Das Coronavirus stiftet Chaos im Immunsystem#
Sars-CoV-2 bringt die gesamte Immunabwehr für Wochen bis Monate durcheinander. Immunologin Christine Falk über die komplexen Langzeitfolgen der neuen Krankheit und eine mögliche Verbindung zu den Neandertalern.#
Von der Wiener Zeitung (1. Oktober 2020) freundlicherweise zur Verfügung gestellt
"Wiener Zeitung": Ehemalige Patienten von Covid-19 klagen über rätselhafte Langzeitfolgen mit diffusen Symptomen, von Müdigkeit über Muskelschmerzen bis zu Gedächtnisstörungen. Warum?
Christine Falk: 50 Prozent der Patienten, die mit Covid-19 im Krankenhaus lagen, und 70 Prozent jener, die auf Intensivstationen behandelt werden mussten, haben Langzeit-Probleme. Das bestätigen Studien aus dem im Frühjahr schwer betroffenen Italien, die leichten Fälle sind weniger gut dokumentiert. Uns berichten ehemalige Patienten, dass sie selbst nach der Rehabilitation das Gefühl haben, sich nicht fit zu fühlen. In einem Monitoring für Rekonvaleszente haben wir festgestellt, dass das Immunsystem völlig durcheinandergerät, wenn das Coronavirus Sars-CoV-2 in die Lunge eindringt.
Christine Falk ist Professorin für Transplantationsimmunologie an der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH). Die Biologin promovierte an der Ludwig-Maximilians-Universität München im Fach Immunologie und ist Mitglied des Deutschen Hochschulrats. Uni Hannover
Wie darf man sich das vorstellen?
Ein Blutstropfen von gesunden Personen enthält 50.000 bis 100.000 weiße Blutkörperchen, auch Leukozyten genannt. Zu den Leukozyten zählen die T- und B-Lymphozyten der adaptiven Immunabwehr (diese wird aktiv, wenn die angeborene Immunität nicht ausreicht, um einen Erreger zu bekämpfen, Anm.). Im Blut von Covid-19-Patienten in der akuten Phase sind diese T- und B-Zellen aber nicht mehr im selben Ausmaß vorhanden wie bei Gesunden der gleichen Altersgruppe. Wenn ihre Zahl im Blut unter einen Schwellenwert fällt, ist das Risiko, an der Infektion zu sterben, erhöht. Die Frage ist also, wo sie geblieben sind. Sind sie am Ende in der Lunge? Zugleich ist die Zahl der Fresszellen zum Teil fünffach erhöht, auch hierfür kennen wir die Gründe noch nicht.
Könnte Covid-19 eine Auto-Immunreaktion auslösen?
Genau diese Frage müssen wir genauer untersuchen. Die Anzahl der Immun-Zellen im Blut ist total verschoben. Selbst bei Rekonvaleszenten stimmen die Verhältnisse noch nicht, eine völlige Normalisierung scheint teilweise Monate zu dauern. Das Virus ist dann zwar weder im Nasen-Rachenraum noch im Blut nachweisbar, aber trotzdem ist vieles anders. Bei einer Infektion mit dem Epstein-Barr-Virus, Erreger des leicht bis schwer verlaufenden Pfeiffer’schen Drüsenfiebers, kann es sich ähnlich verhalten. Allerdings ist das Epstein-Barr-Virus anders, es infiziert die Immunzellen.
Lässt sich die Influenza im Vergleich gut beherrschen?
Es ist klar, dass diese ganz dramatischen Veränderungen durch das Coronavirus sehr speziell sind, da es das Immunsystem systemisch im Blut angreift, was bei der Influenza nicht so stark durchzuschlagen scheint. Aber um diese beiden Erreger einer Lungenentzündung besser unterscheiden zu können, müssen wir auch die Influenza nochmal genauer unter die Lupen nehmen.
Was heißt: "Das Coronavirus greift das Immunsystem systemisch an"?
Wie es im "Faust" so schön heißt: "Blut ist ein besonderer Saft." Es transportiert über die roten Blutkörperchen Sauerstoff, die weißen gehören zum Immunsystem mit der Armee der Fresszellen und Lymphozyten. Zusätzlich zum Blut haben Lunge, Leber und Darm ihr eigenes Immunsystem. Diese "lokale" Armee macht normalerweise kurzen Prozess mit Eindringlingen: Das sind bei Sars-CoV-2 die leichteren Fälle. Wie gut eine infizierte Person das Virus kontrollieren kann, hängt wahrscheinlich vom Zufall in Bezug auf diese lokale Armee ab. Wenn diese es nicht gleich schafft, frisst sich Sars-CoV-2 tiefer in die Lunge und kann eine Lungenentzündung auslösen. Dann versucht die Lunge, "frische" Immunzellen als Hilfstruppen aus dem Blut und den Lymphknoten zu rekrutieren, wodurch die erwähnten Verschiebungen entstehen. Diese werden oft von schweren systemischen Entzündungserscheinungen, dem Zytokinsturm, begleitet, der im Versuch, das Virus loszuwerden, Kollateralschäden verursacht. Außerdem steht das Immunsystem, in dem sich alles verschiebt, in enger Kommunikation mit dem Nerven- und dem Herz-Kreislaufsystem. Das könnte wiederum das breite Spektrum an Spätfolgen erklären: Atemnot, Muskeln gehorchen nicht, neurologische Ausfälle, chronische Kopfschmerzen, Darmbeschwerden, Müdigkeit.
Erholt sich die Lunge vollständig?
Das wird möglicherweise eher individuell sein. Wenn das Bemühen, das Virus in der Lunge loszuwerden, Vernarbungen verursacht, könne es sein, dass wir in fünf bis zehn Jahren mehr Lungenfibrosen sehen.
Manche Menschen haben auch ohne Infektion Abwehrmechanismen gegen Covid. Wie erklärt sich das?
Jeder von uns hat Schnupfen- oder auch harmlose Corona-Virusinfektionen durchgemacht und dabei Antikörper gebildet. Manche dieser alten Antikörper sind kreuzreaktiv, das heißt sie erkennen dieses neue Virus und binden aus reinem Zufall daran. Es gibt leider nicht viele gute Studien dazu. Es kann aber sein, dass diese Menschen geschützt sind, weil ihr Immunsystem - so wie es die neutralisierenden Antikörper - das Schloss ins Zellinnere verkleben. Leichte, asymptomatische Fälle ließen sich eventuell so erklären.
Kann eine Immunität gegen Covid vor Jahrhunderten durch eine Seuche entstanden sein, über Generationen weitergegeben worden sein und sich bis heute erhalten haben?
Nein. Jeder Mensch startet sein eigenes Immunsystem quasi neu. Antikörper werden nicht über Generationen vererbt, sondern jeder Mensch bastelt sein adaptives Immunsystem aus T- und B-Zellen zusammen. Natürlich werden die Prinzipien des Immunsystems weitergegeben, aber Immunität gegen spezifische Pathogene per se nicht. Wir können keine spezifische Immunantwort auf irgendein Virus von den Eltern bekommen.
Das heißt, wenn die Pest heute erneut ausbrechen würde und wir keine Antibiotika hätten, würden wir genau so abkratzen wie früher?
Ja, das wäre so. Wenn das Bakterium Yersinia pestis sich wieder über die Flöhe und Ratten verbreiten würde, müsste jeder Mensch wieder neu anfangen, sich davor zu schützen. Ohne Antibiotika hätten wir buchstäblich wieder "Pest und Cholera". Denn in jedem Individuum ist die Anlage vorhanden, das Immunsystem auszubilden, aber machen müssen wir es schon selbst. Wir können diese komplizierten Prozesse weder durch Ernährung noch ein besonderes Verhalten beeinflussen.
Vitamin C, Gemüse, viel Schlaf und Sport zur Stärkung des Immunsystems: alles Pseudowissenschaft?
Meiner persönlichen Ansicht nach, ja. Aber der Umkehrschluss ist richtig. Wenn sie das Immunsystem nicht quälen, ist es ein guter Start. Ausgewogene Ernährung, frische Luft, Bewegung und kein Übergewicht quälen es nicht. Viel Alkohol und Rauchen mag es hingegen ebenso wenig wie einen Mangel an frischer Luft. Deswegen finde ich Corona-Maßnahmen, bei denen die Leute kaum raus dürfen, eher kontraproduktiv, Abstand und Hygiene dagegen ganz wichtig. Sie nerven, aber das Virus nervt noch viel mehr.
Dennoch müssen wir etwas geerbt haben. Laut einer Studie des renommierten Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie gibt es einen möglichen Zusammenhang zwischen dem Neandertaler-Erbe in unserem Erbgut und schweren Verläufen von Covid-19.
Diese Medienberichte stimmen so nicht. Es wurden keine Neandertaler-Gene gefunden, sondern Immungen-Varianten, die wir alle haben. Sie lassen sich bis zum Neandertaler zurückverfolgen. Die Neandertaler hatten spezielle Gen-Varianten, so wie Kaukasier oder Asiaten, und diese Varianten finden sich jetzt bei schweren Fällen. Sie sagen etwas darüber aus, wie gut die Immungene ihren Weg durch den Körper finden, aber nichts darüber, ob der Neandertaler Sars-CoV-2 erkannt hätte. Auch was das heißt, lässt sich derzeit noch nicht beantworten.
Christine Falk untersucht die Langzeit-Folgen von Covid-19. Dabei haben die deutsche Immunologin und ihr Team von der Medizinischen Hochschule Hannover entdeckt, was für ein Chaos das neue Coronavirus im gesamten Immunsystem erzeugt und warum sich der Körper in vielen Fällen nur langsam von der Lungenkrankheit erholt. Warum manche Menschen schwere Verläufe erleiden und was das mit den Neandertalern zu tun hat, erläutert Falk im Gespräch.
Christine Falk ist Professorin für Transplantationsimmunologie an der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH). Die Biologin promovierte an der Ludwig-Maximilians-Universität München im Fach Immunologie und ist Mitglied des Deutschen Hochschulrats. Uni Hannover
COVID is dangerous for Immune System: JOANNOVUM JUNI 2021.#