Kampffront und Idyll #
Die Weltliteratur präsentiert unzählige Aspekte von den unterschiedlichsten Schauplätzen des Ersten Weltkriegs. Eine Anthologie mit 70 Prosatexten bildet die ideale Ergänzung zur aktuellen Flut an Sachliteratur. #
Mit freundlicher Genehmigung übernommen aus der Wiener Zeitung (Sa./So., 26./27. April 2014)
Von
Andreas Wirthensohn
Es ist schon seltsam: Denkt man an den Ausbruch des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren, so stellen sich noch immer diese eigenartigen Bilder vom „Augusterlebnis“ ein, die man aus dem Geschichtsunterricht, aus Publikationen oder woher auch immer kennt oder zu kennen glaubt – erregte Menschenmengen, die die Kriegserklärungen mit Freudenrufen begrüßen; Soldaten, die fröhlich winkend die Züge besteigen, welche sie an die Front bringen; pathetische nationale Einheitsbekundungen, die keine Parteien mehr kannten (Deutschland) oder die „Union sacrée“ (Frankreich) beschworen oder die Hunnen vor den Toren (England) stehen sahen. Dabei gab es damals, soviel man heute weiß, keine wirklich universelle Kriegsbegeisterung bei den Menschen, der Jubel war eine kulturelle Inszenierung und Legende, die vielleicht auch nachträglich dazu dienen sollte, das erschütternde, alles bisher Erlebte in den Schatten stellende Kriegserlebnis mit so etwas wie Sinn zu füllen.
Euphorie der Poeten #
Womöglich hat diese Mär vom „Augusterlebnis“ aber auch damit zu tun, dass ausgerechnet diejenigen, deren Begeisterung überliefert ist, weil sie sie in Worte zu fassen vermochten, tatsächlich in erstaunlicher Zahl euphorisch zu den Waffen eilten oder die Mobilmachung zumindest mit tönenden Versen begleiteten.
Guillaume Apollinaire etwa begrüßte den Krieg freudig, musste als gebürtiger Pole aber erst die französische Staatsbürgerschaft beantragen, um einrücken zu dürfen. Der Gymnasiast Bertolt Brecht veröffentlichte unter dem Pseudonym „Berthold Eugen“ in Lokalblättern patriotische Verse und Reportagen von der Heimatfront wie etwa die „Augsburger Kriegsbriefe“. Gabriele D’Annunzio, neben Ernst Jünger der Inbegriff des kämpfenden Dichters (oder umgekehrt des dichtenden Kämpfers), meldete sich im Mai 1915 mit immerhin schon 52 Jahren freiwillig zum Kriegsdienst und machte sich nicht nur als Flieger, sondern auch als Propagandist einen Namen, als er 1918 über Wien Tausende von Flugblättern abwarf, auf denen (auf Italienisch) zu lesen stand: „Die unbekümmerte Kühnheit wirft über Sankt Stephan und den Graben das unwiderstehliche Wort, Wiener! Viva l’Italia.“
Rudyard Kipling trommelte in strengen Metren und reinen Reimen fürs britische Vaterland, das es gegen die Deutschen zu verteidigen gelte: „For all we have and are / For all our children’s fate / Stand up and take the war / The Huns are at the gate.“
Und selbst ein zarter Schöngeist wie Rainer Maria Rilke, den das weibliche Geschlecht in seinem Leben stets mehr interessierte als Waffen, war sich nicht zu schade, im August 1914 „Fünf Gesänge“ zu verfassen, die den daheimbleibenden Frauen Trost spendeten: „Einmal schon, da ihr gebart, empfandet ihr Trennung, Mütter, / empfindet auch wieder das Glück, daß ihr die Gebenden seid. / Gebt wie Unendliche, gebt. Seid diesen treibenden Tagen / eine reiche Natur. Segnet die Söhne hinaus. / Und ihr Mädchen, gedenkt, daß sie euch lieben: in solchen / Herzen seid ihr gefühlt (. . .).“ Rilke selbst übrigens hatte 1914 bis 1916 eine stürmische Affäre mit der Malerin Lou Albert-Lasard und war anschließend bereits von der Grundausbildung und ein paar Monaten im Kriegsarchiv so traumatisiert, dass er für einige Zeit verstummte.
Bemerkenswerterweise waren es vor allem die Lyriker, die ihrer Kriegsbegeisterung Ausdruck verliehen, während die Erzähler dem Geschehen deutlich distanzierter gegenüberstanden, was aber nicht weiter verwundert, denn die Prosa ist dem Pathos bekanntlich weniger zugeneigt als das Poem. Und festzuhalten ist auch: Bei kaum einem dieser Autoren hielt der Enthusiasmus lange an, viele wechselten bald ins Lager der Pazifisten und Kriegsgegner über, vor allem dann, wenn sie selbst an der Front leidvolle Bekanntschaft mit dieser völlig neuartigen Form des Krieges geschlossen hatten. Andere hatten keine Zeit mehr, sich eines Besseren zu besinnen: Allein in den ersten Kriegsmonaten fielen Charles Péguy, Alain- Fournier, Alfred Lichtenstein, Hermann Löns und Ernst Stadler, um nur einige bekanntere Namen zu nennen. Georg Trakl ertrug das Grauen nicht mehr und nahm sich am 3. November 1914 mit einer Überdosis Kokain das Leben.
Ende des Erzählens? #
Walter Benjamin hat in seinem berühmten Aufsatz „Der Erzähler“ (1936) diese Form der „Erfahrung“ und ihre Folgen für die Literatur so gedeutet: „Mit dem Weltkrieg begann ein Vorgang offenkundig zu werden, der seither nicht zum Stillstand gekommen ist. Hatte man nicht bei Kriegsende bemerkt, dass die Leute verstummt aus dem Felde kamen? Nicht reicher – ärmer an mitteilbarer Erfahrung. (...) Eine Generation, die noch mit der Pferdebahn zur Schule gefahren war, stand unter freiem Himmel in einer Landschaft, in der nichts unverändert geblieben war als die Wolken und unter ihnen, in einem Kraftfeld zerstörender Ströme und Explosionen, der winzige, gebrechliche Menschenkörper.“
Der Erste Weltkrieg als das Ende des Erzählens? An dieser These mag insofern etwas Richtiges sein, als die Kriegsteilnehmer ihren Erlebnissen eher in Tagebuchoder Briefform Ausdruck gaben (man denke an Jüngers „In Stahlgewittern“ oder an „Le feu“ von Henri Barbusse) und es einige Jahre dauerte, bis all die berühmten Kriegsromane erschienen („Im Westen nichts Neues“ von Erich Maria Remarque, „Erziehung vor Verdun“ von Arnold Zweig oder „A Farewell to Arms“/ dt.: „In einem andern Land“ von Ernest Hemingway), die die Unmittelbarkeit der Erfahrung längst hinter sich gelassen hatten. Dass aber auch schon während des Krieges und unmittelbar danach wortreich von den vielfältigsten Erfahrungen mit ihm berichtet wurde, zeigt jetzt ein eindrucksvoller Band, der Erzählungen aus der verschiedensten Ländern versammelt.
Gerüchte und Berichte #
Von Robert Musil stammt ein Satz, der im Rahmen der zahlreichen Gedenkfeierlichkeiten gern zitiert wird: „So sieht also Weltgeschichte in der Nähe aus; man sieht nichts.“ Tatsächlich durchweht keinen dieser 70 Prosatexte – von Musil ist „Die Amsel“ vertreten – der hehre Geist der Weltgeschichte.
Dafür präsentieren sie uns unzählige Aspekte von den unterschiedlichsten Schauplätzen dieses welthistorischen Ereignisses: den Kampffronten, dem Lazarett, der Etappe, der Heimatfront, dem von Krieg verschonten Idyll. Mal ist der Krieg unmittelbares Erlebnis, mal ist er fernes Gerücht wie bei einigen amerikanischen Autoren, mal ist er Männer-, mal ist er Frauensache, mal ist er Blut und Schmerz und Gestank, mal ist er fernes Donnergrollen.
Fest aber steht: Es ist ein Krieg, „der, anders als alle Kriege, an die Mary sich erinnern konnte, nicht sittsam außerhalb Englands und auf Zeitungsseiten blieb, sondern in das Leben von Leuten eindrang, die sie kannte“. Am Ende zwingt er auch die ein wenig schlichte Gesellschafterin Mary Postgate dazu, eine Entscheidung zu treffen, und diese Entscheidung fällt erstaunlich grausam aus: Sie bringt einen abgeschossenen deutschen Piloten ohne große Skrupel, ja sogar mit einer gewissen Freude und Genugtuung um.
Diese Erzählung von Rudyard Kipling gehört zu den eindrücklichsten Texten dieses Bandes, und sie ist nur eine von vielen, die den Krieg an der Heimatfront und aus weiblicher Perspektive thematisieren. Selbst die Kinder legen das pädagogisch wertvolle Friedensspielzeug gelangweilt zur Seite und spielen lieber „Truppenparade“.
Unzählige Briefe werden geschrieben in diesen Geschichten, von der Front und an die Front, Spione treiben ihr Unwesen, es wird massenhaft gestorben, nur Joseph Roths Stationschef Fallmerayer hofft, dass der Krieg nie enden möge, denn er hat ihn „aus einer aussichtslosen Lage befreit“, nämlich vom öden Familienleben.
„Dinge des Lebens ergeben Literatur“, heißt es bei Gertrude Stein, und Edith Wharton erzählt ganz wunderbar davon, wie man am besten eine Kriegsgeschichte schreibt. Was gar nicht so einfach ist für Miss Ivy Spang: „Sie schloss sich mit fünfhundert Blatt mauvefarbenem Papier in ihrem Zimmer ein und begann nachzudenken. Zunächst war der Prozess weniger erregend, als sie erwartet hatte. Sie wusste so viel über den Krieg, dass sie kaum wusste, wo beginnen. Wie sie feststellte, litt sie unter einer Überfülle an Eindrücken. Und mehr noch, je länger sie nachdachte, desto weniger schien sie zu begreifen, wie eine Kriegsgeschichte (. . .) geschrieben wurde. Warum fingen Geschichten überhaupt an, und warum hörten sie wieder auf? Das Leben war nicht so, es ging immer weiter und weiter.“
An der Front „geboren“ #
Ganz nah am Leben sind all diese Erzählungen, Kurzgeschichten und Prosaskizzen aus aller Welt (von denen viele hier erstmals auf Deutsch erscheinen). Genau das macht sie zu einer idealen Ergänzung all der dickleibigen historischen Sachbücher, die sich auf den Büchertischen stapeln. Sie präsentieren literarisch verarbeitete Erfahrung, die nicht unbedingt „Wirklichkeit“ (im Sinne von „so ist es gewesen“) transportiert, aber doch ihre ganz eigene Wahrheit entfaltet.
Und auch dies sei nicht vergessen: So mancher Schriftsteller wurde im Krieg und an der Front überhaupt erst „geboren“. Carl Zuckmayer etwa bekämpfte die öde Langweile des Frontalltags in den Stellungen damit, dass er zu schreiben begann. Und Heimito von Doderer erlebte die Kriegsgefangenschaft als Erweckung und Selbstwerdung: „Ich glaube, die vier Jahre in Russland haben über mich entschieden. (. . .) ich bin so ganz und gar nach dieser (inneren) Richtung hin organisiert worden, dass mir ein anderer Weg nicht mehr bleibt. Nur hier zeigen sich die Steckkontacte mit den Anschlüssen in die Zukunft, nur hier fühl’ ich Streben, Absicht, Richtung, Pläne – überall anders kein Leben.“
Die „Anschlüsse in die Zukunft“, das sind in seinem Fall einige der großartigsten Romane der Weltliteratur. Ohne die „Vergangenheit“ des Ersten Weltkriegs wären sie nicht denkbar. Ebenso wenig wie diese wunderbaren Erzählungen.
Über den Feldern. Der Erste Weltkrieg in großen Erzählungen der Weltliteratur. Hrsg. Horst Lauinger. Manesse, Zürich 2014, 783 Seiten, 30,80 Euro.
Andreas Wirthensohn, geboren 1967, ist freier Lektor, Übersetzer aus dem Englischen und Literaturkritiker; er lebt in München.