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"Die Varianten werden uns um die Ohren fliegen"#

Der Molekularbiologe Ulrich Elling rechnet mit immer resistenteren Corona-Mutationen schon ab Herbst.#


Von der Wiener Zeitung (17. Juli 2021) freundlicherweise zur Verfügung gestellt

Von

Eva Stanzl


Ulrich Elling zählt zu Österreichs führenden Experten für Coronavirus-Mutationen. Mit seinem Team hat er ein Massentest-Verfahren für Sars-CoV-2 und den Nachweis von Virus-Varianten entwickelt. "SARSeq" nennt sich das Überwachungssystem, mit dem er am Wiener Institut für Molekulare Biotechnologie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 80 Prozent der Viren-Sequenzierungen für Österreich durchführt. Im Gespräch beleuchtet der Molekularbiologe die Zukunft des Pandemieverlaufs.

"Wiener Zeitung": Am Anfang der Pandemie meinten viele Experten, dass Coronaviren selten mutieren. Jetzt jagt eine Variante die andere. Kaum haben wir Alpha im Griff, treibt Delta die Infektionszahlen nach oben. Warum ist Sars-CoV-2 plötzlich mutationsfreudig?

'Eine massive Welle kommt, wir benötigen wahrscheinlich eine Impfpflicht', meint Ulrich Elling
"Eine massive Welle kommt, wir benötigen wahrscheinlich eine Impfpflicht", meint Ulrich Elling.
Foto: © apa / R. Schlager

Ulrich Elling: Sars-CoV-2 verändert sich mit zwei Mutationen im Genom pro Monat grundsätzlich deutlich weniger als andere Viren. Bei der Grippe etwa sind es monatlich sechs Mutationen. Sars-CoV-2 besitzt ein Enzym, das kontrolliert, ob bei der Replikation der RNA keine Fehler passieren. Anders als bei der Grippe können beim Coronavirus auch keine Genom-Abschnitte falsch vermischt werden, weil es nur ein Genom hat. Der Grund, warum wir trotzdem viele Mutationen sehen, ist, weil es so viele Viren gibt. So einfach ist es.

Sind die zahlreichen Fälle also ein Experimentierfeld für das Virus?

Ja. Das Virus hat dadurch viel mehr Möglichkeiten, auszuprobieren, was alles geht. Wenn ich mich an die ersten HIV-Medikamente in den 1990er Jahren erinnere, ging es den Patienten für einige Zeit gut, aber dann bekamen sie trotzdem Aids. Bei den neuen HIV-Medikamenten entstehen keine Resistenzen, weil sie den Virus-Spiegel der Patienten so stark senken. Wo kein Virus sich vermehrt, ist die Wahrscheinlichkeit einer Mutation sehr viel geringer.

Wo entstehen die Mutationen?

Mutationen entstehen in jedem Patienten zufällig. Das heißt nicht, dass sie gleich infektiöser werden. Aber wenn eine Mutation dem Virus aber einen Vorteil bietet, vermehrt sich dieses Virus schneller.

Und wie geht es dann weiter?

Normalerweise besteht in der Evolution eine Abhängigkeit: Wenn Hasen sich vermehren, vermehren sich auch die Füchse und fressen sie, weswegen es weniger Hasen gibt und die Füchse weniger zu fressen haben. Diese Wechselwirkung gibt es zwischen Virus und Mensch nicht. Von einer Generation Mensch zur nächsten vergehen 30 Jahre, von einem Virus zum nächsten im Patienten wenige Stunden. Viren wollen sich bloß vermehren. Ob Menschen dabei krank werden, ist ihnen egal. Wenn sie aber zu infektiös werden, wird es zum Waldbrand. Die Viren brennen ein Mal durch und hinterlassen nur Tote oder Immune, womit sie im Trockenen stehen. Ein erfolgreiches Virus will nicht zu infektiös sein, damit es sich nicht in die Ecke brennt. In diesem Sinn kann es sich evolutiv an den Menschen anpassen.

Wie passen die Viren sich an?

Sars-CoV-2 hat gelernt, sich nicht nur in der Fledermaus, sondern auch im Menschen zu vermehren, und möchte jetzt effizienter in die Zellen gelangen und dem Immunsystem entkommen, was es mit Alpha, Beta, Gamma und Delta zunehmend besser macht. Gleich in der nächsten Generation - also ein paar Stunden später - kann es noch dazu testen, ob der Anpassungsversuch wirkt. Vor allem, wenn ein Immunsystem das Virus nicht gut bekämpfen kann, lebt es in Ko-Existenz mit dieser Person und mutiert die ganze Zeit. So entstehen die komplexen Varianten, die sich bisher durchgesetzt haben. Dieses Spiel geht weiter, so lange wir das Virus zulassen.

Es gibt Menschen, die aufgrund ihrer Genetik oder der Blutgruppe Covid-19 nicht bekommen. Passiert die Anpassung auch umgekehrt?

Natürlich kann es sein, dass manche bevorzugt sind. Generell passt sich jedoch das Virus genetisch an den Menschen an, wir aber nicht an das Virus. Unser Immunsystem kann lernen, damit umzugehen, aber wir können nicht als Menschheit in absehbarer Zeit evolutiv auf Sars-CoV-2 reagieren. Evolution würde bedeuten, dass über Generationen immer die Schwachen sterben und nur jene übrig bleiben, die Resistenzen gegen das Coronavirus haben. Das können wir so nicht zulassen.

Das Virus ist so schnell, dass es dem Menschen immer voraus ist.

Genau, und sein Ziel ist ein Gleichgewicht. Es will eigentlich genau dort hin, wo die Influenza ist: Im Winter sich mit einem R-Wert von 1 (eine Person steckt nur eine Weitere an, Anm.) verbreiten, sodass es neues Futter für Influenza gibt. Wenn wir Corona dort hinlassen, wäre das ein langes Spiel. Stattdessen wechseln wir zwischen Maßnahmen und Öffnungen, um die vorherrschende, mildere Variante gerade zu unterdrücken, während sich für uns nachteiligere Varianten zwangsläufig bilden. Auch Mutationen, die den Immunschutz umgehen, werden entstehen. Die gibt es noch nicht, aber sie kommen.

Diese Perspektive erschreckt mich aber jetzt schon. Es hat immer geheißen, dass die Impfungen wirken. Müssen wir fix mit Corona-Mutationen rechnen, die die Impfungen, mit denen wir hoffen, die Pandemie zu beenden, umgehen?

Bis sich eine Variante durchsetzt, vergehen Monate. Alle Varianten, die wir bis heute kennen, sind letzten Herbst entstanden. Schon damals gab es die ersten Sequenzen von Alpha, Beta, Gamma und Delta. Es gab aber keinen relevanten Immunschutz durch Impfungen oder überstandene Infektion. Bisherige Varianten sind also primär auf höhere Infektiosität optimiert. Erst jetzt sind in manchen Ländern so viele Menschen geimpft oder genesen, dass der Immun-Schutzschirm wirkt. Und somit hat das Virus erst jetzt einen starken Selektionsdruck, Impf-Resistenzen zu generieren, um eine möglichst große Bevölkerung infizieren zu können. Da kommt sicherlich noch einiges auf uns zu. Ich rechne mit solchen Mutationen ab Winter. Sie müssten jetzt beginnen, sich zu vermehren.

Werden wir uns kommenden Winter noch mit Delta beschäftigen?

Ich rechne nicht damit. Sondern ich gehe davon aus, dass jetzt Mutanten in Mutanten entstehen. Alpha, Beta, Gamma und Delta haben sich im Original-Wuhan-Virus gebildet, das es nicht mehr gibt. Es kann nun eine sehr aggressive neue Alpha-Version entstehen und Delta verdrängen, oder Delta weiter an Fahrt aufnehmen und die anderen verdrängen.

Wie umgeht eine Mutation den Impfschutz?

Bei einer Infektion ist man allen Proteinen des Coronavirus ausgesetzt. Impfen tun wir nur mit dem Spike-Protein an der Oberfläche, mit dem es sich den Weg in die Zellen bahnt. Wenn ein Spike-Protein an mehreren wichtigen Bindestellen für menschliche Antikörper mutiert, setzt das den Immunschutz herab. Und wenn mehrere dieser Positionen beeinträchtigt sind, können Antikörper nicht mehr dort binden. Das Virus entkommt dem Vakzin und betritt unsere Zellen.

War Herdenimmunität schon immer eine Illusion?

Im März 2020 steckte eine Person drei andere an. Wenn zwei durch eine Impfung geschützt wären, läge die Ansteckungszahl R bei 1 und dann gäbe es kein exponentielles Wachstum mehr, meinte man. Deswegen müsse eine 70-prozentige Impfquote erreicht werden, um die Verbreitung zu stoppen. Delta ist aber infektiöser: Eine Person steckt sechs Personen an, weswegen wir 85 Prozent der Menschen wirksam immunisieren müssen, damit die Kette gebrochen ist. Jedoch wirkt gegen Delta die Impfung ein bisschen schlechter. Die Wahrscheinlichkeit, nicht krank zu werden, liegt mit Astra bei 60 Prozent und mit den mRNA-Impfungen bei 88 Prozent, der Schutz vor Ansteckung ist etwas niedriger. Das heißt: Selbst wenn wir 100 Prozent der Bevölkerung impfen, kommen wir nicht auf die 85 Prozent, die wir bräuchten, um die Ansteckungskette zu unterbrechen. Das Thema Herdenimmunität ist vorbei.

Und wie bekommen wir das Virus jetzt in den Griff?

Jetzt geht es um individuellen Schutz. Die Impfungen schützen weiterhin sehr gut vor schweren Verläufen. Da die Ansteckungshäufigkeit bei Delta doppelt so hoch ist wie bei Alpha, setzt sich, wer nicht geimpft ist, einem großen Risiko aus. Aus diesem Grund benötigen wir wahrscheinlich eine Impfpflicht. Es gibt Momente, wo man Menschen nicht guten Gewissens sich selbst überlassen kann. Es ist wie im Straßenverkehr: Dort zwingen wir sie ja auch, sich anzuschnallen oder nicht bei Rot über die Straße zu gehen. Es ist davon auszugehen, dass wir eine massive Welle im Herbst haben werden, die wir gar nicht so ohne weiteres eingrenzen können. Der Jahreszeiten-Effekt ist für 40 Prozent der Infektionen verantwortlich. Im Winter werden uns Delta und ihre Nachfolgerinnen um die Ohren fliegen.

Das heißt Lockdown auf Jahre?

Das werden wir uns wirtschaftlich nicht leisten können.

Was ist die Alternative?

Dazu läuft ein Menschen-Experiment, das ich für ethisch nicht tragbar halte, in England und Spanien. Beide Länder haben extrem hohe Inzidenzen unter den Jungen, trotzdem geht die Party weiter. In England füllen sich bereits die Krankenhäuser. Die Alten sind zwar geimpft, aber wir wissen nicht, ob sie ausreichend geschützt sind. Von den Jungen sind noch nicht alle geimpft und sie werden die Seuche zeitlich verzögert in die älteren Bevölkerungsschichten tragen. Die Frage wird sein, wie viele Tote und Long-Covid Patienten versus wie viel Lockdown die Gesellschaft akzeptiert.

Gibt es einen Punkt, an dem Sars-CoV-2 sich nicht mehr verändert?

Ausmutiert hat es sich dann, wenn es kein Virus gibt. Das muss unser Ziel sein. Bis dahin kann es sich ständig weiterspielen und wir wissen nicht, wohin es geht. Bei Alpha, Beta und Gamma dachten wir, dass eine Veränderung an Position 501 entscheidend ist für stärkere Infektiosität, doch Delta hat diese Mutation nicht. Wir müssen die Virus-Population drücken, und das bedeutet, allen Ländern zu helfen, zu impfen. Das ist die einzige Lösung: Weltweit impfen. Alle.

Wiener Zeitung, 17. Juli 2021