Streitbarer Aufdecker #
Zum 100. Geburtstag des „Psychiaters der Nation“: Erwin Ringels Kritiklust und Debattierkunst fehlen heute besonders. Gespräch mit einstigen Weggefährten. #
Freundlicherweise zur Verfügung gestellt von: Die Furche (22. April 2021)
Von
Martin Tauss
Es gibt Tage, die brennen sich lichterloh ins Gedächtnis ein. Arnold Mettnitzer hatte am 10. Juni 1991 ein solches Erlebnis. Der aus Kärnten stammende Theologe und Seelsorger begann damals eine „psychotherapeutische Selbsterfahrung“, die in seiner langjährigen Ausbildung zum Psychoanalytiker vorgesehen war. 350 Stunden lang musste er sich dafür selbst auf die Couch legen, um seine Innenwelt zu erkunden. Genau genommen reichte ein Sessel, denn die Ausbildung folgte nicht dem Freudʼschen Programm der Psychoanalyse, sondern der Individualpsychologie nach Alfred Adler. „Setzen Sie sich, und fangen Sie an zu erzählen“, lud ihn also sein Lehrtherapeut in der ersten Stunde ein. „Da ist es tsunamiartig aus mir herausgebrochen“, erinnert sich Mettnitzer. „Die 50 Minuten waren blitzschnell vorbei: Noch nie in meinem Leben habe ich einem Menschen so rückhaltlos über mich erzählt.“ Dieser Mensch war Erwin Ringel – ein leidenschaftlicher Arzt, kunstsinniger Therapeut, sozial und politisch engagierter Redner und Autor, der im Österreich der frühen 1990er Jahre bereits als „Psychiater der Nation“ tituliert wurde.
Für Mettnitzer, heute selbst Psychotherapeut und bekannter Buchautor, bedeutete die Begegnung mit Ringel mehr als bloß die Ahnung vom Potenzial der Gesprächstherapie. Es war eine Initialzündung, eine „Wegkreuzung des Lebens“, ja eine „Neugeburt“, wie er heute sagt. Er sei vom Seelsorger zum Therapeuten geworden, und damit habe sich eine rein kirchliche Leidenschaft in eine zutiefst weltliche verwandelt. „Ich spürte eine überwältigende Freude, angenommen und angekommen zu sein. Um dieses Glücksgefühl länger auskosten zu können, fuhr ich darauf sogar einen Umweg von Wien zurück nach Klagenfurt.“
Psychohygiene für die Gesellschaft#
Ringel ging es damals freilich nicht nur um individuelle Therapie; er hatte sich auch schon an einer kollektiven Diagnose der Nation versucht, „um Heilung zu ermöglichen“. Bereits 1984, zwei Jahre bevor die Debatte zur Causa Waldheim das heimische Selbstverständnis erschüttern sollte, unterzog der 1921 geborene Arzt „die österreichische Seele“ in seinem gleichnamigen Buch einer kritischen Betrachtung. Die darin versammelten Reden über Medizin, Politik, Kunst und Religion sorgten für heftige Kontroversen, denn der Wiener Suizid- und Seelenforscher sah hierzulande eine Brutstätte für Neurosen, Ängste und Zwänge, die bereits in der frühen Kindheit massenhaft ausgesät würden. Binnen kurzer Zeit erschien das Buch in mehreren Auflagen und wurde zum Bestseller.
In seiner wissenschaftlichen Karriere hatte Ringel Meilensteine im Bereich der Psychosomatik und der Suizidforschung gesetzt – war es legitim, dass er später weit über seinen Tellerrand blickte und sich mit pauschalierenden sowie polemischen Thesen an ein breites Publikum wendete? „Ja, selbstverständlich!“, sagt Mettnitzer. „Mit markanten Formulierungen hat er Defizite und Handlungsbedarf offengelegt. Das war eine psychohygienische Pionierleistung zum Wohl der gesamten Gesellschaft.“ Und die österreichische Gesellschaft sei nach Ringel definitiv eine andere geworden, denn man konnte fortan viel offener über bislang Tabuisiertes sprechen.
„Gerade heute, in einer Zeit größter wirtschaftlicher, politischer und seelischer Verunsicherung, könnten wir seine beherzte und unerschrockene Stimme gut gebrauchen“, ist Mettnitzer überzeugt. „Leider ist der öffentliche Diskurs zu einem Klub der Interessenvertreter verkommen. Statt die Kunst der Debatte hochzuhalten, geht es nur noch um Lobbying und Rechthaberei. Unter der türkisen ‚Message-Control‘ ist das auch politisch immer deutlicher geworden. Ringel hätte die damit verbundenen Täuschungsmanöver wohl schon von weitem gerochen.“
Schließlich hatte der österreichische „Neurosenkavalier“ selbst vor den eigenen Berufskollegen, den „Göttern in weißen Kitteln“, nie mit Kritik gespart: „Es ist ein Glück, einen guten Arzt zu finden“, hat er in einem Vortrag in der Ärztekammer Wien gesagt. Oder ärger noch: „Meine Damen und Herren, wenn Sie gesund bleiben wollen, meiden Sie jeden Arzt!“ Mit solchen Zuspitzungen versuchte er stets, ein kurzsichtiges „reparaturmedizinisches“ Verständnis zu entlarven, das vor lauter Befunden das ganzheitliche Befinden des Menschen aus den Augen verliert. Am Wiener AKH etablierte er eine psychosomatische Abteilung, in der auch die seelischen Ursachen von körperlichen Symptomen ergründet und behandelt werden.
Bereits 1948 hatte er in Wien das erste Zentrum für Suizidprävention aufgebaut – zu einer Zeit, als dem Thema Suizid nur mit gesellschaftlicher sowie moralischer Ächtung und noch nicht mit der nötigen medizinischen Aufmerksamkeit begegnet wurde. Ringel leistete Pionierarbeit und beschrieb anhand einer Untersuchung von 745 Fällen das „präsuizidale Syndrom“, ein Eckpfeiler nicht nur für die wissenschaftliche Beschäftigung, sondern auch für die öffentliche Bewertung von Suizid: „Es ist von entscheidender Bedeutung“, so Ringel 1953 in seiner wegweisenden Studie, „dass der Selbstmord als das angesehen wird, was er wirklich ist: als eine Krankheit und nicht als eine Lösung oder gar als ein Ideal. Die Ansicht, man sollte jedem Menschen seinen Willen lassen, man sollte ihn also auch durch eigene Hand sterben lassen, wenn es sein Wille sei, ist medizinisch und ethisch gleich irrig.“
So wichtig diese Einschätzung zu einer Zeit war, in der kirchliche Autoritäten den Suizid noch als Todsünde betrachteten und den so Verstorbenen ein Grab auf katholischen Friedhöfen verweigerten, ist doch zu bemerken, dass sie heute nicht mehr dem Zeitgeist entspricht, wie nicht zuletzt das jüngste Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofs zum assistierten Suizid vor Augen führt. Mittlerweile gehen auch die fachlichen Meinungen weit auseinander. „In unserer Kultur herrscht die Tendenz, jede Suizidhandlung als pathologisch zu werten, sei es als Resultat einer pathologischen Entwicklung, sei es in Assoziation zu psychiatrischen Krankheiten“, schrieb der Psychiater Christian Scharfetter in seiner „Allgemeinen Psychopathologie“ (2010): „Das ist falsch. Es gibt auch von Krankheiten, Altersgebrechen oder unheilbaren schmerzlichen Seelenleiden zum Freitod getriebene Menschen, die die heutigen Möglichkeiten der Suizidhilfe beanspruchen oder sich alleine töten.“ Aber auch im Hinblick auf die hitzigen aktuellen Debatten zu diesem Thema bleibt das Werk von Ringel eine Pflichtlektüre.
Finger in die Wunde#
Darin spielt auch die Religion eine Rolle. „Mit einem Lungenflügel bin ich Jude, mit dem anderen bin ich Christ!“, lautete das Selbstverständnis des gläubigen Psychiaters. Mit seinem Schüler Alfred Kirchmayr hat er 1986 das umstrittene Buch „Religionsverlust durch religiöse Erziehung“ veröffentlicht. Die beiden Autoren legten den Finger in die Wunde der „katholischen Krankheit“, die erstmals in der französischen Psychiatrie des 19. Jahrhunderts beschrieben wurde und im deutschen Sprachraum als „ekklesiogene Neurose“ bekannt geworden ist: „eine Mischung aus Zwangsneurosen, psychosomatischen Störungen und Depression“, wie Kirchmayr erläutert, zurückzuführen auf „negative Einflüsse“ der Institution Kirche, die sowohl „zum Religionsverlust als auch zur Vergiftung des religiösen Lebens“ führen können. „Ringel hat das populär gemacht, denn er war überzeugt, dass man übertriebene Angst- und Schuldgefühle durch Vernunft und Liebesfähigkeit, also durch eine erotische Kultur aufbrechen muss“, so Kirchmayr.
Von Kritikern wird der 1994 verstorbene Ringel als monologischer Mensch beschrieben, der andere kaum zu Wort kommen ließ. „Ich kann bestätigen, dass Erwin Ringel schwer zuhören konnte“, sagt auch sein Schüler Arnold Mettnitzer. „Er gab zu, dass er es nicht aushält, wenn seine Patienten ihm schweigsam gegenübersaßen.“ Mettnitzer versuchte auch daraus zu lernen: „Ich habe daher den Ehrgeiz entwickelt, wie man Schweigen gut ertragen kann. Einmal fiel in einer Therapiesitzung mit einem Klienten tatsächlich kaum ein Wort – das war eine sensationelle Erfahrung, die mich sehr ermutigt hat.“