„Es war für mich gar zu hässlich dort“ #
Wien bedeutet einen Nebenschauplatz in der Biografie von Kafka, in seinem Denken und Empfinden allerdings nimmt die Stadt einen Sonderplatz der Abneigung ein. #
Mit freundlicher Genehmigung übernommen aus: DIE FURCHE (Donnerstag, 8. Mai 2014).
Von
Anton Thuswaldner
Wer sagt, dass Leben und Werk Franz Kafkas so weit erforscht sind, dass keine bedeutsamen Entdeckungen mehr zu machen sind? Wissen wir nicht bereits alles über ihn und haben nicht Exegeten jeder Weltanschauung all ihre Energien daran gesetzt, um auch noch solche Deutungen über die Romane und Erzählungen zu breiten, die diesen gar nicht entsprechen?
Hartmut Binder, Jahrgang 1937, der sich ein Forscherleben lang mit Kafka beschäftigt hat, denkt selbst, dass viele Interpretationen viel zu weit gegangen sind, sobald sie das Werk auf einen religiösen oder ideologischen Nenner zu bringen trachteten. Er lässt sich selbst nach wie vor von den Texten aus der Ruhe bringen. Bei allen Bemühungen, Kafka zu zähmen, findet er das Werk nach Jahrzehnte währender Lektüre immer noch irritierend. Mit der Erzählung „Die Verwandlung“ etwa ist Binder bislang an kein Ende gekommen. „Damals, in den sechziger Jahren, war es so, dass Kafka ein großes Rätsel war. Das war für mich eine Herausforderung. Ich habe aber bald gemerkt, dass der gute Mann uns eine Falle stellt, dass er uns zu bestimmten Interpretationen auffordert, aber dann den Schlüssel verborgen hat, sodass wir ins Leere laufen“, sagt er, sich an die Anfänge seiner Begeisterung erinnernd. Auch hoch gelobte jüngere Großunternehmungen, Kafkas Biografie zu erzählen, wie jene von Klaus Wagenbach oder Reiner Stach finden bei Binder nicht restlos Zustimmung. Zu feuilletonistisch verfasst, bisweilen allzu spekulativ und vor allem lückenhaft empfindet er diese Unternehmungen.
Wien, der große weiße Fleck #
Dass es noch biografische Leerstellen geben soll, überrascht, zumal bekannt ist, wie Archive selbst nach winzigen und unbedeutenden Dokumenten durchforstet wurden, um Licht in das Leben eines grandiosen Versteckspielers zu bringen. Binder: „Da gab es weiße Flecken, vor allem, was seine Reisen betrifft. Ich habe zuerst die Paris-Reisen untersucht und dann die Reise nach Italien. Jetzt blieb noch Wien übrig, die Ungarn-Reisen und das Verhältnis zur Monarchie. Das ist der letzte größere weiße Fleck in meinen Augen.“
Im Band „Kafkas Wien“ sind die Ergebnisse zusammengefasst worden. Die Bilderfülle ist der Besessenheit Binders zu verdanken, der sich viele Jahre lang in Antiquariaten umsah und Fotografien von Örtlichkeiten aufstöberte, so wie sie Kafka untergekommen sein müssen. Das Café Museum in Wien befindet sich 1911 in ebenjenem Zustand, in dem es Kafka vorgefunden hat und worüber Milena Jesenská folgende Beschreibung eingefallen ist: „Am seltsamsten ist das Leben innerhalb des Kaffeehauses: Besitzer, Ober, Kellner, Pikkolos einschließlich Garderoben und Toilettenfrau, diese ganze Gemeinde, ihre Gesetze, ihr Jargon, das ist es, was von der übrigen Welt so abgesondert ist.“ Im Band ist es abgebildet und gibt etwas von jener Atmosphäre wieder, die im Lauf der Geschichte auf der Strecke geblieben ist.
Kafka war ein Kind der Monarchie und jemand, den man stark mit seiner Stadt Prag verbunden sieht. Mit der Residenzstadt Wien kam er dennoch früh über Besuche des Kaisers in Berührung. Binder findet keine Anzeichen, dass die Familie den Habsburgern kritisch begegnet wäre. Als Schüler wurde er dazu verdonnert, als Teil einer dramaturgisch ausgeklügelten Jubelkulisse Spalier zu stehen.
Wien bedeutet einen Nebenschauplatz in der Biografie von Kafka, in seinem Denken und Empfinden allerdings nimmt die Stadt einen Sonderplatz der Abneigung ein. Schon als Jugendlichem bedeutete ihm Wien wenig. Als ein „absterbendes Riesendorf“ bezeichnete er die Metropole später, und er schreibt gar von „meinem Hass gegen Wien“. Ein Treffen dort mit Grete Bloch im Februar 1914 lehnte er mit den Worten ab: „Nach Wien möchte ich für meinen Teil nicht, auch nicht im Mai. Es war für mich gar zu hässlich dort.“ Allerdings dachte er einmal daran, an der Hochschule für Welthandel zu studieren. Doch davon, von den „vielfältigen kulturellen Angeboten“ Gebrauch zu machen, ist in den Briefen an seinen damaligen frühen Schwarm Hedwig Weiler nie die Rede. Aber was heißt schon „Schwarm“ bei Kafka, diesem Verweigerer von Nähe. Die Literatur, die aus der Metropole kam, muss Kafka bei all seiner Wien-Skepsis dennoch aufgenommen haben, bedeutet hat sie ihm nicht viel. Gegen Schnitzler hegte er überhaupt eine ausgeprägte Aversion. Woher diese grundsätzliche Wien-Verneinung kommt, lässt sich nicht klären.
Mutmaßungen über die Gründe #
Kafka schätzte Berlin, das er aus eigener Anschauung kaum kannte, als Symbolort der Moderne, reicht das aus, um Wien zu verdammen? Das vermag auch Hartmut Binder nicht zu entscheiden. Auch ein so renommierter Forscher kommt um Mutmaßungen und Rückschlüsse nicht herum, um sich ein Bild von Kafkas Wien-Vorstellung zu machen, zumal es sich hier um innere Entwicklungen und schwer dingfest zu machende intellektuelle und emotionale Prägungen handelt. Wenn die Dokumente versagen, ist Kombinationsgeist gefordert. Der ist nicht immer ganz schlüssig. Dass das Wien der Jahrhundertwende als „Inbegriff des Seicht-Sentimentalen und nicht zuletzt als Hochburg des Antisemitismus galt“, das sich „den sich seines Judentums bewussten und der nationaljüdischen Bewegung Zugeneigten zu ihrem Gegner machen musste“, wirkt allzu zwanghaft der Rechtfertigung von Kafkas Wien-Hass verpflichtet. Wo bleibt das Wien, das sich gerade als ein Zentrum der Moderne durchgesetzt hatte und wie passt das mit Kafkas Ablehnung der so jüdisch geprägten Kulturszene insgesamt zusammen? Das letzte Wort über Kafkas Wien ist noch nicht gesprochen, ein grandioser Anfang ist jedenfalls gemacht worden.
Sein Lebensende verbrachte Kafka in und nahe bei Wien. Sein Gesundheitszustand hatte sich derart verschlechtert, dass er, der deswegen im Juli 1922 pensioniert worden war, sich zu einem Sanatoriumsaufenthalt genötigt sah. Er entschied sich für das Sanatorium Wienerwald, wo er im April 1924 eintraf. Dort verfiel er rasch, sein Vertrauen in die Medizin sank beträchtlich. Er wurde in die Larnygologische Klinik in Wien gebracht, auf Besserung war nicht zu hoffen. Bald übersiedelte er in das Sanatorium Kierling bei Klosterneuburg, alle Versuche, dem Patienten Linderung oder gar Heilung zu verschaffen, schlugen fehl. Am 3. Juni verstarb Kafka, zwei Tage später wurde der Leichnam nach Prag überführt. Binder schreibt dazu lapidar: „Der Transport der sterblichen Überreste Kafkas zum Wiener Franz-Josefs- Bahnhof war, wenn man so will, das zehnte und letzte Mal, dass er das Weichbild der ihm verhassten Stadt berührte...“
Von Hartmut Binder
Vitalis Verlag 2014.
456 S., geb., 51,40EUR
KAFKA IN KIERLING
Wo Franz Kafka vor 90 Jahren starb #
Seit 1983 betreibt die Österreichische Franz Kafka Gesellschaft einen Studien- und Gedenkraum im ehemaligen Sanatorium Hoffmann, dem Sterbehaus Kafkas in Klosterneuburg- Kierling. Viel privates Engagement, zuletzt unter der Leitung von Manfred Müller, sorgte dafür, dass es diesen Raum als Studien- und Gedenkraum immer noch gibt und dass er nun eine Neugestaltung erfahren konnte. Vor allem die ersten Monate von Kafkas letztem Lebensjahr, die der an Lungentuberkulose schwer Erkrankte in Sanatorien und Krankenhäusern in Ortmann, Wien und vor allem Kierling verbracht hat, werden hier in Bild und Text dokumentiert sein, seine in dieser Zeit noch erschienenen bzw. von ihm bearbeiteten Texte und seine letzten privaten Kontakte. Die neue Franz-Kafka-Ausstellung in Kierling (Hauptstraße 187) wird ab Kafkas Todestag am 3. Juni geöffnet sein.
Der Grundausbau für das kleine Museum ist gesichert, für die nächsten Vorhaben, wie etwa eine audiovisuelle Ausstattung, sucht die Österreichische Franz Kafka Gesellschaft weitere private Förderer. Informationen: www.franzkafka.at (bsh)