Mehr als ein ethischer Popstar #
Am 4. September jährt sich Albert Schweitzers Todestag zum 50. Mal. Ein Buch will mit der Mär vom guten Urwalddoktor aufräumen, kratzt aber kaum an seinem Denkmal. #
Freundlicherweise zur Verfügung gestellt von DIE FURCHE (Donnerstag 3. September 2015)
Von
Ulrich H. J. Körtner
Wer kennt ihn nicht, zumindest dem Namen nach: den Urwalddoktor aus Lambarene. 50 Jahre nach seinem Tod zählt Albert Schweitzer noch immer zu den „Megaprominenten“ (Jochen Hörisch) des 20. Jahrhunderts, in einer Liga mit Albert Einstein, Mutter Teresa oder Nelson Mandela. Der gute Mensch und Vielbegabte aus dem Elsass, der eine hoffnungsvolle Universitätskarriere gegen das Leben als Arzt im heutigen Gabun eintauschte, verkörpert im doppelten Sinne den weißen Mann: weiß gekleidet und mit weißem Tropenhelm wurde Schweitzer zur Ikone nicht nur seiner selbst, sondern auch der besten Traditionen europäischer Kultur. Er gilt bis heute als Inbegriff der Humanität aus christlicher Nächstenliebe und aus dem Geist der Aufklärung, ein Missionar eben jener Kultur, die durch imperialistisches Machtstreben, Kolonialismus und zwei Weltkriege ihre Glaubwürdigkeit verloren hatte. Der weiße Mann als Good guy erlaubte es seinen Bewunderern und Unterstützern, weiterhin an europäische Ideale zu glauben, die Schweitzer wie kein anderer verkörperte.
Der liberale protestantische Theologe, dessen kritische Darstellung der Leben-Jesu- Forschung von Reimarus bis Wrede zu den modernen Klassikern der neutestamentlichen Wissenschaft zählt, avancierte zum evangelischen Heiligen – weiß gewandet wie der Papst –, der neben Dietrich Bonhoeffer und Martin Luther King verehrt wird. Unzählige Schulen tragen seinen Namen. Für sein humanitäres Engagement und seinen Einsatz gegen Atomwaffen wurde er 1952 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Internationale Magazine priesen den Geehrten als „Mann des Jahrhunderts“, als „größten Christen“ oder auch als „dreizehnten Apostel“. Noch 2009 würdigte ihn Friedrich Schorlemmer in seinem gleichnamigen Buch als „Genie der Menschlichkeit“, als „einen Phönix, der aus der Asche des Humanismus emporstieg: das personifizierte Gegengift zum Nihilismus und zur Gleichgültigkeit gegenüber dem Bösen, die Unverwüstlichkeit des aus christlicher Frömmigkeit gespeisten individuellen Antriebs zur Weltverbesserung“. Mehr Pathos geht nicht.
Kritische Töne im Chor der Bewunderer #
Albert Schweitzer Superstar: Längst mischen sich kritische Töne in den Chor der Bewunderer. Caroline Fetscher nennt Schweitzer nicht ohne ironischen Unterton einen „ethischen Popstar“. Der evangelische Religionspädagoge Friedrich Schweitzer spricht vom „Supergutmenschen“ Schweitzer und fragt kritisch, wie weit dieser auch heute noch ein Vorbild sein kann, wo doch „Gutmensch“ längst zum Schimpfwort geworden ist. Nils Ole Oermann charakterisiert den Medienstar Schweitzer in seiner 2009 erschienenen Biographie als „Meister der Selbstinszenierung“, was freilich seiner grundsätzlichen Wertschätzung Schweitzers und seines Lebenswerkes keinen Abbruch tut.
Anders steht es damit bei Sebastian Moll, der Oermanns Schlagwort aufgegriffen und in seinem 2014 erschienenen Buch „Albert Schweitzer. Meister der Selbstinszenierung“ mit der Legende Schweitzer aufräumen will. Moll versteht sich als Historiker, der sich vom unkritischen Schweitzer-Verehrer zum Kritiker geläutert hat, und uns – frei nach Leopold von Ranke – erzählen will, wie es eigentlich gewesen ist. Endlich soll der Welt jener bislang unerkannt gebliebenen „meisterhaften Selbstdarsteller“ vor Augen geführt werden, der Schweitzer in Wahrheit war. So schrumpft der Übermensch zum menschlich-allzumenschlichen Selbstvermarkter, der es in seinen Lebenserinnerungen mit der historischen Wahrheit nicht immer ganz genau nimmt und verschweigt, dass das Copyright für die Formel von der Ehrfurcht vor dem Leben, die ihn berühmt gemacht hat, eigentlich einem anderen zukommt, nämlich dem Publizisten Magnus Schwantje.
Letztlich steht bei Moll der Vorwurf des Hochstaplers im Raum, der es zudem mit dem Wort aus Bergpredigt (Matthäus 6,1–4) nicht so genau nahm, die eigene Frömmigkeit nicht vor den Leuten zu praktizieren, um bei ihnen angesehen zu sein, sondern so zu handeln, dass die Linke nicht weiß, was die Rechte tut. Am Ende seines Buches schlägt der Autor etwas versöhnlichere, wenngleich zwiespältige Töne an: „In Form seines autobiographischen Alter Ego ist es Schweitzer gelungen, sein Leben und seine Ideen miteinander zu verschmelzen, sein Leben in ein Bekenntnis zu verwandeln. Albert Schweitzer verkörperte das Bekenntnis, dass christlicher Glaube immer gelebter Glaube ist, dass Denken und Handeln in Einklang stehen müssen. Keine historische Forschung wird daran etwas ändern.“
Molls Buch sucht den Skandal und hat ihn auch gefunden – allerdings weniger durch seinen Inhalt, also durch den Umstand, dass seine Arbeit von der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Mainz als Habilitationsschrift abgelehnt worden ist. Zu Recht, wie ich meine. Denn Molls Buch weist methodisch erhebliche Mängel auf und arbeitet mit einem erschreckend naiven Verständnis von Geschichtsforschung. Wie der Autor selbst gelegentlich einräumt, operiert er mit Mutmaßungen, für die es keine handfesten Beweise gibt, und erklärt sie unzulässigerweise zu historischen Tatsachen. Das gilt auch für die Behauptung, Schweitzer habe die Formel von der Ehrfurcht vor dem Leben wissentlich plagiiert. Schwantje selbst hat erst 1949 eine eigene begriffl iche Defi nition dieser Formel geliefert. Da waren Schweitzers Werke zum Thema längst erschienen und in aller Munde.
Fruchtbare Anregungen und Einsichten #
Falsch ist auch die Behauptung Molls, Schweitzer habe seinen Freund Oskar Pfister mit Absicht als Koautor seiner ersten Autobiographie ausgebootet, um das Honorar für sich allein einstreichen zu können. Hätte Moll den wissenschaftlich edierten Briefwechsel Schweitzers gelesen, wäre er auf einen Brief Pfisters vom Oktober 1922 gestoßen, in dem er seinen Freund ausdrücklich zu seiner Lebensbeschreibung beglückwünscht, die ungleich besser als Pfisters eigener erster Versuch gelungen sei.
Dass Schweitzer durchaus kritisch zu sehen ist, weiß die Forschung längst. In einem 2013 herausgegebenen Sammelband mit dem Titel „Albert Schweitzer. Facetten einer Jahrhundertgestalt“, der die Vorträge einer Ringvorlesung aus Anlass des 100-jährigen Bestehens der Klinik in Lambarene enthält, wird nicht nur das Schweitzerbild in den Medien, sondern auch seine Sicht auf Afrika und die Afrikaner und seine Ethik kritisch beleuchtet. Tatsächlich finden sich bei Schweitzer Äußerungen über die Überlegenheit der europäischen Kultur, die von manchen als rassistisch eingestuft werden, jedoch im Kontext ihrer Zeit zu beurteilen sind. Von dem üblichen Hochmut und Rassismus seiner Zeit hebt sich Schweitzers Sichtweise erheblich ab. Er kam nach Afrika, nicht um es auszubeuten, sondern um zu heilen und die Schuld der europäischen Völker abzutragen, die sie in der Zeit des Kolonialismus auf sich geladen haben.
Sein wissenschaftliches Werk hat nicht die Bedeutung erlangt, die Schweitzer sich selbst erhoffte. Seine Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben spielt in den heutigen Ethikdiskursen allenfalls die Rolle eines Stichwortgebers. Dabei enthält Schweitzers Werk ungemein fruchtbare Anregungen und Einsichten. Ihr Autor ist mehr als bloß ein ethischer Popstar.
Der Autor ist Vorstand des Inst. f. Systemat. Theologie an der Evang.- Theol. Fakultät der Uni Wien
Albert Schweitzer – Meister der Selbstinszenierung
Von Sebastian Mol.
Berlin University Press 2014.
250 Seiten, geb., €29,90
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