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Der Osten als geistige Heimat#

Ein trinationales Ausstellungsprojekt beleuchtet die Russlandreisen, die Rainer Maria Rilke in jungen Jahren unternommen hat, und zeigt deren tiefgreifende Wirkung auf den Dichter.#


Von der Wiener Zeitung (Samstag, 17. Juni 2017) freundlicherweise zur Verfügung gestellt.

Von

Oliver Bentz


Rilke (l.) mit Lou Andreas-Salomé und Spiridon Droshshin
Rilke (l.) mit seiner Reisegefährtin Lou Andreas-Salomé zu Gast bei dem "Bauern-Dichter" Spiridon Droshshin.
Foto: © DLA Marbach

Zwei Mal, im Jahr 1899 für zwei Monate und 1900 für vier Monate, besuchte der Dichter Rainer Maria Rilke in Begleitung seiner zeitweiligen Gefährtin Lou Andreas-Salomé Russland und die heutige Ukraine. Diese Reisen wurden für den 25-jährigen Autor zu einem poetischen und spirituellen Erweckungserlebnis, zur "Wendung ins eigentlich Eigentliche", und sollten - in ihrer Dimension vergleichbar mit der Italienischen Reise Goethes von 1786-1788 - als eine der wirkmächtigsten Auslandserfahrungen eines Autors in die Geschichte der deutschsprachigen Literatur eingehen.

Ein trinationales Projekt des Deutschen Literaturarchivs Marbach, des Staatlichen Literaturmuseums der Russischen Föderation in Moskau und des Schweizerischen Literaturarchivs Bern richtet jetzt den Blick in einer gemeinsamen Ausstellung mit etwa 280 Exponaten auf die beiden Russlandreisen Rilkes und ihre entscheidende Wirkung auf den Dichter.

Unter den über zwanzig Leihgebern für die Schau, die die Berührungen Rilkes mit Russland, mit Landschaft, Menschen, Religion, Malerei, Sprache und Dichtung ausführlich dokumentiert, ragen besonders das private Familienarchiv Rilke im badischen Gernsbach, das etwa ein Drittel der Ausstellungsstücke beisteuert, und das Archiv der Familie Pasternak in Moskau hervor. Viele Schätze aus diesen zwei Archiven werden hier erstmals gezeigt.

Gottsuche#

Nach einer Romreise im Jahr 1898 von einem für ihn zur Hülle erstarrten Katholizismus enttäuscht, reiste Rilke Gott suchend nach Russland, wobei ihm die verehrte mütterliche Geliebte, die 15 Jahre ältere, in Sankt Petersburg geborene Lou Andreas-Salomé, die während der Reisen ihren russischen Wurzeln nachspürte, eine seine Begeisterung befeuernde Begleiterin war. Sie war es, die Rilke mit dem Denken Nietzsches bekannt gemacht und sein Interesse auf ihr Herkunftsland Russland gelenkt hatte, sodass er Russisch zu lernen begann und Turgenjew und Tolstoi im Original las. Auf Lou Andreas-Salomés Wunsch hin änderte er auch seinen Vornamen. Aus "René" wurde "Rainer", da ihr der ursprüngliche Vorname zu feminin und für einen Dichter nicht angemessen erschien.

Die verstreuten literarischen Aktivitäten Rilkes aus seiner Prager und Münchner Zeit, die in ihm immer ein Gefühl des Ungenügens hinterlassen hatten, fanden in der russischen Landschaft, Kunst und Religion ein Ziel, das ihm bis zum Ende seines Lebens Orientierung bot. So schrieb Rilke im Dezember 1899 an seine Mutter, er wolle einen Teil seiner Existenz auf die russische Kultur bauen, die für ihn den Gegenentwurf zum Westen darstellte, der ihm als dekadent und zivilisatorisch erschöpft erschien.

Die intensive Beschäftigung mit den "russischen Dingen", wie er fortan alles nannte, was mit Russland zu tun hatte, hinterließ eine Vielzahl von Spuren in Rilkes Werk, in seiner Prosa und den Gedichten ebenso wie in seinen Essays, Briefen und Tagebüchern. So entstanden in einem wahren Schaffensrausch nach der ersten Russlandreise innerhalb von drei Wochen etwa 60 Gedichte, die fast ausschließlich von seinem Russlandaufenthalt inspiriert sind. Dort war Dichtung für Rilke zu einem Akt der Versenkung geworden. So ist auch ein Teil seines von 1899 bis 1903 unter den Russlandeindrücken geschriebenen "Stundenbuches" einem Gebetbuch nachempfunden.

Mit dem 20. der "Sonette an Orpheus" (1922) und der "Elegie an Marina" (1926) widmete Rilke herausragende Gedichte gerade auch jenen Frauen, die am Beginn und am Ende seines Russlanderlebens standen: Lou Andreas-Salomé und Marina Zwetajewa.

Der in die Weltliteratur eingegangene, am Ende von Rilkes Lebens geführte, nur vier Monate dauernde Briefwechsel mit der geistesverwandten russischen Dichterin Marina Zwetajewa, der mit dem Tod Rilkes im August 1926 endete, wird in der Ausstellung an Hand der Originalbriefe dokumentiert. "Rilke war mein letztes Deutsch, wie ich sein letztes Russland war", wird Zwetajewa später resümieren.

Religion, die überwältigende Natur der Wolga und die russische Kunst bestimmten als zen-trale Momente die beiden Reisen Rilkes. Die Schläge von Iwan Welikij, dem höchsten Glockenturm im Moskauer Kreml, waren es, die in ihm 1899 sein erstes Erweckungserlebnis hervorriefen: "Mir war ein einziges Mal Ostern", schrieb er später in einem Brief an die einstige Reisegefährtin Lou, "das war damals in jener langen, ungewöhnlichen ungemeinen, erregten Nacht, da alles Volk sich drängte, und als der Iwan Welikij mich schlug in der Dunkelheit, Schlag für Schlag. Das war mein Ostern, und ich glaube, es reicht für ein ganzes Leben aus."

Bei der zweiten Reise war es die Erfahrung der weiten Wolgalandschaft, die Rilke in ihren Bann schlug und anlässlich deren Erleben er glaubte, "der Schöpfung zugesehen" zu haben.

Besuch bei Tolstoi#

So wurde ihm Russland zur neuen geistigen Heimat. In ihm sah er "die letzte, heimlichste Stube im Herzen Gottes. Seine schönsten Schätze sind darin". In mehreren bekannten Briefen, etwa an den einflussreichen Verleger Alexei Suworin, bekundete Rilke auch die Absicht, nach Russland zu übersiedeln. Zumindest aber fasste er diesen Plan, wollte sich ganz der russischen Literatur und Kunst verschreiben und sie in Deutschland und Österreich ausstellen und publizistisch propagieren.

Eher enttäuschend gerieten Rilkes Pilgerfahrten zum von ihm als "Eingangstor zu Russland" verehrten Lew Tolstoi, den er zweimal auf Jasnaja Poljana, dem Landsitz des Dichters, aufsuchte. Der fast 50 Jahre ältere Tolstoi, der sich von seiner dichterischen Existenz schon verabschiedet hatte, begegnete dem jungen unbekannten Lyriker, dem gerade durch sein Russlanderleben die Dichtung alles geworden war, eher kühl und uninteressiert - eine Tatsache, die Rilke, der die Begegnungen lange verklärte, erst nach geraumer Zeit akzeptierte und Tolstoi nach dieser Einsicht 1924 vorwarf, seine poetische Mission durch die Verfolgung sozialreformerischer Aktivitäten verfehlt zu haben.

Den "Tolstoi-Ersatz" fand Rilke während seiner Zeit in Russland im "Bauern-Dichter" Spiridon Droshshin. In dessen Leben und Werk glaubte er - in völliger Verkennung der sozialen Realität im Land - die von ihm naiv bewunderte Einfachheit des russischen Volkslebens repräsentiert. Die Naivität von Droshshins Versen lässt sich auch oder gerade in der Übersetzung Rilkes kaum verbergen. Einige Zeit nach seiner Rückkehr in den Westen scheint Rilke von ihnen und dem dichtenden Landmann auch genug gehabt zu haben - auf dessen Briefe aus Russland gab er zumindest keine Antwort.

Mit Einblicken in das russische Alltagsleben jener Zeit zeigt die Schau, wie sehr dieses von Rilkes Idealisierung abwich. Um das Landleben kennenzulernen, mieteten er und Lou Andreas-Salomé sich sogar für einige Tage in einer einfachen Bauernhütte, einer Isba, ein. Die Folge davon war der Beginn der Entzweiung der beiden. Durch "zu enge Nähe" war man sich wohl bald auf die Nerven gegangen. "Splitter im Fingernagel und in den Nerven", notierte Lou Andreas-Salomé.

Die zwei Pasternaks#

Während einer Fahrt mit der russischen Eisenbahn traf Rilke den ihm bereits bekannten Maler Leonid Pasternak. Aus dieser Zufallsbegegnung entstanden mindestens acht bisher bekannte Portraits des Dichters aus Pasternaks Hand. Eine Portrait-Bleistiftzeichnung und das postume Rilke-Portrait in Öl vor der Kulisse des Kreml aus dem Jahr 1928 sind in der Ausstellung zu sehen.

Der Maler hatte damals seinen zehnjährigen Sohn Boris dabei, der später ein berühmter Dichter werden sollte und für "Doktor Schiwago" den Literaturnobelpreis erhielt, den er aber auf Druck der sowjetischen Obrigkeit nicht annehmen konnte. Boris Pasternak begriff im Nachhinein diese Kindheitsbegegnung mit Rilke, dem "Mann im schwarzen Tiroler Umhang", als Hinweis auf seine eigene poetische Berufung und stellte dieses Ereignis an den Beginn seiner Autobiografie. Auch sah er, der einmal bekannte, in seinem künstlerischen Schaffen nichts anderes getan zu haben, als Rilke zu übersetzen, sich in einer literarischen Tradition mit Rilke und vereinnahmte diesen für die russische Literatur, als er 1934 erklärte: "Rilke ist ganz russisch. Wie Gogol. Wie Tolstoi."

Durch die Vermittlung der gemeinsamen Freundin Marina Zwetajewa kamen beide Jahre nach der Begegnung im Zug wieder in Kontakt. Und schrieben je einen Brief aneinander. Nach Pasternaks Tod 1960 fand man in seiner Brieftasche einen Umschlag mit der Aufschrift "Das Teuerste". Darin: Der kurze handschriftliche Brief Rilkes, den er Jahrzehnte bei sich getragen hatte.

Rainer Maria Rilke, der unstete Wanderer, der in seinem rastlosen Leben über hundert Wohnsitze hatte, verbrachte seine letzten Lebensjahre von 1921 bis 1926 im schweizerischen Wallis. Im Schloss Muzot, einem Château der Familie Reinhart, hatte er seine letzte Bleibe gefunden. Sein lebenslanger Sehnsuchtsort war aber Russland geblieben: "Dass Russland meine Heimat ist, gehört zu jenen großen und geheimnisvollen Sicherheiten, aus denen ich lebe."

Information#

Die Ausstellung "Rilke und Russland" ist noch bis 6. August 2017 im Literaturmuseum der Moderne in Marbach am Neckar zu sehen. Danach wird die Schau von 15. September bis 10. Dezember 2017 im Schweizerischen Literaturarchiv in Bern sowie dem Museum im Strauhof in Zürich gezeigt. Im Februar 2018 wandert die Ausstellung schließlich ins Staatliche Literaturmuseum der Russischen Föderation in Moskau, wo sie bis April 2018 zu sehen sein wird.

Der Katalog zur Ausstellung "Rilke und Russland" (Marbacher Katalog 69) umfasst 296 Seiten, enthält zahlreiche Abbildungen, und kostet 30 Euro. Der Ausstellungskurator Thomas Schmidt hat in Rilkes Lyrik und Prosa, seinen Essays, Briefen und Tagebüchern nach "russischen Spuren" gesucht und die gefundenen Texte unter dem Titel "Rilke und Russland. ‚Meine geheimnisvolle Heimat‘" in einem Lesebuch versammelt, das im Juli 2017 im Insel Verlag erscheinen wird (300 Seiten, 10,- Euro).

Oliver Bentz, geb. 1969, lebt als Germanist, Ausstellungskurator und Kulturpublizist in Speyer (D).

Wiener Zeitung, Samstag, 17. Juni 2017