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Versuchsstation für Weltanfänge#

Über das "Tuzzi-Prinzip" und die "Verösterreicherung der Welt" - oder wie Robert Musil und Jörg Mauthe einen literarischen Weg wiesen, wie mit Krisen und Zeitenwenden dienstpragmatisch umzugehen ist.#


Mit freundlicher Genehmigung übernommen aus der Wiener Zeitung (Sa./So., 23./24. Juli 2011)

Von

Andreas Schindl


Um es gleich vorweg auf den Punkt zu bringen: Wir stehen vor einer Zeitenwende. Denn die Zeichen der Krise, der großen Hitze oder wahlweise der großen Kälte verdichten sich. Und es droht die Gefahr, dass diese Wende nicht friktionsfrei ablaufen könnte. Denn immer dann und dort, wo das ungesunde Extreme die gesunde Balance verdrängt, folgen Umwälzung, Umsturz oder Untergang. In einer Zeit, in der es gilt, extrem (erfolg)-reich oder, wenn das nicht klappt, zumindest extrem (ehr)-geizig zu sein, scheinen jene, die eine Besinnung auf die Mitte propagieren, hoffnungslos altmodisch. Doch genau dieses Wiederfinden der (eigenen) Mitte könnte den Weg aus der Krise bedeuten.

Neue Aufklärung#

Der Freizeitforscher und Präsident der Mittelstandsvereinigung Österreichs Peter Zellmann hat vergangenes Jahr davon gesprochen, dass wir angesichts der aktuellen Zeitenwende eine neue Aufklärung brauchen. Eine ähnliche Meinung äußerte kürzlich auch der deutsche Autor und Philosoph Richard David Precht in einem Artikel, als er eine dritte Aufklärung forderte. Bereits in den 1970er Jahren vertrat der österreichische Schriftsteller und Politiker Jörg Mauthe die Ansicht, dass eine solche Form der Aufklärung in der Anwendung typisch österreichischer Eigenschaften (er nannte es die "Verösterreicherung") bestehen könnte. Oder anders gesagt: in der Realisierung dessen, was der Legationsrat erster Klasse Dr. Tuzzi verkörpert.

Nicht nur am österreichischen Wesen soll die Welt genesen: Außenminister Michael Spindelegger überreicht dem Staatspräsidenten von Uganda, Yoweni Museveni, eine Sachertorte

Wer ist Tuzzi? - #

Die Tuzzis stammten ursprünglich aus Norditalien, dem Veneto vermutlich, waren aber "schon seit vier oder fünf Generationen keine Italiener mehr und hatten sich wahrscheinlich ungeachtet ihres Namens, ihrer Sprache und Herkunft schon vorher niemals als solche betrachtet, sondern als Österreicher, als Leute des Kaisers, wenn man es genauer sagen will oder, um es abstrakter und noch genauer zu sagen, als Menschen, die sich einem höheren Prinzip zu- und untergeordnet fühlten..." (Jörg Mauthe, "Die große Hitze").

Der erste Tuzzi, der für die Geschicke Österreichs Bedeutung erlangte, war jener Sektionschef des Außenministeriums namens Dr. Hans Tuzzi, in dessen Salon anlässlich des 70-jährigen Jubiläums der Thronbesteigung von Kaiser Franz Joseph die vielzitierte "Parallelaktion" geplant wurde, der aber aus bekannten historischen Gründen die Verwirklichung versagt geblieben ist. Robert Musil hat ihn in seinem Roman "Der Mann ohne Eigenschaften" vor allem als äußerst geschickten Diplomaten beschrieben. Der Sektionschef machte auch beträchtliche Mittel zur logistischen Unterstützung der Parallelaktion locker "woraus sich schließen lässt, dass er darauf aus war, sich neuer, geistiger diplomatischer Methoden zu bedienen" (Robert Musil, "Der Mann ohne Eigenschaften").

Tuzzis Aussage: "Natürlich ist es komplizierter", beweist, dass er die Quintessenz dessen, was Österreich ausmacht, destilliert hat, und rückt darüber hinaus den fast gleichlautenden Satz von Fred Sinowatz, für den er immer wieder kritisiert wurde, in ein völlig anderes Licht.

Die bei der Planung der Parallelaktion auftretenden Spannungen werden von Tuzzi in bewährter Weise dissimuliert, und schließlich werden sowohl die Abhaltung einer Friedenskonferenz als auch die Aufrüstung der Artillerie zum Ziel des Unternehmens erklärt. Wie kaum ein anderer vermag der Sektionschef die Vereinbarkeit der Gegensätze zu bewirken. Musils Titelfigur Ulrich meint dazu treffend, dass "sich Tuzzi nie so eindeutig ausdrücke". Er ist damit ein Paradebeispiel für jene Österreicher, die intuitiv (oder in seinem Fall wohl eher intellektuell) erkannt haben, dass das Maß aller Dinge die Mitte ist.

Die gesunde Mitte#

Damit soll keineswegs der hier zu oft gehuldigten nach unten nivellierenden Mittelmäßigkeit das Wort geredet werden. Vielmehr ist das Thomistische Maß, die Erhöhung im Ausgleich, der durch die Überwindung von Gegensätzen zustande kommt, gemeint. Aus heutiger Sicht entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, dass Musil ausgerechnet den Bankdirektor (!) Leo Fischel darüber sagen lässt: "Die Wahrheit liegt nämlich immer in der Mitte, und das vergessen heute alle, wo man nur extrem ist". Peter Zellmann hat übrigens diese gesunde Mitte, diese Vereinbarkeit des scheinbar Unvereinbaren, kürzlich in einem Vortrag als Ganzheitlichkeit oder als das "Sowohl als auch" bezeichnet. Interessanterweise verwendet Jörg Mauthe in seinem Buch "Der Weltuntergang zu Wien" exakt diese drei Worte als Definition des Liberalen!

Mauthe, der die Geschichte des Neffen des Musilschen Tuzzi aufgezeichnet hat, weiß von ihm, der auch eine Laufbahn als Beamter im Außenministerium eingeschlagen hatte, zu berichten, dass bei ihm "das Humane mit dem Beamtenhaften [...] eine höhere Einheit eingegangen ist", und dass er bei der Erfüllung seines Auftrages zur Rettung der Republik bereit war. "bis zum äußersten des eben noch Möglichen" (Mauthe, "Die große Hitze") zu gehen. Sein Vater, General in der k. u. k. Armee und Träger des Maria-Theresien-Ordens, war früh gestorben und seine Mutter in den Gefängnissen der Gestapo umgekommen. Daher hatte der schon bei Musil erwähnte Onkel die Erziehung des jungen Tuzzi übernommen.

Tuzzis Lebensaufgabe#

In den 1970er Jahren war der Legationsrat erster Klasse Dr. Tuzzi als Vorsitzender des "Interministeriellen Komitees für Sonderfragen" tätig, als ihm die Aufgabe seines Lebens gestellt wird. Damals gab es nämlich in Österreich und weiten Teilen Mitteleuropas eine lang anhaltende Dürreperiode, die im dritten Jahr bedrohliche Ausmaße angenommen hatte. Tuzzi wird von der Bundesregierung unter Kanzler Bruno Kreisky beauftragt, Maßnahmen zur Beschaffung von Wasser zu ergreifen.

Wie sich herausstellt, besteht die einzige Möglichkeit zur Verhinderung des Kollaps’ in der Kontaktaufnahme diplomatischer Beziehungen mit einer im Verborgenen agierenden Gesellschaft hervorragender Männer, die noch über Zugang zu Wasser verfügen. Bei der Suche nach diesen und bei den Verhandlungen mit denselben erhält der Legationsrat Hilfe durch eine junge Frau namens Maria. Sie wird im weiteren Verlauf zur Verkörperung des "weiblichen" Prinzips. Die Errettung der Republik gelingt schließlich durch die Vereinigung des strebend sich bemühenden Beamten Tuzzi mit dem "freundlichen" Wesen Marias.

Einige Zeit später taucht Dr. Tuzzi in der illustren Bewundererschar Marias, die mittlerweile eine Mitarbeiterin Mauthes geworden ist, wieder auf (in: Jörg Mauthe, "Die Vielgeliebte"). Dann bleibt es lange still um den Legationsrat. Das nächste Mal tritt Tuzzi, der nach dem Tod seiner (Viel)-Geliebten geheiratet hat, und zwar "glücklich geheiratet, wie er hinzufügt (nur freilich mit jener haarfeinen Nuancierung des Tons, die nur im Wienerischen möglich ist und die andeutet, dass es sich klarerweise nur oder auch Gottseidank um ein Glück sekundärer Größe, aber doch wieder auch um das Maximum dessen handelte, was nach allem schon Erlebten erreichbar gewesen war", in: Mauthe, "Demnächst") wieder in Erscheinung, als er Jörg Mauthe kurz vor dessen Tod im Krankenhaus besucht.

Das schon erwähnte "bis zum äußersten des eben noch Möglichen" und dieses "Maximum dessen, was nach allem schon Erlebten erreichbar gewesen war" erinnert sehr an Existenzielles und an Camus’ Roman "Die Pest", wo es am Ende heißt: "Und doch wusste er, dass dies nicht die Chronik des endgültigen Sieges sein konnte. Sie konnte nur das Zeugnis dessen sein, was man hatte vollbringen müssen und was ohne Zweifel noch alle jene Menschen vollbringen müssen, die trotz ihrer inneren Zerrissenheit gegen die Herrschaft des Schreckens und seine unermüdlichen Waffen ankämpfen, die Heimsuchungen nicht anerkennen wollen, keine Heiligen sein können und sich dennoch bemühen, Ärzte zu sein."

Zurück zum Legationsrat Dr. Tuzzi. Man erfährt von ihm weiter, dass er "zu allererst und immer wieder Österreicher" ist. Da eine Erörterung über das Wesen Österreichs schon seit einigen Dezenien vom "Interministeriellen" versucht wird, ohne dass ein abschließendes und verbindliches Ergebnis vorliegen würde, scheint es mir angebrachter, von Tuzzi und seinen Eigenschaften auf ein höheres Prinzip zu extrapolieren.

Eine weitere wichtige Eigenschaft des Legationsrats ist seine stets freundliche Desinvolture. Damit ist die distinguierte, bescheidene Selbstsicherheit gemeint, die in seiner ungezwungenen, vornehm-diskreten Geisteshaltung zum Ausdruck kommt. Tuzzi ist zwar Beamter, aber bei ihm sind formal korrektes Denken und instinktiv menschliches Handeln im idealen Verhältnis zueinander vorhanden. Daraus resultiert eine "Persönlichkeit von Würde, hohem Format und männlicher Tugen", und "einem Mann wie Tuzzi öffnen sich immer Aus- und Umwege" (Mauthe, "Die Vielgeliebte"). Als gelernter Österreicher hat er erkannt, dass der Erfolg nicht unbedingt entscheidet.

Pragmatischer Geist#

Die Rettung der Republik gelingt Tuzzi auch deshalb, weil er in der Lage ist, die starre Maria Theresianische Kanzleiordnung mit dem pragmatischen Geist des Beamtentums der Donaumonarchie zu vereinen. Dessen höhere Vertreter hatten ihre Laufbahnen traditionellerweise, ähnlich wie Offiziere und Schauspieler (!), oft in Galizien oder anderen entlegenen Winkeln des Habsburger Reiches begonnen und waren demgemäß polyglott und weltoffen. Der sich daraus ergebenden Vorteile sind sich die ehemaligen Kronländer übrigens eher bewusst als wir Österreicher, wie der Präsident des Instituts für den Donauraum und Mitteleuropa Erhard Busek kürzlich meinte.

Dass Österreich für Europa eine bedeutende Vorbildrolle haben kann (und sollte), wurde kürzlich vom Generaldirektor der OECD bestätigt. Möglicherweise hat das aber schon Papst Paul VI. erkannt, als er anlässlich einer Audienz zu Bundespräsident Franz Jonas sagte: "Sie leben auf einer Insel der Seligen. Die sozialen Verhältnisse und der innere Friede in Österreich können vorbildlich für die ganze Welt sein."

Auch wenn das Interministerielle Komitee noch keinen Abschlussbericht über dieses Papstwort vorgelegt hat, so scheint es doch, dass der Heilige Vater damit der Verösterreicherung der Welt das Wort geredet hat. Und ich bin der Meinung, dass nicht nur diese, sondern auch unser Land selbst eine solche wieder dringend nötig hat. Es wäre das Schlechteste nicht, würden auch wir Österreicher uns wieder auf das besinnen, was wir einst so gut konnten.

"Die Verösterreicherung beginnt also (und endet) mit der plötzlichen und beglückenden Erkenntnis, dass nichts mehr wichtig oder vielmehr: dass alles gleich wichtig oder unwichtig ist" ("Die große Hitze"). Haben wir diesen antidogmatischen Pragmatismus, der an die Weisheiten des Zen-Buddhismus erinnert, wieder verinnerlicht, wird vieles leichter funktionieren!

Die gute Nachricht ist: Die Verösterreichung ist wieder im Gange. Denn überall auf der Welt gibt es einzelne oder auch Gruppen von Österreichern, die mit charmanter Freundlichkeit tagtäglich die von Kaiser Maximilan II ausgegebene Parole: "Konflikte sind zu dissimulieren" anwenden und dabei wahrscheinlich deshalb erfolgreich sind, weil sie diese "Bemühungen unter den bedeutendsten Satz gestellt [haben], den je ein menschliches Wesen formuliert hat", nämlich: "Der Erfolg entscheidet NICHT" (Mauthe, "Nachdenkbuch für Österreicher").

Zwei Beispiele für den österreichischen Weg:#

Die österreichische Sozialpartnerschaft entstand als typisch österreichisches - und daher informelles - Modell der politischen Entscheidungsfindung unter Einbeziehung so gegensätzlicher Institutionen wie der Wirtschaftskammer, der Landwirtschaftskammer, des ÖGB und der Arbeiterkammer deshalb, weil Schwarze und Rote, während sie gemeinsam in den KZs der Nazis saßen, beschlossen hatten, dass sich so etwas nie wiederholen dürfe. Über die Große Koalition, die die schlechteste Regierungsform nicht war und auch noch sein könnte, schrieb Jörg Mauthe einmal, dass sie "jede Partei in die nicht unangenehme Lage versetzte, gleichzeitig sowohl Regierungs- als auch Oppositionspartei zu spielen. Ein Zustand, der theoretisch völlig unmöglich war, in der Praxis aber jahrzehntelang tatsächlich funktionierte" (Mauthe, "Wiener Knigge"). Ein weiterer Beweis für die Vereinbarkeit des scheinbar Unvereinbaren!

Der jahrzehntelangen Kleinarbeit des Außenministeriums, dessen aktueller Chef sein amerikanisches Pendant, das noch dazu am österreichischen Nationalfeiertag Geburtstag hat, äußert medienwirksam mit Sacher-Torte einkocht, ist es auch zu verdanken, dass es Österreich 2008 schon im ersten Anlauf gelungen ist, als eines der nicht ständigen Mitglieder in den UN-Sicherheitsrat gewählt zu werden.

Prüfungsstoff Mauthe!#

Wie mir ein Beamter des Außenministeriums erzählte, hat unser kleines Land dort in alter Tradition gute Figur gemacht. Derselbe junge Mann versicherte mir übrigens kürzlich, dass er selbstverständlich sowohl mit Musils "Mann ohne Eigenschaften" als auch Mauthes Tuzzi vertraut sei. Als er mein Erstaunen bemerkte, erklärte er mir, dass österreichische Literatur im Allgemeinen und Musil und Mauthe im Speziellen Teil des Stoffes seien, der vor einer Aufnahme ins Ministerium geprüft werde!

Durch die Anwendung des Tuzzi-Prinzips könnte der Karl Kraus’sche Kassandraruf, wonach Österreich "die Versuchsstation des Weltunterganges" sei, konterkariert und unser Land zur Versuchsstation für Weltanfänge werden.

Postskriptum:#

Als ich mit der Abfassung dieses Essays fast zu Ende war, überkam mich aus lauter Übermut die Idee, für Dr. Tuzzi ein Profil auf facebook anzulegen. Zu meiner großen Überraschung war ein solches schon vorhanden. Wenn das der Legationsrat wüsste!

Andreas Schindl, geboren 1968 in Wien, hat Medizin und Photobiologie studiert. Neben seiner Tätigkeit als Hautarzt in Wien schreibt er seit einigen Jahren Kolumnen und Kommentare zu gesundheits- und gesellschaftspolitischen Themen in diversen Zeitungen. Mit Jörg Mauthe und dessen Werk verbindet ihn sein kritisches Interesse an Österreich.

"Die große Hitze oder Die Errettung Österreichs durch den Legationsrat Dr. Tuzzi" heißt der Roman von Jörg Mauthe, auf welchen in diesem Essay vielfach Bezug genommen wird - und der, ebenso wie der Roman "Die Vielgeliebte", aus Anlass des 25. Todestags des Wiener Autors, Journalisten und Politikers heuer in der Edition Atelier wieder neu aufgelegt wurde. Nähere Informationen unter: www.editionatelier.at/joerg-mauthe.html

Wiener Zeitung, (a./So., 23./24. Juli 2011)