Die Gnade, unter Tränen zu lachen#
Nachruf auf einen „längst verstorbenen Dichter": Friedrich Torberg zum 100. Geburtstag.#
Mit freundlicher Genehmigung entnommen aus der Niederösterreichische Kulturzeitschrift morgen 4/08
Von
Peter Weiser[1]
Als er 1951 aus der amerikanischen Emigration zurückkam, stellte er sich regelmäßig mit den Worten vor: „Friedrich Torberg, längst verstorbener Dichter".
Dabei war Torberg damals keineswegs vergessen. Sein Bestseller „Der Schüler Gerber hat absolviert" stand damals noch in vielen Privatbibliotheken und wurde von Gymnasiasten verschlungen, seine politischen Romane „Hier bin ich, mein Vater" und „Die zweite Begegnung" waren soeben erschienen - und große Erfolge. Die erste Strophe seines Gedichtes über den Tod des Fußballers Matthias Sindelar konnten die gebildeten Austria-Anhänger unter den Wiener Stadionbesuchern auswendig:
Er war ein Kind aus Favoriten
und hieß Matthias Sindelar.
Er stand auf grünem Plan inmitten,
weil er ein Mittelstürmer war.
Aber Torberg blieb dabei: Er war ein längst verstorbener Dichter. Halb Wiener, halb Prager und ganz und gar Jude, war ihm die Zeit nicht hold. 1908 in Wien geboren, war er ein Kind der Monarchie. Wien und Prag waren für ihn eigentlich bis zu seinem Tode 1979 Städte ein und desselben Landes, und die kulturelle Kraft, die geistige Lebendigkeit dieser beiden Städte war untrennbar mit dem gebildeten Judentum verwoben, das hier im 19. Jahrhundert heimisch geworden war.
Nach seinem Sensationserfolg mit dem „Schüler Gerber", den er als Achtzehnjähriger geschrieben hatte, war er ständig zwischen Wien, Prag und Leipzig unterwegs, als Sportreporter, Theaterkritiker und Feuilletonist. Er war tschechischer Staatsbürger, sowohl Mitglied des SC Hakoah Wien wie der tschechischen Meistermannschaft im Wasserball und schrieb, quasi nebenher, Gedichte und drei weitere Romane. Aber dann kam Adolf Hitler, und für Torberg war nicht nur die Jugend vorbei.
Er konnte sich retten, gewiss. Über die Schweiz, Frankreich, Spanien und Portugal flüchtete er auf abenteuerliche Art und Weise nach Amerika. Und dort wurde er ohnmächtiger Zeuge des Untergangs von allem, was ihm teuer war: Die letzten Spuren der Monarchie, der Heimat seiner Kindheit, wurden getilgt. Österreich war ausgelöscht, die Tschechei zertrümmert, das Prager und das Wiener Judentum gleich ihm geflohen oder schon in Theresienstadt und Auschwitz. Sogar Matthias Sindelar war tot. Ihm, dem populärsten Fußballer, den Österreich je hatte und der einer „Neuordnung des Sportwesens im nationalsozialistischen Sinne" nicht entsprach, weil er mit einer jüdischen Frau zusammenlebte, widmete Torberg eines seiner letzten großen Gedichte. Es endet mit zwei Strophen, die, im schlichten Theodor-Kramer-Stil geschrieben, die Alltäglichkeit des damaligen Grauens umso stärker verdeutlichen:
Er war gewohnt, zu kombinieren,
und kombinierte manchen Tag.
Sein Überblick ließ ihn erspüren,
dass seine Chance im Gashahn lag.
Das Tor, durch das er dann geschritten,
lag stumm und dunkel ganz und gar.
Er war ein Kind aus Favoriten
und hieß Matthias Sindelar.
Drüben, in New York und Hollywood, war Torberg eigentlich verloren. Journalistische Gelegenheitsarbeiten hielten ihn notdürftig über Wasser, aber sein dichterisches und schriftstellerisches Talent blitzte nur hie und da auf. Sein gestalterischer Impetus, von der Welt zwischen Wien und Prag zu erzählen, war versiegt. Er hatte kein Publikum mehr. Und mit den beiden Städten seiner Jugend, die ihm geistige Heimat und schöpferische Kraftquelle waren, verband ihn nur noch unsägliches Heimweh.
Als der Spuk des 1000-jährigen Reiches zu Ende war, ließ sich Torberg mit seiner Rückkehr Zeit. Wohin sollte er zurück? Nach Wien? Nach Prag? Wien war auf Emigranten, besonders wenn sie Intellektuelle waren, nicht sehr erpicht. Und in Prag, wo die Kommunisten das Heft in der Hand hatten, war die deutsche Sprache, Torbergs Muttersprache und Lebenselixier, inzwischen ausgerottet worden. Erst 1951 war er zur Rückkehr bereit, als er eine neue Lebensaufgabe gefunden hatte: den Kampf gegen den Kommunismus.
Torberg stürzte sich wie ein Löwe auf diese neue Aufgabe. Und kannte, wie ein Löwe, keine Schonung. Alles, was sowjetfreundlich war - die KPÖ, Altkommunisten, Salonkommunisten, Kryptokommunisten, Steigbügelhalter und Mitläufer -, wurde zum Objekt seiner gnadenlosen publizistischen Angriffe im „Kurier", im Sender „Rot-Weiß-Rot", in der „Süddeutschen Zeitung" und in der von ihm mit Hilfe des CIA gegründeten Zeitschrift FORVM. Aus dem Literaten war ein Polemiker, ja ein Politiker geschlüpft.
Und dieser Politiker Torberg hatte zeitweilig großen Erfolg. Er setzte in der Zeit des Kalten Krieges ein Verbot der Aufführungen der Theaterstücke von Bertolt Brecht durch; von ihm Verfemten war es unmöglich, im österreichischen Kulturleben Fuß zu fassen; nicht wenige Emigranten, die während des Krieges „Fellow Travellers" gewesen waren, kehrten seinetwegen nicht nach Österreich zurück. So hinterlässt dieser Lebensabschnitt Friedrich Torbergs einen bitteren Geschmack.
Sein politisches Engagement konnte jedoch sein angeborenes literarisches Talent auf die Dauer nicht unterdrücken. Zwar schrieb er keine Gedichte mehr - denn seine poetische Ader war versiegt, als Hitler seiner geistigen Heimat jegliche Poesie ausgetrieben hatte. Torberg versuchte sich jetzt auch als Romancier nicht mehr. Aber seine Sehnsucht nach der vergangenen, versunkenen Welt war durch seine Heimkehr nicht gestillt. 1942 hatte er seinem Heimweh beredten Ausdruck gegeben:
Wieder ist es Sommer worden,
dritter, vierter Sommer schon.
Ist es Süden, ist es Norden,
wo ich von der Heimat wohn?
Gelten noch die alten Strecken?
Streben Gipfel noch zur Höh?
Ruht im bergumhegten Becken
noch der Altausseer See?
Ins Plateau zu hohem Rahmen
wölbte sich die Pötschen schlank,
und es wuchsen die Zyklamen
nur auf ihrem drübern Hang.
Nach seinem Feldzug gegen den Kommunismus, der ihn enorm viel Kraft kostete, fand Torberg in seiner geliebten Jugendsommerfrische Altaussee wieder ganz zu sich selbst. Er hatte in den Fünfzigerjahren eine Ausgabe der Werke von Fritz von Herzmanovsky-Orlando besorgt, diesem skurrilsten Beschwörer von Österreichs habsburgischer Vergangenheit, und dabei sein Talent als Bearbeiter der Werke anderer entdeckt. Auch anderen blieb dieses Talent nicht verborgen und er wurde mit der deutschen Übersetzung der Werke Ephraim Kishons betraut, obwohl er weder Ungarisch konnte - die Sprache, in der sie geschrieben wurden - noch Hebräisch, in der sie erschienen. Als Vorlage diente ihm eine englische Übersetzung.
Aber Torberg übersetzte nicht nur, er bearbeitete Kishon, schärfte seine Dialoge, feilte an seinen Pointen und fügte in Kishons köstliche Geschichten eine dem Autor in Israel offenbar verloren gegangene Eigenschaft der mitteleuropäischen Juden hinzu: die Gabe, unter Tränen lachen zu können. Kein Wunder, dass sich Kishons Werke in Torbergs deutscher Übersetzung weit besser verkauften als in jeder anderen. Und Torberg kam endlich zu Geld und zu einem Haus im niederösterreichischen Breitenfurt, „wo die Luft irgendwie nach Altaussee schmeckt".
Wer irgendwann in diesen Jahren mit Friedrich Torberg zu tun hatte und ihn nach seinen Plänen fragte, bekam nach wie vor die Geschichte vom längst verstorbenen Dichter zu hören, allerdings mit dem Nachsatz: „Aber ich denk' über etwas nach!" Und das, worüber er nachdachte, war - ohne dass er es darauf angelegt hätte - ein geniales, unzerstörbares Porträt des mitteleuropäischen Judentums vor dem Zweiten Weltkrieg, zugleich ein letzter Abglanz der ehemaligen Märchenstädte Prag und Wien.
„Die Tante Jolesch oder der Untergang des Abendlandes in Anekdoten" heißt das Werk, über das Torberg damals nachgedacht hat. Ein Werk, in das Torberg alles hineinlegte, was ihn erfüllte - die Träume seiner Jugend; den Glanz - aber auch die teilweise Schäbigkeit - der Monarchie; die ungeheure geistige Beweglichkeit Prags, seiner uralten jüdischen Gemeinde und seines wundervolles Deutsch sprechenden Kerns; die Brillanz, aber auch Lethargie und den Humor der Wiener Kaffeehausjuden; die Todgeweihtheit einer Großmacht; die Schrecklichkeit der Schönheit ihres Sterbens ...
Das alles hat der längst verstorbene Dichter Friedrich Torberg in seinem Anekdotenbuch über die „Tante Jolesch" zum Ausdruck gebracht. Es ist ein Denkmal für das alte Österreich. Aber auch ein Denkmal für ihn selbst - wichtiger als seine Theaterkritiken und Polemiken, wichtiger als alle „Post Scripta" und Parodien. Nur poetisch ist es nicht, wie etwa die letzte Strophe seines Altaussee-Gedichtes zeigt:
Ach, wo hat's mich hingetrieben!
Pötschen weiß ich, und Plateau.
Aber welcher Hang ist drüben?
Aber die Zyklamen - wo?
Vielleicht hatte er, als er zurückkam, Recht, sich als längst verstorbener Dichter vorzustellen. Als die Poesie in ihm erstarb, war auch die Welt, in die er hineingeboren wurde, ganz und gar verschwunden.
[1] Peter Weiser wurde 1955 Chefdramaturg des ORF, war 1961 bis 1977 Generalsekretär der Wiener Konzerthausgesellschaft und danach Chef der Energieverwertungsagentur. Publizist und Zeithistoriker.