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Rainer Maria Rilke 1875-1926#


Mit freundlicher Genehmigung entnommen aus dem Buch: Große Österreicher. Thomas Chorherr (Hg). Verlag Carl Ueberreuter, Wien. 1985.

Rainer Maria Rilke war schlecht für diese Zeit geeignet. Dieser große Lyriker hat nichts getan, als dass er das deutsche Gedicht zum ersten Mal vollkommen gemacht hat; er war kein Gipfel dieser Zeit, er war eine der Erhöhungen, auf welchen das Schicksal des Geistes über Zeiten hinwegschreitet.« Robert Musil ist es gewesen, der so hymnisch über den Dichter schrieb. Und Felix Braun formulierte: »Rainer Maria Rilke ist der einzige Dichter gewesen, der nicht nur Dichter war, wenn er Verse schuf. Ihm waren die Engel nicht ein Schmuck oder Anruf des Gedichts; ihm blieben Geister nicht verhüllt; er hatte teil an zwei Reichen; und wenn dem oder jenem, der ihn einen Augenblick tiefer ansah, grundlos und töricht, Tränen kamen, so geschah das vielleicht nicht über ihn, der nur ein Bote war. Aber das, was hinter dem Dichter ist, das ungeheure Geistesland verrückte seine Grenze Jahr um Jahr mitten durch ihn weiter, und endlich zog es ihn ganz in sich hinein.«

Hymnen fürwahr, die dem Dichter gesungen wurden, Kränze, geflochten einem Lyriker, dessen Namen zum Symbol einer Stimmung geworden ist, ja zum Synonym für Poesie schlechthin. Rainer Maria Rilke ist einer jener Großen der deutschen Sprache, die im Gedicht ihre Erfüllung fanden und selbst dort, wo sie erzählten, die gedichtähnliche Form wählten: Rilkes wohl noch immer populärstes Werk, ein Werkchen eigentlich, »Die Weise von Liebe und Tod des Cornetts Christoph Rilke«, ist wohl das beste Beispiel dafür. Generationen haben es verschlungen, haben die paar Seiten gelesen, auf denen ein Genie der Sprache niedergelegt hat, was für sein gesamtes Werk gelten mag: Empfindsamkeit.

»Als Mahl begann's. Und ist ein Fest geworden, kaum weiß man wie. Die hohen Flammen flackten, die Stimmen schwirrten, wirre Lieder klirrten aus Glas und Glanz, und endlich aus den reifgewordenen Takten: entsprang der Tanz. Und alle riß er hin. Das war ein Wellenschlagen in den Sälen, ein Sich-Begegnen und ein Sich-Erwählen, ein Abschiednehmen und ein Wiederfinden, ein Glanzgenießen und ein Lichterblinden und ein Sich-Wiegen in den Sommerwinden, die in den Kleidern warmer Frauen sind. Aus dunklem Wein und tausend Rosen rinnt die Stunde rauschend in den Traum der Nacht.«

Empfindsamkeit ist dem Dichter gleichsam anerzogen worden. Seine Mutter hatte sich eine Tochter gewünscht, der kleine Rene - der Name Maria ist ihm gegeben worden, um dem mütterlichen Wunsch wenigstens verbal entsprechen zu können - wurde bis zu seinem sechsten Lebensjahr wie ein Mädchen gekleidet. Es war wohl Auflehnung gegen solche Verfremdung, die in ihm den Entschluß reifen ließ, Offizier zu werden. Er war in Prag geboren, besuchte dann in Sankt Polten, später in Mährisch-Weißkirchen Militärschulen - und in der Erziehungsanstalt dort widerfuhr ihm, was auch Robert Musil erfahren hat: die Härte des Drills ließ ihn nach mühevollen Jahren ausscheiden. Er ging nach Linz an die Handelsakademie, weil er noch immer Offizier werden wollte und dieses Ziel als Einjährig-Freiwilliger zu erreichen hoffte.

Und er begann zu dichten, an der Schule noch. Wann genau Rilke den Plan aufgab, sich der militärischen Laufbahn zu widmen, weiß man nicht - er wollte nun studieren, brach aber auch diese Tätigkeit ab und begann sein unstetes Reiseleben, das in einem sonderbaren Kontrast steht zur Innigkeit seiner Gedichte.

Rainer Maria Rilke - der Name Rene wurde bald eingedeutscht - ist ein Multitalent der Sprachkunst gewesen. Er sprach und schrieb deutsch, tschechisch, russisch, französisch, italienisch und dänisch. Er war ein großartiger Übersetzer - so übertrug er Werke von Paul Valéry und André Gide ebenso, wie er Petrarca oder Michelangelo übersetzte. Er dichtete nicht nur in deutscher, sondern auch in tschechischer, russischer, französischer Sprache. Er war ein Kind des Donauraums und vielleicht gerade deshalb ein Großeuropäer, auch in sprachlicher Hinsicht.

Rilke hat schon in jungen Jahren ausgedehnte Reisen nach Rußland unternommen, in Begleitung von Lou Andreas-Salome, der Frau eines Sprachforschers und Tochter eines russischen Generals. Rußland, der europäische Osten, die Begegnung mit Tolstoi, dem »Grafen«, beeindrucken Rilke sehr: »In diesen Tagen tun wir einen großen Schritt auf das Herz Rußland zu«, schreibt er, »nach dessen Schlägen wir schon lange hinhorchen im Gefühl, dass dort die richtigen Taktmaße sind auch für unser Leben.« Und später: »Vielleicht ist der Russe gemacht, die Menschengeschichte vorbeigehen zu lassen, um später in die Harmonie der Dinge einzufallen mit seinem singenden Herzen. Nur zu dauern hat er, auszuhalten und wie der Geigenspieler, dem noch kein Zeichen gegeben ist, im Orchester zu sitzen, vorsichtig sein Instrument haltend, damit ihm nichts widerfahre...«

Es ist diese geistige Symbiose des Ostens mit dem Westen, des Nordens mit dem Süden, die aus dem Dichter Rilke den wahrhaften Europäer macht. Im Norden, in Worpswede unweit Hamburg, hält er sich zwei Jahre in einer Künstlerkolonie auf, er heiratet die Bildhauerin Clara Westhoff, sie schenkt ihm eine Tochter, Ruth, doch Rilke schätzt die Sesshaftigkeit nicht. Zwei Jahre lang lebt er als Privatsekretär des Bildhauers Rodin in Paris - das Französische wird diesem Sprachkünstler zur zweiten dichterischen Heimat. In Paris schreibt Rilke auch »Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge«, ein Prosawerkchen mit autobiographischen Zügen. In Paris durchstöbert er in der Nationalbibliothek Lexika nach ausgefallenen, ungebräuchlichen Wörtern - er will das Schwärmerische auch durch die Sprache manifestieren.

Rilke, der Rastlose: die eigentlichen Höhepunkte seines Schaffens entstehen im Süden des Kontinents und in dessen Herzen. Von der Fürstin Thurn und Taxis eingeladen, hält er sich längere Zeit auf deren Schloß Duino an der Adriaküste bei Triest auf. Dort beginnt er die Duineser Elegien zu schreiben, die er dann in der Schweiz, in Muzot, vollendet. In Muzot schreibt er auch seine »Sonette an Orpheus«, die - ebenso wie die »Elegien« - den Dichter auch als Philosophen ausweisen; manche seiner schwärmerischen Anhänger sehen in ihm fast so etwas wie einen Religionsstifter - die Interpretationen sind zahlreich. »Elegien und Sonette unterstützen einander beständig, und ich sehe eine unendliche Gnade darin, dass ich, mit dem gleichen Atem, diese beiden Segel füllen durfte: das kleine rostfarbene Segel der Sonette und der Elegien riesiges weißes Segeltuch«, schreibt er.

Rainer Maria Rilke hat die Elegien 1922 vollendet; der Dichter wusste, welcher Wurf ihm gelungen war: »Eben, Samstag, den elften, um sechs Uhr abends, ist sie fertig! - Alles in ein paar Tagen, es war ein namenloser Sturm, ein Orkan im Geist (wie damals auf Duino), alles was Faser in mir ist und Geweb, hat gekracht - an Essen war nie zu denken, Gott weiß, wer mich genährt hat. Aber nun ist's. Ist. Ist. Amen.« In so begeisterten Worten berichtete Rilke der Fürstin Thurn und Taxis die Vollendung, 1922, im »Annus mirabilis«, wie manche Literaturhistoriker meinen - damals haben T. S. Eliot, James Joyce und Paul Valery ihre bedeutendsten Werke geschaffen, gleichzeitig fast, inmitten einer Art von Treibhausatmosphäre europäischer Kultur.
Sie bildete sich nach dem großen Krieg, den Rilke - notabene - nie verherrlicht hat, anders als seine literarischen Zeitgenossen aus Österreich. »Wer spricht von Siegen? Überstehn ist alles«, sagte er, schrieb er, meinte er - eines der klügsten Rilke-Worte. Sie hat Rudolf Kassner in einen direkten Bezug zum Äußeren des Dichters gesetzt: »Rilkes Gesicht hörte im Mund auf, mündete im Mund, ward hier Mündung. Nach oder unter einem solchen Mund gibt es kein Kinn mehr, das in Betracht käme. Dieser große Mund, der da war, damit die Worte in einem Großen, Größeren, Allgemeinen mündeten, hatte etwas Krankes, Totes. Wie stimmt das nicht zu seiner Lehre, dass jeder seinen eigenen Tod sterben, seinen eigenen Tod gebären sollte!«

Rainer Maria Rilke starb seinen eigenen Tod mit 51 Jahren. Er erlag einer damals noch wenig bekannten Form von Leukämie. »Ich, der ich ihm nie recht ins Gesicht sehen mochte, lerne, mich mit dem inkommensurablen, anonymen Schmerz einrichten. Lerne es schwer, unter hundert Auflehnungen, und so trüb erstaunt«, schreibt er kurz vor seinem Hinscheiden. Man hat ihn, seinem Wunsch gemäß, in der Schweiz begraben, im Kirchhof von Raron. Der Blick schweift von dort ins Rhonetal. Man sieht Berge, Ebene - und einen weiten Himmel.


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