Wir freuen uns über jede Rückmeldung. Ihre Botschaft geht vollkommen anonym nur an das Administrator Team. Danke fürs Mitmachen, das zur Verbesserung des Systems oder der Inhalte beitragen kann. ACHTUNG: Wir können an Sie nur eine Antwort senden, wenn Sie ihre Mail Adresse mitschicken, die wir sonst nicht kennen!
unbekannter Gast

Ein zweiter Blick auf die Welt #

Vor 250 Jahren wurde der Dichter geboren, dessen Romantikbegriff heute als Vorläufer eines ökologischen Denkens gilt.#


Von der Wiener Zeitung (1. Mai 2022) freundlicherweise zur Verfügung gestellt.

Von

Silvio Vietta


Bildnis von Novalis, ca. 1799.
Bildnis von Novalis, ca. 1799.
Foto: Franz Gareis (1775–1803. Aus: Wikicommons

Der Autor, der das geschrieben hat, Volker Weidermann, ahnte dabei wohl nicht, dass er sich mit seiner These in präfaschistischem Fahrwasser befand: Ein bekannter Germanist aus jener Zeit, Hermann Korff, schrieb 1929: "Es besteht also gar kein Zweifel darüber: der Urgegensatz der Romantik und die historische Macht, gegen die sie letztlich heraufkommt [...] ist die Aufklärung. Und gegen die Aufklärung kämpft die Romantik Schulter an Schulter mit der Klassik denselben Kampf der höheren Geistigkeit gegen Rationalismus und Realismus."

Umbruchsituation#

Die Identifikation von Romantik, Deutschtum und einem positiv gemeinten Irrationalismus war damals gang und gäbe. Inzwischen hat sich die Forschung von diesem Paradigma entfernt. Die Romantik gilt heute eher als Avantgarde der Moderne, und Novalis als Vordenker einer neuen, auch ökologisch relevanten Spiritualität und europäischen Geistigkeit.

Die Romantik vor und nach 1800 fiel in eine Umbruchsituation: Es war der Beginn der Industrialisierung, Technisierung, Ökonomisierung der Erde, die von Europa ausging und heute die Weltzivilisation prägt. Novalis, der am 2. Mai 1772 als Georg Philipp Friedrich von Hardenberg in eine pietistische Familie im Thüringischen Oberwiederstedt geboren wurde, nahm hellwach an den Entwicklungen seiner Zeit Anteil. Er erkannte viele Gefahren und versuchte gegen sie anzusteuern.

Novalis ist einer der rätselhaftesten und zugleich umstrittensten Dichter der deutschen Literatur. Darunter mischen sich auch viele Irrungen. Erst in diesem Jahr wurde Novalis in großen Zeitungen wie der "Zeit" als jener Autor in Haft genommen, der für die Irrationalität der vielen Impfgegner verantwortlich sei. Die Argumentation ging so: In Deutschland ist die Impfgegnerschaft besonders hoch. Wer ist dafür verantwortlich? Die Romantik. Sie hat die deutsche Irrationalität gefördert. Der Romantiker par excellance aber ist Novalis. Also ist er schuld an der deutschen Impfgegnerschaft.

Gegen seinen konservativen Vater nahmen Novalis und auch sein Freund Friedrich Schlegel etwa bewusst Partei für die Französische Revolution. Novalis schrieb an Schlegel: "Das Herz drückt mich - daß nicht jetzt schon die Ketten fallen wie die Mauern von Jericho." Und: "Mich interessiert jetzt zehnfach jeder übergewöhnliche Mensch - denn eh die Zeit der Gleichheit kommt, brauchen wir noch übernatürlich Kräfte."

Novalis hatte dabei die Idee, das Königtum als eine solche Brücke zur Höherentwicklung der Menschheit zu sehen. Denn: "Alle Menschen sollen thronfähig werden. Das Erziehungsmittel zu diesem fernen Ziel ist ein König", wie er in "Glauben und Liebe" schreibt. Der preußische Staat erschien ihm wie eine "Fabrik", verwaltet mit einer "maschinistischen Administration". Was Novalis sicher nicht wollte, war eine Rückkehr in den alten Herrscherabsolutismus, wie ihn der "Wiener Kongress" von 1815 mit sich brachte.

Die Gefahren, auf die Europa zusteuerte, hat Novalis erkannt: In seinem Europa-Essay "Die Christenheit oder Europa" von 1799 wünscht er, wie Immanuel Kant, eine Zeit des "ewigen Friedens" herbei, befürchtet aber, es werde noch "so lange Blut über Europa strömen, bis die Nationen ihren fürchterlichen Wahnsinn gewahr werden". Novalis suchte daher eine spirituelle Neuausrichtung, die Europa einen sollte und solchen Wahnsinn verhindern. Aber der Nationalismus nahm zu, der Wahnsinn seinen Lauf und "über Europa" strömte das Blut zweier Weltkriege.

Die geistige Grundlage, die Novalis suchte, war eine neue Form von Spiritualität, in welcher das "Wesen der Kirche ... ächte Freiheit" sein sollte. Sie ist mit dem Christentum verbunden, aber nicht einfach eine Neuauflage der alten Kirchen. Der eine Vordenker dieser freien Religiosität war Schleiermacher mit seinen Reden "Über die Religion" von 1799. Der andere Vordenker war Spinoza mit seinem Pantheismus, "denn ohnedem würde der Monotheismus nicht wahre Religion seyn". Und bei Spinoza hatte es auch geheißen: "Deus sive Natura" - "Gott oder die Natur".

Genius der Natur#

Novalis entwickelte einen Naturbegriff, in dem alles Naturhafte als göttlich verehrt werden kann. In seinen Fragmenten entwirft er die schöne Idee, dass wir Menschen dauernd und lebensnotwendig mit der Natur verbunden sind: "So genießen wir den Ge- nius der Natur alle Tage", von ihm gespeist und am Leben erhalten, "und Luft, Trank, und Speise sind Bestandtheile einer unaussprechlichen lieben Person". Novalis lenkt unseren Blick auf den einfachen Tatbestand, dass menschliches Leben permanent am "Tropf der Natur" hängt - und nimmt damit eine zentrale ökologische Einsicht vorweg: Wenn wir unsere natürlichen Lebensgrundlagen zerstören, vernichten wir damit unsere eigene Existenz.

Schloss Oberwiederstedt.
Schloss Oberwiederstedt.
Foto: Hejkal. Aus: Wikicommons

Zu den geheimnisvollen Denkbewegungen des Novalis gehört auch eine Weltanschauung, in der es keine absoluten Trennungen mehr gibt, auch nicht zwischen Leben und Tod. Novalis war verliebt in die junge Sophie von Kühn, die aber bereits im März 1797 15-jährig stirbt. Der Tod der jungen Frau bedeutet für ihn aber keine absolute Trennung: "Der Tod macht nur dem Egoismus ein Ende", schreibt er. Am Grab der jung Verstorbenen hat er eine Vision, in der sie - die Tote - ihm selbst nahe zu sein scheint.

Die dritte seiner "Hymnen an die Nacht" beschreibt diese Erscheinung: "Und mit einemmale riß das Band der Geburt - des Lichtes Fessel. Hin floh die irdische Herrlichkeit und meine Trauer mit ihr. [...] Zur Staubwolk wurde der Hügel - durch die Wolke sah ich die verklärten Züge der Geliebten. In ihren Augen ruhte die Ewigkeit [...]."

Diese Erfahrung ist vergleichbar mit jenen der Mystiker des Mittelalters - mit dem Unterschied, dass jene sich visionär Christus verbunden fühlten, Novalis aber seiner toten Geliebten. Sophie wird dabei auch für ihn zu einer Mittlerin des Jenseits, übernimmt eine "christlogische Funktion" wie Beatrice für den Dichter Dante. "Xstus oder Sophie" notiert Novalis in sein Tagebuch von 1797 und verbindet das zugleich mit dem Entschluss, ihr nachzusterben und sich mit ihr im Tode ganz zu verbinden. Die Todessehnsucht des jungen Romantikers - er war damals selbst erst 25 Jahre alt -, gehört sicher zu den rätselhaften Zügen dieses Dichters. Wie Franz Kafka rafft ihn dann auch der frühe Tod eines Tuberkulosekranken dahin.

Novalis hatte bis dahin eine durchaus respektable Karriere als Bergbaufachmann hinter sich, war noch in seinem Todesjahr zum Amtshauptmann in Thüringen ernannt worden, hatte sich mit der jungen Julie von Charpentier verlobt und sich überhaupt dem diesseitigen Leben wieder vermehrt zugewandt. Sein Tod überkam ihn dann eher gegen seinen Willen. Novalis ist aber "ruhig" und "sanft" gestorben, wie Freund und Zeuge Friedrich Schlegel berichtet.

Bedeutsam ist auch Novalis’ Theorie für die moderne Poetik und Ästhetik geworden. Wenn bis zur Romantik die Nachahmungsästhetik mit ihrem Leitbegriff einer "Nachahmung der Natur" die Ästhetikgeschichte bestimmte, verabschiedete Novalis diese. Über den modernen Künstler und Ästheten schreibt er: "...auch nicht der leiseste Verdacht von Nachahmung kann ihn treffen."

Was setzt Novalis dagegen? Er hat die Philosophie eines Kant und Fichte gründlich studiert und darin einen neuen Begriff des menschlichen Geistes gefunden: und zwar Geist und Bewusstsein als Produktivität. Nicht die Welt lässt einfach einen Abdruck in unserem Gehirn, vielmehr baut sich der menschliche Geist seine Welt nach eigenen Kategorien im Bewusstsein zusammen.

Mit diesem Begriff von Produktivität definiert Novalis die Kunst neu: Der moderne Künstler malt, modelliert, dichtet nicht mehr "nach der Natur", sondern nach eigenen Regeln, jenen einer autarken Einbildungskraft. Mit der Romantik beginnt somit der Siegeszug der Phantasie in der Moderne: Novalis selbst schreibt einen phantastischen Roman wie "Heinrich von Ofterdingen" - mit märchenhaften Motiven wie jenem der "blauen Blume".

Der englische Dichter Coleridge übernimmt den Begriff der "Imagination" ins Englische und definiert ihn als die Fähigkeit, den göttlichen Akt der "Schöpfung" im Ich zu wiederholen. Auch Baudelaire übernimmt die Theorie einer absoluten Schöpfung im Begriff der "imagination créatrice" und polemisiert gegen das "Kopieren" und Nachahmen der Natur. Die Kunstentwicklung von Cézanne über den Kubismus, Expressionismus bis hin zur Abstrakten Kunst war damit vorgezeichnet, folgte sie doch diesem Modell.

Vielfältiger Initiator#

Wir sehen Novalis als Initiator an vielen Wendepunkten der Kulturentwicklung: Das ist gerade nicht die Folge eines "romantischen Irrationalismus", sondern die Folge einer geschichtsphilosophischen Wachheit, die es ihm ermöglichte, die Defizite der europäischen Aufklärung und Zivilisation zu erkennen und zu korrigieren.

Silvio Vietta: Novalis - Dichter einer neuen Zeit
Silvio Vietta: Novalis - Dichter einer neuen Zeit

Novalis kritisiert einen europäischen Nationalismus, der sich in blutigen Kriegen aufreibt, und setzt dagegen eine spirituelle Erneuerung Europas aus dem Geist des Christentums. Er erkennt und kritisiert die Einseitigkeit der modernen Naturwissenschaften und der Naturausbeutung. In "Die Lehrlinge zu Sais" - einer Art Diskurstext über die Natur - lässt er einen der Lehrlinge sagen: "Unter ihren Händen starb die freundliche Natur, und ließ nur tote, zuckende Reste zurück."

Novalis setzt dagegen das Bild einer freundlichen, den Menschen mit jedem Atemzug erhaltenden Natur, und schafft damit, wie erwähnt, den Beginn eines ökologischen Denkens. Nicht der Mensch ist Herr der Natur, wie es Descartes und die rationalistische Aufklärung wollte, vielmehr gehören Mensch und Natur in einer integrativen Einheit zusammen.

"Die Welt muß romantisirt werden", schreibt Novalis, "so findet man den ursprünglichen Sinn wieder." Romantisieren heißt somit: Der Welt wieder einen Sinn geben, die Natur respektieren und verehren und den Menschen als jenen Teil der Natur betrachten, der diese Sinngebung vollziehen kann. Das Göttliche ist nicht nur im Himmel, sondern liegt vor unseren Augen in der Natur, zugleich weist das scheinbar Triviale und Alltägliche über sich hinaus auf das "Höhere", "Unendliche". Die Romantik lehrt uns so auch einen zweiten Blick auf die Erde, auf der wir leben.

Literatur:#

  • Silvio Vietta: Novalis - Dichter einer neuen Zeit. Verlag Königshausen & Neumann, 2021.
  • Silvio Vietta ist Professor em. für Literatur- und Kulturgeschichte an der Universität Hildesheim.
Wiener Zeitung, 1. Mai 2022