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Wiener Existenzialismen#

Jean-Paul Sartres Dramen waren im Wien der Nachkriegszeit sehr beliebt, aber einmal untersagte der Autor selbst die Aufführung eines seiner Stücke.#


Von der Wiener Zeitung (27. September 2020) freundlicherweise zur Verfügung gestellt

Von

Hermann Schlösser


Jean-Paul Sartre (um 1967)
Jean-Paul Sartre (um 1967) .
Foto: www.flickr.com. Aus: Wikicommons

Der existenzialistische Kult der 50er Jahre hatte auch in Wien seine Anhänger. Da gab es zum Beispiel den bis heute berühmten Art Club, zwischen 1947 und 1959 ein Sammelpunkt vor allem für bildende Künstler und Künstlerinnen. Im Kärntner Durchgang, einer kurzen Gasse im ersten Bezirk, hatte der Club einen Kellerraum gemietet, der am Tag als Galerie diente, in der Nacht als Lokal, in dem Konzerte und Dichterlesungen stattfanden. Der Keller lag unter der von Adolf Loos entworfenen "American Bar" und wurde "Strohkoffer" genannt.

Alfred Schmeller, ein Initiator des Art Club, meinte später ironisch: "Wir dachten an ein Existenzialistenlokal, ohne dass irgendjemand genau gewusst hätte, was das ist, außer dass es verraucht ist und man beisammen sitzt und sich unterhält." Diese Bemerkung untertreibt wahrscheinlich ein wenig, aber dennoch trifft Schmeller etwas Wahres. Es gehörte nämlich in den 50er Jahren nicht viel dazu, um existenzialistisch aufzutreten. Die Schauspielerin Ingrid Burkhard berichtete kürzlich in einem Fernsehrückblick auf die Nachkriegszeit amüsiert, sie habe als junge Frau irgendwo gehört, schwarze Kleidungsstücke seien existenzialistisch. Also habe sie einen schwarzen Rollkragenpullover angezogen und sich sofort sehr viel freier und wesentlicher gefühlt.

Star der Kellerbühnen#

Auch die Keller-, Bar- und Nikotin-Atmosphäre der vielen Wiener Kleinbühnen war auf Existenzialismus eingestellt. Es wurde geraucht und diskutiert und die Dramen Jean-PaulSartres wurden auch gespielt. Darin unterschied sich Wien nicht von anderen Städten: Ein Favorit aller internationalen Kellerbühnen war "Huis Clos", das im deutschsprachigen Raum unter den Titeln "Bei geschlossenen Türen" und "Geschlossene Gesellschaft" bekannt war. In Wien war das Stück in fünf Inszenierungen zu sehen. Doch wurde auch "Tote ohne Begräbnis" aufgeführt, "Die ehrbare Dirne" und sogar einmal Sartres Filmdrehbuch "Im Räderwerk".

Mindestens so viel Aufsehen wie diese Inszenierungen erregte jedoch eine Aufführung, die nicht stattgefunden hat. Im Dezember 1952 wollte das "Theater am Parkring" Sartres Drama "Die schmutzigen Hände" spielen, das Ensemble unter Erich Neubergs Regie war schon mitten in der Probenarbeit - da untersagte der Autor selbst kurzerhand die Wiener Produktion seines Stücks.

Es waren weder kommerzielle noch künstlerische Gründe, die Sartre zu diesem Schritt veranlassten, sondern einzig politische Bedenken gegen sein eigenes Werk: "Les mains sales", 1948 in Paris uraufgeführt, spielt in einem fiktiven Staat auf dem Balkan gegen Ende des Zweiten Weltkriegs. Der Intellektuelle Hugo hat sich den Kommunisten angeschlossen, um seine bourgeoise Vergangenheit hinter sich zu lassen. Er wird von der misstrauischen Partei nur als Journalist eingesetzt, sehnt sich aber nach einem Auftrag, der ihm die Chance gäbe, die Genossen von seiner Entschlossenheit zu überzeugen.

Buchcover: Welttheater auf engem Raum
Buchcover: Welttheater auf engem Raum

Als Hoederer, ein hoher Funktionär der Partei, in Widerspruch zur Parteilinie gerät und deshalb sterben soll, übernimmt Hugo freiwillig die Aufgabe, den Mord zu begehen. Er wird Hoederers Sekretär, ist aber von der Intelligenz, der Persönlichkeit und dem Pragmatismus seines neuen Chefs so beeindruckt, dass er das Attentat immer weiter hinauszögert. Erst als der mächtige Funktionär versucht, Hugos Frau Jessica zu verführen (wobei nicht ausgeschlossen ist, dass es auch umgekehrt sein könnte), fällt der so lang vermiedene Schuss. Die Partei ist mit Hugo zufrieden, weil es ihm gelungen ist, den politischen Mord als Eifersuchtstat zu tarnen.

Er selbst aber kann die Zweifel an der Redlichkeit seines Mordmotivs nicht unterdrücken. Zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt, lernt er in der Haft, sich selbst als Mörder anzunehmen. Nach zwei Jahren wird er wegen guter Führung begnadigt, muss aber erfahren, dass die Partei auf Druck der Sowjetunion mittlerweile genau die Linie eingeschlagen hat, die Hoederer das Leben kostete. Der einstige Abweichler ist rehabilitiert, sein Mörder im Unrecht. Hugo könnte in der Partei weiterarbeiten, aber nur, wenn er sich eine neue Identität zulegen und die Hintergründe des Mords für immer verschweigen würde. Zu dieser Verleugnung seiner Lebenswahrheit ist der Intellektuelle Hugo nicht bereit. Er stuft sich also selbst im letzten Wort des Dramas als "nicht verwendungsfähig" ein und gibt damit den Genossen die Erlaubnis, ihn zu töten.

Tragik oder Politik#

Theatergeschichtlich betrachtet, zeigt sich hier in zeitgenössischem Kostüm jener Konflikt zwischen individueller Freiheit und objektiver Notwendigkeit, der aus der europäischen Dramatik wohlbekannt ist. Aktuell politisch aufgefasst, analysiert das Stück jedoch einen brutal-zynischen Machtkampf mit tödlichen Folgen innerhalb der kommunistischen Partei. Diese zweite Lesart unterstellt dem Stück im Gegensatz zur ersten eine politische Wirkungsabsicht. Sartre hat jedoch mehrmals erklärt, dass er mit dem Drama keine antikommunistische Tendenz verfolgt habe.

Im Jahr 1952 entschloss sich Sartre zu einem deutlichen Votum für die Kommunisten, und Wien war der Ort, an dem er dies kundtat. Er trat als einer der prominentesten Redner auf dem "Völkerkongreß für den Frieden" auf, der vom 12. bis zum 19. Dezember im Wiener Konzerthaus stattfand. 1.880 Delegierte aus 85 Ländern waren angereist, um ein starkes internationales Votum für den Frieden und die Völkerfreundschaft abzugeben. Veranstaltet wurde diese Tagung vom "Weltfriedensrat", der sich zwar überparteilich gab, aber von der UdSSR kontrolliert wurde. Gemäß dem Sprachgebrauch der Ost-West-Konfrontation waren "Friedenskongresse" immer kommunistisch-östlich dominiert, "Freiheitskongresse" hingegen kapitalistisch-westlich.

Sartre trat in diesem Rahmen ausdrücklich nicht als Sprecher irgendeiner Partei auf, sondern als Einzelner, der den Friedensappell nur unterstütze, weil er ihn selbst für richtig halte. Dennoch wollte er nicht zulassen, dass zur selben Zeit in einem Wiener Theater "Die schmutzigen Hände" aufgeführt wurde, weil das Stück geeignet war, seine prokommunistische Äußerung ins Zwielicht zu rücken. Sartres Auftritt auf dem Kongress, aber auch sein Eingriff in die Programmplanung eines Theaters wurde als opportunistische Unterwerfung unter die Parteiräson der Kommunisten verstanden. Die österreichischen Medien schwiegen den Kongress systematisch tot, aber in der deutschen Wochenzeitung "Die Zeit" kommentierte Günter Steffen den Auftritt Sartres in jener polemischen Schärfe, die zum Umgangston des Kalten Kriegs gehörte:

"Auch der ‚Mann an der Schwelle‘, wie die Ahnungsvollen den Verfasser der ‚Schmutzigen Hände‘ schon immer genannt hatten, wollte den fatalen Schritt in das ‚Lager des Friedens‘ nun nicht mehr länger hinauszögern. Natürlich war er schlau genug, gegen sein Stück, das ein instinktloser Regisseur just in dem Augenblick in Wien auf die Bühne bringen wollte, als der Autor ein viel wirkungsvolleres Schauspiel im Sinn hatte, noch rechtzeitig sein Veto einzulegen. Mehr durfte man von ihm nicht verlangen. Es war ein erster Schritt zur ‚Selbstkritik‘. Seine Rede war ein zweiter. Der Meister der Dialektik sprach schleppend und schwer - wie unter der einschläfernden Wirkung einer ungewohnten ‚Wahrheits‘-Droge."

Der Verdacht, der Kongressredner folge nicht seinen eigenen Absichten, wird in einem späteren Absatz des langen Artikels zu dem Vorwurf zugespitzt, Sartre habe seine Philosophie (die doch eine der Freiheit sei) aufgegeben, und sei zur Gegenseite übergelaufen, die zwar von Frieden rede, aber etwas anderes meine.

Hans Weigel, nicht gerade ein Freund der Linken...
Hans Weigel, nicht gerade ein Freund der Linken...
Foto: © IMAGNO/Franz Hubmann

Zwei Jahre nach diesem umstrittenen Auftritt wurden "Die schmutzigen Hände" im Wiener Volkstheater gezeigt. Diese mit dem Verlag vertraglich abgesicherte Aufführung konnte Sartre nicht verhindern, er erklärte aber auf einer Pressekonferenz im Hotel Sacher, sein Stück dürfe in Zukunft "an neuralgischen Punkten des Kalten Kriegs" nicht mehr aufgeführt werden. Es sei zwar keineswegs antikommunistisch, böte aber doch Anlässe zu Missverständnissen. Ironisch kommentierte "Die Zeit" diesen Auftritt Sartres:

"Auf die Frage, warum sein Stück, wo es doch keine antikommunistische Tendenz habe, von der Linken so wütend angegriffen werde, erklärte er, auch die Linke habe seine ‚Schmutzigen Hände‘ mißverstanden, und, haben nicht auch wir ihn mißverstanden, so ist er der einzige, der sich recht verstanden hat. In Wirklichkeit war Herr Sartre bei dieser Wiener Pressekonferenz nicht mißzuverstehen, sondern höchstens zu bedauern."

Autor und Figur#

Radikaler ging Hans Weigel mit Sartre ins Gericht. Er, der zu den kompromisslosen Antikommunisten gehörte, zog eine direkte Parallele zwischen dem Dramatiker und dessen Kunstfigur: "Wie Hugo bettelt Sartre darum, ernstgenommen zu werden. Er ist zu allen Schandtaten bereit und sieht nicht, was er selbst schon dargestellt hat: die unausweichliche, selbstmörderische Konsequenz seiner Beschmutzung."

An solchen Zitaten lässt sich studieren, wie einem Autor die Deutungshoheit über sein Stück entgleitet. Was auch immer Sartre sagen mochte, "die Anderen" verstanden "Die schmutzigen Hände" jedenfalls als antikommunistische Positionierung. Die Erklärungsversuche des Autors erschienen als nachträgliche Manöver, die davon ablenken sollten, dass der berühmte Intellektuelle seine eigenen Intentionen verraten habe ("Verrat", das ist ein Zentralbegriff aus dem Wörterbuch aller ideologischen Konfrontationen).

Hermann Schlösser ist Literaturwissenschafter und war Redakteur im "extra".

Dieser Artikel ist ein leicht gekürzter Auszug aus dem Buch "Welttheater auf engem Raum. Die Entdeckung der internationalen Moderne auf den Wiener Kellerbühnen der Nachkriegszeit". In dieser kulturgeschichtlichen Studie porträtiert Hermann Schlösser die Wiener Kleinbühnen der Jahre 1945 bis 1955. Ensembles werden vorgestellt, Schauplätze und Spielpläne rekonstruiert und wichtige Stücke des internationalen Repertoires genauer untersucht. Das Buch ist im Klever Verlag, Wien, erschienen.

Wiener Zeitung, 27. September 2020