht, die Studierenden auf die Spur von Rhythmus und Wortmelodie zu leiten.
Die Lehrtätigkeit wird gerade durch ihr Ende zur Initialzündung für eigene lyrische Wege. An großen Vorbildern geschult, stößt Caputo-Mayr die Wittgensteinsche Leiter um und findet ihre eigene Sprache. Es ist ein doppelter Befreiungsakt: "Als ob ich die lange, wundervolle, schwere Tradition abschütteln müsste (. . .), als ob ich mich befreien müsste von den Dingen, die einen begraben und taub machen." Diese Befreiung war mit eigenen Gedichtsammlungen verbunden.
Einziges Kafka-Journal#
An der Temple University widmete sich Caputo-Mayr besonders der Vermittlung der österreichischen Kultur. Sie gründete im Jahr 1975 die erste Kafka-Gesellschaft und zwei Jahre später die einzige Franz Kafka gewidmete Zeitschrift, das "Journal of The Kafka Society of America", das sich aus dem Newsletter der Gesellschaft entwickelte. Die Zeitschrift führt sie - mit Hilfe von Julius M. Herz, Dagmar C. G. Lorenz und Astrid Weigert - bis heute. Kürzlich ist die Ausgabe 40/41 erschienen.
Maria Luise Caputo-Mayr publizierte Artikel, Essays und Rezensionen über österreichische, deutsche sowie italienische Literatur und Kultur, auch über Exilliteratur und - als passionierter Moviegoer - über den österreichischen Film. Für alle ihre Aktivitäten, die man eigentlich Kulturbotschafterdienste nennen müsste, wurde sie mit dem Goldenen Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst der österreichischen Bundesregierung und der Goldmedaille des Landes Wien ausgezeichnet. In ihrer Heimatstadt wurde sie mit der höchsten Auszeichnung, dem Villacher Kulturpreis, geehrt.
Viele österreichische Künstlerinnen und Künstler, Schriftstellerinnen sowie Schriftsteller und andere kulturelle Repräsentanten waren in ihrem speziell auf Österreich ausgerichteten Deutschprogramm an der Temple University zu Gast. In Zusammenarbeit mit dem Österreichischen Kulturforum in New York hat Caputo-Mayr etwa Gottfried von Einem, Friederike Mayröcker und Ernst Jandl, Peter Rosei, Hilde Spiel, Wendelin Schmidt-Dengler, Julian Schutting, Anton Fuchs, Valie Export und viele andere eingeladen.
Maria Luise Caputo-Mayr ist jedoch und vornehmlich weltweit als Kafkologin anerkannt. Ihre Kafka-Forschung entstand im Zuge der Österreicharbeit an der Temple University, wo sie im Jahr 1974 einen Weltkongress über Franz Kafka organisierte, der von vielen der damaligen Top-Kafkaforscher besucht wurde. Es kamen, beispielsweise, Walter H. Sokel aus den USA, Jürgen Born, Wilhelm Emrich und Klaus Wagenbach aus Deutschland, Roger Garaudy aus Frankreich, Reinhard Urbach aus Wien und Stanley Corngold aus Princeton.
Große Bibliographie#
Franz Kafka hat sie als ihren "Forschungsgegenstand" ausgewählt, weil er der faszinierendste Schriftsteller des 20. Jahrhunderts ist, wie sie apodiktisch feststellt. Caputo-Mayr hat später mit ihrem Universitätskollegen Julius M. Herz eine große kommentierte Bibliographie herausgegeben, deren dreibändige zweite Auflage im Jahr 2000 im Münchner Verlag Saur erschienen ist. Auf mehreren hundert Seiten wird die "Internationale Bibliographie der Primär- und Sekundärliteratur" von 1908 bis 1980 dokumentiert. Eine Kafka-Forschung ohne dieses Werk ist möglich, aber nicht sinnvoll.
Nach den ersten Erfahrungen mit dem Prager Schriftsteller wurde ihr bald bewusst, dass es weltweit noch keine Kafka-Gesellschaft gab. Sie gründete die bereits erwähnte Vereinigung also mit viel Mut und Ermunterung durch den Doyen der US-amerikanischen Kafka-Forschung, Walter H. Sokel. Die Impulse, die sie setzte, sind für die gesamte Kafkologie relevant. Maria Luise Caputo-Mayr hat die Kafka-Forschung nachhaltig und weltweit beeinflusst.
Seit dem Jahr 1975 organisiert die Expertin für die Modern Language Association Kafka-Seminare. Im Lauf der Jahrzehnte wurden in verschiedenen US-amerikanischen Städten wichtige Kafka-Themen diskutiert: die Biographie, die Politik, Kafka und die Frauen, der Judaismus und Zionismus, das einst mehrsprachige Prag, die Philosophie, die Übersetzungen, die globale Rezeption, Kafkas Beziehung zur Tierwelt, Kafka und der Holocaust.
Das "Journal of The Kafka Society of America" wiederum wurde fixer Bestandteil der wichtigsten Forschungs-, National- und Universitätsbibliotheken. Es wird von den Nationalbibliotheken der USA, Frankreichs, Englands, Österreichs, Tschechiens, Schwedens und Deutschlands abonniert, auch von den Bibliotheken der Universitäten Harvard, Princeton, Yale, Stanford, Virginia, Columbia, Cambridge, Oxford, Sorbonne, Humboldt, Zürich und Delhi bezogen, nicht zuletzt von der Bibliothek der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt, worauf die Herausgeberin besonders stolz ist.
Walter H. Sokel hat erklärt, dass die Kafka-Forschung ohne diese Gesellschaft und deren Zeitschrift nicht denkbar wäre, und dass sie junge wie erfolgreiche Wissenschafter auf das Podium der MLA-Conventions und damit in den Blickpunkt der internationalen Forschung gebracht hat. Über die Jahre haben die meisten namhaften Kafkologen aus den USA, aber auch europäische und kanadische, in der Zeitschrift veröffentlicht. Das Journal hat neue Perspektiven eröffnet, es hat auf wichtigen Gebieten Vorarbeit geleistet, zum Beispiel mit der Sondernummer über Kafka und seine Beziehung zum Arbeitsrecht. Generell bietet es eine Übersicht über wichtige internationale Trends der Kafka-Forschung.
US-Kulturumstände#
Die Kafka-Website wurde im Zeichen des Computerzeitalters auch von Caputo-Mayr initiiert, um Visibilität zu erreichen, und auch um ein internationales Forum für Kafka-Forscher zu bilden. Sie ist durch Verlinkungen mit den wichtigsten internationalen Kafka-Websites verbunden. Die Homepage bringt vor allem Nachrichten über Aktivitäten der Kafka-Gesellschaft und besteht seit dem Jahr 1995. Zur Illustration US-amerikanischer Kulturumstände sei festgehalten, dass die Gesellschaft seit jeher ganz privat betrieben und von einigen wenigen Freiwilligen unbezahlt geführt wird. Sie soll letzten Endes die Kafka-Forscher "aller Länder" in Verbindung halten und ein globales Netz der Information und Wissenschaft über den Schriftsteller sein.
Das haptische Informationsnetz ist die Zeitschrift. Die neueste Ausgabe umfasst 180 Seiten im US-amerikanischen Format. Viel Platz für aktuelle Kafkologie, mit Abhandlungen in deutscher und englischer Sprache, wenn auch die Autoren durchwegs Germanisten sind. Veröffentlicht werden neue Forschungsergebnisse über Kafkas "Tierparabeln", die Frauenfiguren in seinen Werken, die Kriminologie im "Proceß", den allseits bekannten Türhüter, wobei der Aufsatz mit Abbildungen aus der "Proceß"-Verfilmung Orson Welles’ illustriert wird.
"Kafka-Industrie"#
Besonders beeindruckt die riesenhafte Dimension der Tür, vor der Josef K., im Film von Anthony Perkins dargestellt, steht. Akribisch berichtet der Beitrag, dass der Film in den Jahren 1961 und 1962 hauptsächlich in Zagreb und Paris (im ehemaligen Bahnhof Gare d’Orsay), gedreht wurde. Die "Traumerzählungen" sind naturgemäß ein permanentes Forschungsthema. Untersucht wird sogar die Architektur in Kafkas Texten. Raum ist selbstverständlich auch für die philosophischen Interpretationen unter Berücksichtigung Hegels, Nietzsches und Kantorowicz’.
Zur Kafkologie gehört die Tatsache, dass das Werk in unerschöpflicher Weise auslegbar ist. Die "akademische Kafka-Industrie", wie sie Heinz Politzer benannt hat, hat zwar einen Anfang, aber mit Sicherheit kein Ende. Kafkas Universum breitet sich aus wie jenes in den Erklärungen des Physikers Stephen Hawking. Es hat keine Grenzen. Auch nicht im Journal, über das zu konstatieren ist, dass die Beiträge höchstes wissenschaftliches Niveau aufweisen, welcher Verdienst der Herausgeberin und Chefredakteurin Maria Luise Caputo-Mayr zuzuschreiben ist, die bei der Auswahl sowohl der Referenten bei ihren Symposien als auch der Autoren in der Zeitschrift strenge Maßstäbe anlegt. Das Heft beschließen, wie gewohnt, Caputo-Mayrs Rezensionen neuester Kafka-Sekundärliteratur aus der ganzen Welt.
Maria Luise Caputo-Mayrs Wunsch ist es seit Langem, das Journal zu institutionalisieren, es gleichsam der öffentlichen Hand zur Weiterführung zu übertragen, wobei es eine solche in den USA für kulturelle Angelegenheiten nicht gibt. Eine "österreichische Lösung" wäre zweifellos auch in ihrem Sinn. Dann hätte sie Zeit für ein Projekt, das ihr genauso am Herzen liegt, das sogenannte "Vater-Buch", die spannende und nicht alltägliche Geschichte über ihren altösterreichischen und mehrsprachigen Vater aus Triest, einen entfernten Verwandten der Mayr-Melnhof-Familie. Sie sollte nicht verloren gehen!
Janko Ferk lebt und arbeitet als Jurist und Schriftsteller in Klagenfurt. Er lehrt an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt Literaturwissenschaften. Zuletzt erschien seine Essaysammlung "Die Kunst des Urteils. Rezensionen zur deutschsprachigen Literatur 2013–2018" (LIT Verlag, Wien/ Berlin 2019).