Autismus – Tradition und Wandel #
Freundlicherweise zu Verfügung gestellt von der Zeitschrift: Behinderte Menschen, Heft 4/4 - 2013
Von
Georg Theunissen
Ohne jeden Zweifel erscheint die Fokussierung von Stärken und Interessengebieten als eine verheißungsvolle Angelegenheit, die zu einem radikalen Umdenken auf dem Gebiet des Autismus herausfordert. Gestützt wird sie durch moderne Erklärungsmodelle und neurowissenschaftliche Forschungen in Bezug auf Autismus.
Neuere Statistiken aus führenden Industrienationen zeigen auf, dass heute Autismus nicht mehr als eine eher seltene Behinderungsform in Erscheinung tritt. Nach US-amerikanischen Untersuchungen nimmt Autismus im Kontext von Behinderungen (developmental disabilities) derzeit am stärksten zu: „About 1 in 88 children has been identified with an autism spectrum disorder (ASD) according to estimates from CDC’s Autism and Developmental Monitoring (ADDM) Network“ (CDC 2012, 1). Diese aktuellen Zahlen bestätigen den bislang auf der Grundlage von Statistiken des US-Centers for Disease Control and Prevention konstatierten Trend, dass sich in den letzten Jahren die Anzahl von autistischen Kindern drastisch erhöht hat.
Wie in den USA wird gleichfalls in Großbritannien Autismus wesentlich häufiger diagnostiziert als noch vor einigen Jahren. Vor diesem Hintergrund kann einer im Lancet veröffentlichten Studie (vgl. Baird et al. 2006) gefolgt werden, die mit einer Prävalenzrate von über 1% an Menschen in einem „Autismus-Spektrum“ (davon etwa 2/3 mit dem sogenannten Asperger-Syndrom) rechnet.
Dieser Wert wird gleichfalls für Deutschland vermutet. Mit 1% liegt die Prävalenzrate von autistischen Kindern und Jugendlichen über der von sogenannten geistig behinderten Schülerinnen und Schülern am jeweiligen Altersjahrgang, die in Deutschland von 1999 bis 2006 von etwa 0,7% auf 0,89% leicht angestiegen ist. Eine andere Entwicklung scheint sich hingegen in den USA abzuzeichnen, wo ein Zusammenhang zwischen dem rückläufigen prozentualen Anteil an Kindern und Jugendlichen mit sogenannter geistiger Behinderung (mental retardation, intellectual & developmental disabilities) und der deutlichen Zunahme des (Prozent-)Anteils autistischer Schülerinnen und Schülern an der Gesamtzahl behinderter Kinder und Jugendlicher vermutet wird.
Interessant ist die Frage nach den Gründen für den genannten Trend. Neben einem wachsenden gesellschaftlichen Bewusstsein und einer größeren Sensibilität in Bezug auf Autismus – vor allem im Hinblick auf sogenannte Asperger- oder High-Functioning-Autisten – wird auf veränderte und erweiterte Kriterien zur Diagnostizierung von Autismus, auf eine frühere Diagnostizierung im frühkindlichen Alter sowie auf verfeinerte, genauere Instrumente zur Erfassung autistischer Verhaltensweisen verwiesen. Ferner spielen Interessen und die Hoffnung von Eltern eine Rolle, durch eine neue oder exaktere Diagnose im Hinblick auf eine sogenannte Autismus-Spektrum-Störung (autism spectrum disorders) anstelle einer sogenannten geistigen Behinderung (mental retardation; intellectual disability) bessere Unterstützungsleistungen zu bekommen. So gibt es zum Beispiel in den USA Gemeinden, in denen sehr viele weiße und reiche Familien leben und die Anzahl an autistischen Kindern überdurchschnittlich hoch ist. Andererseits wurde in den USA der größte Zuwachs an Autismus- Diagnosen bei sozial-benachteiligten Kindern registriert, die bisher von Gesundheits- oder Schulbehörden nicht adäquat untersucht und marginalisiert wurden: „Indeed, the biggest increase in the CDC surveillance report was in Hispanic and African American children, groups which previously had low rates of detection“ (Insel 2012).
Alles in allem drängt sich der Eindruck auf, dass wir es letztlich weniger mit einer tatsächlichen Zunahme an Autist(inn)en in der Bevölkerung, sondern vielmehr mit einer Abkehr von bislang eng gestrickten diagnostischen Kriterien (dazu Gernsbacher, Dawson & Goldsmith 2006) und Überwindung einer unzureichenden Erfassung beziehungsweise „better and wider detection“ (Insel 2012) von autistischen Personen zu tun haben. Diese Auffassung wird von Betroffenen gestützt – haben sich doch in den letzten Jahren immer mehr Personen zu Wort gemeldet, die ursprünglich als „geistig behindert“ und erst im Erwachsenenalter als Asperger- oder High-Functioning- Autisten diagnostiziert wurden: „I had been“ – so die Autistin Anne Carpenter (zit. n. Schopler & Mesibov 1992, 293) – „assigned many labels: mentally retarded, emotionally disturbed, borderline personality disorder, aggressive pesonality disorder“; und Marie Ronan (zit. n. ebd., 303), gleichfalls Autistin, schreibt: „I am still viewed by many as mentally retarded.“ Dabei sollte doch eines klar sein: „Being autistic does not mean being mentally retarded” (Sinclair zit. in ebd., 295). Mit dieser Bemerkung möchte der Autist und Aktivist Jim Sinclair zugleich den Blick auf spezifische Besonderheiten lenken, die für Autist(inn)en mehr oder weniger charakteristisch sind und durch die sie sich von anderen behinderten Personen unterscheiden. Viele Autist(inn)en fühlen sich daher einer „autistic community“ zugehörig, die sich der Empowerment-Philosophie verschrieben hat und durch ein „policy making“ für eine verstehende, an Stärken und Interessen orientierte, positive Sicht von Autismus engagiert (dazu ASAN 2012; Theunissen & Paetz 2011; Theunissen 2014). Diese Ausrichtung steht der klassischen Betrachtung und insbesondere der bisher weit verbreiteten Pathologisierung von Autismus kontrapunktisch gegenüber.
Zu den klassischen Beschreibungen und Betrachtungen von Autismus #
Bis vor kurzem wurde zur Identifikation und Beschreibung von Autismus in der Regel auf das internationale Klassifikationssystem ICD- 10 der Weltgesundheitsorganisation oder auf das US-amerikanische System DSM IV der American Psychiatric Association zurückgegriffen. Mit der Überarbeitung des DSM IV zu DSM 5 und der geplanten ICD-11 werden zukünftig zwei neue Systeme zur Verfügung stehen, die sich zum Teil erheblich unterscheiden. Vor diesem Hintergrund bleibt abzuwarten, ob eines der beiden Systeme im Lager der (deutschsprachigen) Psychiatrie und klinischen Psychologie priorisiert wird.
Diese Frage war bisher kein Thema, da in den bisherigen Verzeichnissen Autismus als „tiefgreifende Entwicklungsstörung“ (APA 1996; Dilling u. a. 1993) klassifiziert und ähnlich beschrieben wird. Während die ICD-10 unter dem Schlüssel F84 in F84.0 Frühkindlicher Autismus, F84.5 Asperger-Syndrom, F84.1 atypischer Autismus (F84.10 Autismus mit atypischem Erkrankungsalter, F84.11 Autismus mit atypischer Symptomatik, F84.12 Autismus mit atypischem Erkrankungsalter und atypischer Symptomatik) und F84.2 Rett-Syndrom (Dilling u. a. 1993) unterscheidet, werden im DSM IV unter dem Schlüssel 299 zwei Kategorien, 299.00 Autistische Störung und 299.80 Asperger-Syndrom (APA 1996), genannt. Ferner weisen beide Systeme eine „nicht näher bezeichnete tiefgreifende Entwicklungsstörung“ (F84.9 nach ICD-10 und 299.80 nach DSM IV) aus, die gleichfalls als eine atypische Form in Betracht gezogen wird. Die im ICD-10 und DSM IV vorgenommene Unterteilung in frühkindlichen und Asperger-Autismus geht zurück auf die Erstbeschreiber L. Kanner (1943) und H. Asperger (1944), die unabhängig und unwissentlich voneinander auffällig zurückgezogene und einzelgängerische Kinder als „autistisch“ beschrieben. Aus den von ihnen beschriebenen Auffälligkeiten sind dann in der Folgezeit drei zentrale Bereiche als „the triad of impairments“ – „eine zum ersten Mal von Wing (1981) vorgestellte auf Defiziten basierende Konstruktion“ (Schmukler 2005, 17) – für die Diagnostizierung von Autismus hervorgegangen:
1) Beeinträchtigungen der sozialen Interaktion und zwischenmenschlichen Beziehungen. Hierzu werden zahlreiche vermeintliche Defizite genannt, so zum Beispiel das Unvermögen vieler autistischer Menschen, altersentsprechende Beziehungen zu entwickeln, fehlende Freundschaften zu Gleichaltrigen, der fehlende Wunsch, mit anderen Interessen zu teilen, die verminderte Fähigkeit, soziale bzw. nonverbale Signale anderer Personen intuitiv zu erkennen und zu interpretieren, sozial und emotional unangepasstes Verhalten oder fehlende soziale und emotionale Gegenseitigkeit.
2) Beeinträchtigungen der (verbalen) Kommunikation als ein sogenanntes Kernsymptom. Während Personen, denen ein (schwerer) frühkindlicher Autismus nachgesagt wird, sich häufig kaum sprachlich verständigen können (z. B. nur mit Lauten, in Ein- oder Zwei- Wort-Sätzen oder Echolalie), fallen sogenannte Asperger-Autisten oft durch eine monotone Sprachmelodie, einen exzentrischen oder auch pedantischen Sprachstil auf.
3) Ein eingeschränktes Repertoire an Interessen und Aktivitäten, verbunden mit repetitiven oder stereotypen Verhaltensweisen. Hierbei geht es zum Beispiel um eine Fixierung auf spezielle Dinge, die üblicherweise nicht als Spielzeug verkauft werden, um den ungewöhnlichen Gebrauch der Dinge, um eine lang anhaltende Beschäftigung mit bestimmten (Teil-)Objekten, um eine rigide Befolgung von Routinen, um ein Beharren auf Routine sowie Streben nach Gleicherhaltung der Umwelt, um ein zwanghaftes Verhalten oder auch um motorische Manierismen oder Auffälligkeiten (Hände flattern, bizarre Fingerbewegungen, Drehbewegungen, Zehengang, Hyperaktivität, Unbeholfenheit in der Grob- oder Feinmotorik, unbeholfene Körpersprache, eingeschränkte Gestik und Mimik).
Ferner werden seit einigen Jahren neben den drei zentralen Symptombereichen Wahrnehmungsbesonderheiten (Hyper- oder Hyposensibilitätsstörungen; Filterschwäche, Überselektivität u. a.) konstatiert. Kommen darüber hinaus noch weitere Auffälligkeiten (z. B. schwere Aggressionen oder Wutsausbrüche, Verweigerung, selbstverletzende Verhaltensweisen, hohe Unselbstständigkeit in einfachsten Verrichtungen des alltäglichen Lebens) und spezifische Beeinträchtigungen wie Epilepsie hinzu, drängt sich – aus medizinischer Sicht – der Verdacht einer schweren autistischen Störung (oft gepaart mit einer sogenannten geistigen Behinderung) auf, die zu negativen Prognosen verleitet.
In Ergänzung zu den oben genannten Klassifikationen findet zunehmend (v. a. im angloamerikanischen Sprachraum) eine Differenzierung in High-Functioning-Autismus und Low-Functioning-Autismus Anwendung. Beide Beschreibungen gelten als Subkategorien des „Frühkindlichen Autismus“ im ICD-10 bzw. der „Autistischen Störung“ im DSM IV. Als low-functioning werden all jene Autist(inn)en definiert, die die Symptomatik dieser Subkategorien und vor allem sehr geringe sprachliche Fähigkeiten zeigen und deren Intelligenz im Bereich einer sogenannten geistigen Behinderung (< IQ 70) angenommen wird. High-Functioning-Autisten werden hingegen gute verbale Fähigkeiten und eine überdurchschnittliche Intelligenz nachgesagt. Zudem gilt der High-Functioning- Autismus im Erwachsenenalter als eine leichte Erscheinungsform, die sich vom sogenannten Asperger-Syndrom durch das Fehlen motorischer Auffälligkeiten unterscheidet, ansonsten jedoch frappierende Ähnlichkeiten aufweist. Wie unzulänglich beide Zuschreibungen sein können, führt uns die „Aktivistin in eigener Sache“ A. Baggs vor Augen, die aufgrund ihres äußeren Erscheinungsbildes (schwere körperliche Beeinträchtigungen, hohe Unselbstständigkeit, nicht-sprechend) zumeist als schwerst autistisch (profoundly or severe autistic) oder low-functioning etikettiert (dazu Theunissen & Paetz 2011, 37, 44), gelegentlich auch als leicht autistisch (moderately or mildly autistic; high functioning) eingeschätzt wurde, jedoch in keiner Weise intellektuell beeinträchtigt (geistig behindert), wohl aber nach eigenen Angaben „schwer behindert“ (severely disabled) und einfach autistisch ist: „Just ‚autistic’ is enough, no modifiers needed“ (Baggs 2007,5).
Folgerichtig gibt es letztendlich keine klaren Grenzen zwischen den verschiedenen Formen oder Syndromen von Autismus, weshalb mit Überlappungen und uneindeutigen Bildern gerechnet werden muss. So wird zum Beispiel von Kindern berichtet, bei denen zunächst frühkindlicher Autismus, später High-Functioning- Autismus oder das Asperger-Syndrom diagnostiziert wurde (vgl. Wing 1991). Interessant ist darüber hinaus die Erkenntnis, dass der Anteil an Kindern mit so genanntem frühkindlichen Autismus bzw. autistischer Störung und einer vermeintlichen geistigen Behinderung deutlich niedriger sein dürfte als bisher angenommen wurde (Edelson 2006). Dies wird mit dem Rückgriff auf ungeeignete Intelligenztests oder Entwicklungsgitter sowie auf unreflektierte Beobachtungen und Annahmen zurückgeführt. Ferner seien allzu lange eine „autistische Intelligenz“, spezifische Stärken oder Inselbegabungen übergangen worden (Mottron 2006).
Zu den Autismus-Spektrum-Störungen #
All die zuletzt genannten Klassifizierungs-, Zuschreibungs- oder Zuordnungsprobleme haben in den letzten Jahren vor allem in Nordamerika bei vielen Eltern autistischer Kinder und bei betroffenen Personen zu Kritik und Unzufriedenheit geführt, so dass sich aufgeschlossene Autismusforscher/innen im angloamerikanischen Sprachraum veranlasst fühlten, alle Erscheinungsformen von Autismus zukünftig sogenannten Autism Spectrum Disorders (Autismus-Spektrum-Störungen) zuzuordnen. Von hier aus war der Schritt nicht weit, auf eine Einteilung analog der Klassifikationssysteme ICD-10 oder DSM IV sowie auf eine Klassifikation in High-Functioning-Autismus oder Low-Functioning-Autismus gänzlich zu verzichten. Mit dem DSM 5 liegt nunmehr ein entsprechendes System vor, das unter dem neuen Begriff Autism Spectrum Disorder die bisherigen Merkmale und Symptombeschreibungen eines Autismus-Bildes wie folgt eingearbeitet hat (vgl. APA 2012; übersetzt ins Deutsche vom Verfasser):
A. Dauerhafte Defizite in der sozialen Kommunikation und sozialen Interaktion (in allen drei Bereichen)
1. Defizite in der sozial-emotionalen Wechselseitigkeit
2. Defizite in der nonverbalen Kommunikation im Rahmen sozialer Interaktionen
3. Defizite in der Entwicklung und Aufrechterhaltung von Beziehungen
B. Eingeschränkte, repetitive Verhaltensmuster, Interessen oder Aktivitäten (in mindestens zwei Bereichen)
1. Stereotype(r) oder repetitive(r) Sprache, Bewegungen, Gebrauch von Dingen
2. Exzessives Festhalten an Routine, ritualisiertes Sprachverhalten (verbal, non-verbal), ausgeprägter Widerstand gegenüber Veränderung
3. Hoch eingeschränkte, fixierte Interessen, die mit „abnormer“ Intensität oder Fokussierung einhergehen
4. Hyper- oder Hypo-ausgeprägtes (Wahrnehmungs-) Verhalten im Hinblick auf sensorische Reize oder ungewöhnliches Interesse an sensorischen Umgebungsreizen
C. Die Symptome müssen in der frühen Kindheit gegenwärtig sein
D. Die Gesamtheit der Symptome begrenzen und beeinträchtigen das Alltagsverhalten (everyday functioning)
Im Unterschied zum DSM IV und zu der bisherigen Übereinkunft, zwischen drei Kernbereichen von Funktionsstörungen (triad of impairments) zu differenzieren, werden mit der Zusammenfassung der ersten beiden Bereiche nur noch zwei Hauptkategorien unterschieden. Dieser Schritt wird vor allem mit der engen Verflechtung von Defiziten in der Kommunikation mit sozialen Verhaltensweisen begründet. Des Weiteren würde die Auswahl aller genannten Symptome, die sorgfältig empirisch erforscht wurde, zu einer verbesserten spezifizierten Beurteilung von Autismus im Sinne einer Autismus-Spektrum-Störung beitragen, wobei zugleich auch eine Einschätzung der beiden Kernkategorien in drei unterschiedliche Schweregrade zur Bestimmung eines Unterstützungsbedarfs vorgesehen ist. Bis heute wird dieses neue System kontrovers diskutiert (vgl. Theunissen 2014, Kapitel I/1). So gibt es zum Beispiel die Befürchtung, dass sich zukünftig viele Personen, die bisher als Asperger- oder High-Functioning-Autisten identifiziert wurden, nicht durch das DSM 5 erfassen ließen. Anderen Personen ist hingegen das neue System nicht zu eng, sondern zu breit gestrickt, weshalb sie eine unüberschaubare Zunahme an ASD-Diagnosen befürchten. Des Weiteren wünschen sich neben einigen Eltern(vereinigungen) von sogenannten Asperger- Autisten auch manche Erwachsene, die sich selbst als Asperger bezeichnen, die Beibehaltung dieser Diagnose. All diese Einwände sind von der APA zurückgewiesen worden, unter anderem mit dem Hinweis, dass es mit der Kategorie „communication disorder“ einen neuen Bereich gebe, der sich auf Sprachstörungen beziehen würde, die bislang nicht explizit im DSM IV berücksichtigt waren und der die Möglichkeit biete, Symptome zu erfassen, die denen einer autistischen Kommunikationsstörung ähneln, aber nicht mit eingeschränkten Interessen oder repetitiven Verhaltensweisen verknüpft seien. Dadurch könnten Personen präziser erfasst werden, die bisher unter der Kategorie „pervasive developmental disorder-NOS“ (nicht näher spezifizierte tiefgreifende Entwicklungsstörung) diagnostiziert waren.
Begrüßt wird die Neuerung von einer großen Gruppe an Eltern, Familien und Autist(inn)en aus jenen US-Staaten, zum Beispiel Kalifornien, in denen sogenannte Asperger-Autisten gegenüber anderen Personen mit einem sogenannten „frühkindlichen Autismus“ bislang eine unzureichende staatliche Unterstützung erfahren (vgl. Theunissen 2013).
Ebenso findet die DSM 5 Kategorie ASD in der US-amerikanischen Autism Society (AS) sowie im Lager des Autistic Self-Advocacy Network (ASAN) Zuspruch (vgl. Ne’eman & Badesch 2012), die zu Neuerungen angestiftet und auf den Veränderungsprozess Einfluss genommen hatten. Allerdings war es der Betroffenen- Bewegung ASAN nicht um eine defizitfokussierte Sprache zu tun, die im DSM 5 unangenehm auffällt. Zudem wird die unzureichende Berücksichtigung von eigenen Lernstrategien, Stärken oder Ressourcen, sprachlichen Kommunikationsproblemen, motorischen Besonderheiten sowie die Verwendung des Störungsbegriffs und die Vernachlässigung spezifischer Probleme im Erwachsenenalter kritisiert. Dass es trotzdem eine Befürwortung gebe, sei letztlich der Tatsache geschuldet, dass anderenfalls keine wesentlichen Veränderungen sowie keine angemessene Grundlage für eine Finanzierung von Unterstützungsleistungen möglich gewesen wären. Dies aber sollte kein Hinderungsgrund dafür sein, sich weiter für die Betroffenen- Sicht zu engagieren.
Wie wichtig ein solches Engagement einzuschätzen ist, wird daran sichtbar, dass dem Anschein nach Vertreter des Klassifikationssystems ICD an ihrer konservativen klinischen Betrachtung autistischer Bilder bei der Revision ihrer 10. Ausgabe festhalten. Geplant ist im ICD-11 (dazu http://apps.who.int/classifications/icd11/browse/l-m/en [Zugriff: 27.09.2012]) unter dem Oberbegriff Autism Spectrum Disorders (Autismus- Spektrum-Störungen) zwischen vier Störungsbildern: (1) Autismus, (2) desintegrative Störung, (3) soziale Reziprozitätsstörung (Asperger-Syndrom) und (4) Rett-Syndrome zu differenzieren, wobei beim Autismus (synonym für Kanner-Syndrom oder frühkindlichen Autismus) die Abgrenzung zum Asperger- Autismus ausdrücklich betont wird („exclusions: autistic psychopathy“).
Zum Autismus-Spektrum #
Insofern erreicht erst recht nicht die geplante Neuerung im ICD-11, aber auch nicht die Verbesserung im DSM 5 das Niveau der Betroffenen- Sicht, nach der die Bezeichnung Autismus- Spektrum-Störung eine Defizitorientierung impliziert, weshalb der neutralere Begriff des Autismus-Spektrums bevorzugt werden sollte. Nach dem ASAN ist Autismus keine schwerwiegende, zu eliminierende Krankheit, sondern eine „neurological variation“ in Form eines menschlichen Seins (neurodiversity), die bei etwa 1% der Bevölkerung in Erscheinung tritt und als „developmental disability“ klassifiziert wird. Wenngleich nach Ansicht des ASAN alle autistischen Personen wie alle anderen Menschen einzigartig sind, teilen sie sich gemeinsam einige Charakteristika, die funktional bedeutsam sein können und durch das folgende Autismus-Spektrum-Konzept erfasst werden (ausführlich weiterentwickelt in Theunissen 2014):
(1) Unterschiedliche sensorische Erfahrungen
Dieser Aspekt lenkt den Blick auf das breite Feld an Wahrnehmungsbesonderheiten, die bei Autist(inn)en beobachtbar sind und von Betroffenen (z. B. Schuster 2007) immer wieder herausgestellt werden, vor allem eine überentwickelte, hochfunktionelle Wahrnehmung[1], zum Beispiel eine Hypersensibilität gegenüber Geräuschen, Lichtverhältnissen, Temperaturen, Schmerzen, Textilien, Körperberührungen oder Geschmacksstoffen; ferner eine Synästhesie, Filterschwäche, Überselektivität, veränderte zentrale Kohärenz wie auch eine „beachtliche Beobachtungsgabe für Details“ (ebd., 24). Welche Funktion ein Verhalten auf bestimmte Reize und ihre sensorische Verarbeitung haben kann, machen zwei kleine Beispiele deutlich: Die hohe Sensibilität im Hinblick auf Quietschgeräusche der Schuhe beim Gehen kann dazu führen, dass sich eine Person weigert, Schuhe anzuziehen. Das Beschnuppern von Gegenständen kann dazu dienen, sich in Anbetracht einer Hyposensibilität im Nahsinnbereich verstärkt Reize zu verschaffen und die Konsistenz oder Eigenschaften von Dingen anzueignen.
(2) Unübliches Lernverhalten und Problemlösungsverhalten
Berichten und Beobachtungen zufolge hat es den Anschein, dass viele Autist(inn)en beim Lernen angesichts ihres „anderen Denkens“ und kreativen Potenzials „weitgehend auf sich selbst gestellt“ (Seng 2011, 30) sind, sich selbst Wege erarbeiten und selbstentwickelte Strategien nutzen, um Aufgaben zu lösen (Lawson 2011, 21, 137; Schuster 2007, 81; Williams 1992, 171). Darüber hinaus gilt es, Schwierigkeiten im Rahmen exekutiver Funktionen sowie Besonderheiten zu beachten, die sich auf Leistungsstärken im Bereich der „flüssigen Intelligenz“ (Schnelligkeit bei der Erfassung von Zeichen, Mustern oder beim Puzzle legen) und auf Probleme bei der Bewältigung von Aufgaben beziehen, die verbale Fähigkeiten abverlangen. Andererseits können begabte Autist(inn)en mit besonders kreativen kognitiven Leistungen oder anderen Verstandesleistungen imponieren, indem sie sich wie beispielsweise T. Grandin (1997, 171) der Visualisierung und Logik bedienen. Die Wertschätzung eines eigenen Lernstils und das Beharren auf selbstentwickelte Lösungswege sind Ausdruck von Selbstbestimmung und unterstützen die Selbstwirksamkeit eigener Handlungen sowie die Kontrolle über die eigenen Lebensumstände.
(3) Fokussiertes Denken und Spezialinteressen
Wenngleich schon L. Kanner (1943) und H. Asperger (1944) auf Sonderinteressen – sogenannte Inselbegabungen oder spezifische Stärken als autismustypische Merkmale – hinweisen, erfährt dieses Thema erst in den letzten Jahren die Wertschätzung, die ihm für alle Personen im Autismus-Spektrum zukommen sollte. Immer wieder wird vonseiten Betroffener berichtet, dass die Beschäftigung mit eigenen, speziellen Themen nicht nur der Wissensbereicherung und Steigerung von Lebensqualität (Seng 2011, 35), sondern ebenso der Entspannung, Beruhigung oder Kompensation stresshafter Situationen dient und zudem ein Gefühl von Sicherheit, Vertrautheit und Vorhersehbarkeit bietet (vgl. Preißmann 2012, 67).
(4) Atypische, manchmal repetitive Bewegungsmuster
Hierunter werden alle Verhaltensweisen gefasst, die als motorisch auffällig gelten wie beispielsweise mit dem Oberkörper schaukeln, Zehengang, auf den Füßen wippen, mit den Händen flattern, bizarre oder verkrampfte Armbewegung, steife Körperhaltung u. a. m. Nicht selten handelt es sich hierbei um ein selbst-stimulierendes, stereotyp wirkendes, repetitives Verhalten, das für die Person funktional bedeutsam ist: „Ich selbst reagiere sensibler auf die Einstellungen der Leute. Wenn ich weiß, dass jemand mich voller Neugier beobachtet, fühle ich mich unwohl. Mein Körper reagiert sofort darauf. Ich werde hyperaktiv und wedele mit den Händen, um meinen Stress wenigstens teilweise abzureagieren“ (Mukhopadhyay 2005, 103). Darüber hinaus lassen sich unter diesem vierten Aspekt aber auch motorische Stärken (hohes Geschick) und Schwierigkeiten bei der Ausführung von Tätigkeiten (assoziiert mit einer Apraxie, Dyspraxie oder dissoziativen Störung) erfassen.
(5) Bedürfnis für Beständigkeit, Routine und Ordnung
Dieser Aspekt spielt im Leben autistischer Menschen oftmals eine zentrale Rolle und verweist auf potenzielle Ängste, die entstehen können, wenn sich Betroffene in veränderten oder unbekannten Situationen zurecht finden müssen. Routine und ein vorab festgelegter Ablaufplan mit eingebauten alternativen Lösungswegen können ein Gefühl von Sicherheit, Vertrautheit und Vorhersehbarkeit bieten. „Wenn etwas nicht genau an seinem Platz stand, musste ich es gerade rücken; und diese Tätigkeit, das Wiederherstellen von Ordnung, gab mir das Gefühl von Sicherheit“ (Williams 1992, 121). Ferner erstreckt sich dieser fünfte Aspekt auf Kompetenzen eines Organisierens, Erstellens von Zeitplänen oder Tagesabläufen, an denen alltägliche Handlungen ausgerichtet werden.
(6) Schwierigkeiten, Sprache zu verstehen und sich sprachlich auszudrücken, so wie es üblicherweise in Kommunikationssituationen (Gesprächen) erwartet wird
Einerseits lassen sich unter diesem sechsten Bereich das Ausbleiben einer verbalen Verständigung, Verzögerungen oder Besonderheiten in der Sprachentwicklung (das Vertauschen von Personalpronomina), spezielle Sprachphänomene (z. B. Echolalie, Neologismen, auffällige Intonation) sowie andere Verständnisschwierigkeiten (wörtliches Verstehen, Ironie missverstehen) wie auch Schwierigkeiten, Emotionen oder Befindlichkeiten auszudrücken, erfassen. Andererseits sollten außergewöhnliche sprachliche Leistungen (Neologismen als kreative Leistung, Verfassen von Gedichten oder autobiographischen Texten, enzyklopädische Wortschatzsammlungen, Verständigung in mehreren Fremdsprachen) nicht unberücksichtigt bleiben. Autist(inn)en, die sich sprachlich verständigen können, berichten, dass es häufig sehr anstrengend sei, die Modulation der Stimme adäquat zu beherrschen (Mukhopadhyay 2005, 91) sowie in Gesprächssituationen „gleichzeitig zu sprechen und auf die Blicke, die Mimik und die Gestik der beteiligten Personen zu achten“ (s. Pinke zit. in Preißmann 2012, 100; auch Lawson 2011, 115, 124f.). Zudem können Wörter oder Zahlen, die im Rahmen einer Kommunikation wahrgenommen werden, unmittelbar als (sensorische) Reize zu Assoziationen, zur Kreation von Strukturen, Systemen, Reimen oder Gedichten verleiten (Mukhopadhyay 2005, 37), so dass dem eigentlichen Gespräch nicht mehr gefolgt werden kann und Verständnisprobleme auftreten. Solche Situationen erzeugen Stress, und um ihn zu vermeiden, wird der Situation ausgewichen und/oder geschwiegen. Was die Echolalie betrifft, die vielen Autist(inn)en nachgesagt wird, so ist sie für Williams (1992, 292) ein Mittel, „sich anderen zu nähern und zu zeigen, dass sie eine Beziehung herstellen können, wenn auch nur als Spiegel“.
(7) Schwierigkeiten, typische soziale Interaktionen zu verstehen und mit anderen Personen zu interagieren
An dieser Stelle lässt sich ein „Mentalisierungsproblem“ (vgl. Schuster 2007, 89) ins Spiel bringen, wenn Schwierigkeiten zu Tage treten, soziale Interaktionen zu erfassen, aufrechtzuerhalten oder zu pflegen. Allerdings haben längst nicht alle Autist(inn)en signifikante Probleme, „die Perspektiven anderer einzunehmen“ (ebd., 92): „I have excellent ToM [Theory of Mind], even though as an autistic person“ – so die Autistin R. Cohen-Rottenberg (2011, 95). „So, because I am well aware of the subjectivity of all perception.“
Der oben erwähnte Rückgriff auf Visualisierung und Logik (Verstandesleistung) ist eine Möglichkeit, sich selbst zu helfen und soziale Situationen aufrechtzuerhalten oder „auszuhalten“. Des Weiteren wird Autistinnen und Autisten im Hinblick auf ihr Sozialverhalten oder Verhalten in sozialen Situationen mangelnde Empathie nachgesagt. Auch hierzu bedarf es einer differenzierten Betrachtung: Geht es um kognitive Empathie, um die Fähigkeit, sich in den mentalen Zustand einer anderen Person hineinzuversetzen, sind Interaktionsprobleme, zum Beispiel unangemessene Verhaltensweisen in sozialen Situationen, nicht selten; geht es um affektive Empathie, die die direkte Reaktion auf ein Gefühl eines anderen Menschen bezeichnet, so kann sehr wohl ein („instinktives“) Mitgefühl auftreten, da kein Mentalisieren notwendig ist (vgl. Smith 2009; Seng 2011, 16ff., 50; Schuster 2007, 111f.).
Was die Lesart dieser sieben Aspekte des Autismus- Spektrum-Konzepts betrifft, das von der Autistin Dora Raymaker stammt, so können sie bei einer Person in abgeschwächter oder stark ausgeprägter Form in Erscheinung treten. Dies bedeutet, dass die einzelnen Charakteristika nur individuell erschlossen werden können. Dabei darf jedoch ihr Zusammenspiel und -wirken nicht aus dem Blick geraten, wenn eine Einschätzung im Hinblick auf Autismus vorgenommen werden soll.
Des Weiteren dürfte unschwer zu erkennen sein, dass eine funktionale Betrachtung der Charakteristika zum Verstehen einer autistischen Person wesentlich beitragen kann. Zugleich signalisieren die Ausführungen, dass es wichtig ist, zwischen typischen autistischen Verhaltensweisen und zusätzlichen Verhaltensauffälligkeiten zu differenzieren (dazu Theunissen & Paetz 2011, 100ff.), die aus Situationen hervorgehen, in denen Autist(inn)en mit ihrem Verhalten missverstanden werden oder in denen autistisches Verhalten unterdrückt beziehungsweise aversiv unterbunden (bestraft) wird. Diese Differenzierung wird häufig ignoriert oder eingeebnet, indem beispielsweise Selbst- oder Fremdaggressionen unmittelbar mit Autismus in Verbindung gebracht werden. In Wirklichkeit handelt es sich hierbei aber nicht um ein typisches autistisches Verhalten, sondern – wie viele Betroffene berichten – um ein stressreduzierendes, reaktives Signalverhalten, das durch unpassende Situationen und soziale Reaktionen (Verstärkung) aufrechterhalten wird. Von dieser Erkenntnis aus lässt sich unschwer eine Brücke zum Vulnerabilitäts- Stress-Bewältigungsmodell (dazu Hammer 2012) schlagen, welches zum Verständnis von vermeintlichen Verhaltensauffäl ligkeiten beitragen kann und für die Entwicklung einer positiven Verhaltensunterstützung von Autist(inn)en (dazu Theunissen & Paetz 2011) konstitutive Bedeutung hat.
Ohne Zweifel gelingt es dem ASAN, mit seiner neutralisierten und erweiterten Perspektive die bisherige defizitorientierte Betrachtung von Autismus zu überwinden, wie es sich autistische Menschen seit einigen Jahren wünschen. Allerdings ist das skizzierte Autismus- Spektrum-Konzept im Unterschied zum DSM 5 nicht operationalisiert worden, weshalb es aus wissenschaftlicher Sicht kritisch betrachtet wird (Mottron [persönliche Mitteilung] 2012). Einen prominenten Stellenwert hat in diesem Konzept die Berücksichtigung von Wahrnehmungsbesonderheiten und der Stärken-Perspektive.
Zur Würdigung von Stärken und Spezialinteressen #
Es ist ein Verdienst von Oliver Sacks (1995; 2000), der breiten Öffentlichkeit Stärken- Geschichten über Autist(inn)en und andere behinderte Menschen präsentiert zu haben, die einst als abnorm, bildungsunfähig und „hoffnungslose Fälle” denunziert und abgeschrieben wurden. Sacks’ Lebensgeschichten, die sich durch mitmenschliche Wärme, liebevolle Zuwendung und Genauigkeit in der Beobachtung auszeichnen, faszinieren und laden zu einer an Stärken orientierten Wertschätzung des Anderen geradezu ein.
Ebenso eindrucksvoll sind Autobiographien, Erzählungen oder Schriften, die direkt von Autist(inn)en stammen, beispielsweise von Aspies e. V. (2010), R. Cohen-Rottenberg (2011), Ch. Preißmann (2012), N. Schuster (2007), H. Seng (2012) oder D. Williams (1992). Diese Werke öffnen der Bezugs- und Mitwelt die Augen durch eine „Innenansicht“ aus der von Autist(inn)en wahrgenommenen, erlebten Perspektive, indem die Problematik der Pathologisierung des Autismus in all ihren Fassetten sowie eklatante Missverständnisse oder Fehlinterpretationen in Bezug auf Verhaltens- und Erlebensweisen autistischer Menschen aufgezeigt werden. Bemerkenswert sind spezifische Stärken wie Zuverlässigkeit, Loyalität, Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit, Durchhaltevermögen, Genauigkeit, logisches Denken, Spezialwissen, Kreativität oder außergewöhnliche Wahrnehmungsleistungen, die sich Autist(inn)en selbstbewusst zuschreiben.
Dies hat in jüngster Zeit einige Autismusforscher/innen dazu veranlasst, ihre Aussagen über „Wahrnehmungsstörungen“ zu relativieren. Wurde zum Beispiel der viel zitierte Befund einer „schwachen zentralen Kohärenz“ zunächst ausschließlich defizitär gesehen, so ist heute von einem „veränderten Wahrnehmungsstil“ autistischer Personen (Müller 2007, 180ff.) die Rede, der auch seine Stärken hat. Das betrifft zum Beispiel (herausragende) Fähigkeiten, wie Bilder in Einzelelemente aufzugliedern, komplizierte visuelle Muster oder Umrisse zu erkennen, sich auf die Identifizierung von Details zu konzentrieren und nicht vom Umfeld beeinflussen zu lassen oder geometrische Figuren oder Objekte exakt abzuzeichnen (dazu Theunissen & Schubert 2010).
Ein prominenter Bereich, in dem individuelle Stärken von Autist(inn)en besonders zum Tragen kommen, bezieht sich auf Spezialinteressen (special interest areas). Beginnen wir mit den Bereichen der sozialen Interaktion und Kommunikation. Hier hat sich gezeigt, dass Autist(inn)en, die auf ihre Spezialinteressen angesprochen werden, eher bereit (motiviert) sind, sich (darüber) mit anderen Personen zu unterhalten und auf andere zuzugehen. Diese kommunikative Öffnung habe zugleich – so Winter-Messiers et al. (2007, 70ff.) – eine günstige Auswirkung auf das sprachliche Verhalten, auf die gesamte Körpersprache und sozial interaktive Kompetenz.
Die nicht selten leidenschaftliche Liebe für Spezialinteressen fordert aber nicht nur zu sprachlicher Kommunikation und sozialer Interaktion heraus, sondern sie kann ebenso eine Brückenfunktion für nonverbale Botschaften und Kommunikationen haben. Das betrifft insbesondere Autist(inn)en, die sich nicht oder kaum sprachlich äußern (können), uns aber zum Beispiel über Bildwerke symbolische Mitteilungen, subjektiv bedeutsame Dinge, Gefühle, Erfahrungen und Erlebnisse vor Augen führen und damit eine soziale Kommunikation aufsuchen (vgl. Theunissen & Schubert 2010). Neben der Bedeutsamkeit der Spezialinteressen in Bezug auf soziale Interaktionen und Kommunikationen konstatieren Winter-Messiers et al. (2007, 72) auch einen günstigen Effekt im Hinblick auf positive Emotionen: „Many students who were interviewed spoke negatively about themselves in some aspects, but all of them exhibited strong positive emotions when discussing their special interest areas.“ Zudem lassen manche Beobachtungen den Schluss zu, dass durch die Beschäftigung mit Spezialinteressen Selbstregulierung und Entlastung, welche infolge zu hoher „neuronaler Overload-Zustände“ (Schuster) notwendig wird, unterstützt sowie durch eine begleitende soziale Wertschätzung der Aktivitäten durch Bezugspersonen positives Selbsterleben, Selbstwertgefühl und Stolz befördert werden. Spezialinteressen wie das Malen von Bildern ermöglichen über das bisher Gesagte auch psychische Kompensation durch eine unbewusste Verarbeitung emotionaler Konflikte, Ängste oder affektiver Störungen (vgl. Theunissen & Schubert 2010). Wie wertvoll Spezialinteressen im Hinblick auf Wahrnehmungsstärken und Ausbildung motorischer Fertigkeiten sein können, führt uns das folgende Beispiel vor Augen: Der autistische Savant-Künstler Gregory L. Blackstock (dazu ebd.) hat sich ein unkonventionelles bildnerisches Ausdruckssystem erarbeitet, um für sich auf empirische Weise Dinge zu erschließen. Seine Bildserien bzw. enzyklopädischen Sammlungen reichen von kleinen Bildern mit zwei Motiven (z. B. amerikanische Präsidenten) über 40 Items (z. B. Schuhe) bis hin zu 161 Items (z. B. Wappen), die jeweils mit einer Hauptüberschrift (z. B. Die Sägen) und Untertiteln (z. B. Clown Coco) sowie mit seiner Signatur versehen sind. Beeindruckend sind seine Detailkenntnisse einer Sache, die er bis ins Winzige hinein prägnant, akribisch genau, klar erkennbar und gegenstandsadäquat aus dem Gedächtnis heraus bildnerisch wiedergibt. Dabei imponiert er mit einem Blick fürs Detail und einem feinmotorischen Geschick. Abschließend nennen Winter-Messiers et al. (2007, 73) noch eine positive Auswirkung der Spezialinteressen auf exekutive Funktionen. Wie diese im Rahmen eines speziellen Interessengebiets beruflich nutzbar werden können, führt uns T. Grandin (1997; auch Sacks 2000) vor Augen, die einst als Schülerin von Vorrichtungen zum Festhalten von Vieh fasziniert war und ausgehend von diesem Spezialinteresse sich wissenschaftliche Methoden aneignete, um später selbst Anlagen zur Tierhaltung zu entwerfen und Pläne für eine tiergerechte Viehzucht zu entwickeln. Damit ist sie heute berühmt geworden und gilt als führend auf diesem Sachgebiet.
Schlussbemerkung #
Ohne jeden Zweifel erscheint die Fokussierung von Stärken und Interessengebieten als eine verheißungsvolle Angelegenheit, die zu einem radikalen Umdenken auf dem Gebiet des Autismus herausfordert. Gestützt wird sie durch moderne Erklärungsmodelle und neurowissenschaftliche Forschungen in Bezug auf Autismus (vgl. Baron-Cohen et al. 2009; Dawson, Mottron & Gernsbacher 2008; Lawson 2011; Markram & Markram 2010; Mottron 2006)[2]. Dennoch bietet sie auch Anlass zu Kri tik. So wird ihr zum Beispiel vorgeworfen, dass sie (schwere) Verhaltensprobleme ausklammern und nicht wenige autistische Personen überfordern würde. Zudem würden längst nicht alle Autist(inn)en mit Spezialinteressen oder Stärken imponieren, weshalb die Gefahr bestünde, dass vielen von ihnen ein notwendiges Maß an Förderung, Therapie und Hilfe vorenthalten würde.
Diese Einwände sind allerdings haltlos und im Hinblick auf die Stärken-Perspektive völlig unzutreffend. So werden Verhaltensprobleme in keiner Weise ignoriert. Allerdings lehrt die Stärken-Perspektive, dass es fruchtbarer ist, an dem anzusetzen, was einer kann, als ihm ständig Defizite oder Fehlverhalten vor Augen zu führen. Dadurch, dass autistisches Verhalten funktional betrachtet und positiv gedeutet wird, können sich (professionelle) Unterstützer/ innen auf das konzentrieren, was unproblematisch ist. Des Weiteren können Stärken und Spezialinteressen im Rahmen einer positiven Verhaltensunterstützung genutzt werden, wenn es darum geht, spezifische Verhaltensauffälligkeiten abzubauen (v. a. Arbeitsverweigerung, mangelnde Lernmotivation) und neue oder wünschenswerte Verhaltensweisen (z. B. schulisches Lernen) aufzubauen (vgl. Theunissen & Paetz 2011).
Freilich sind im Einzelfall unerwünschte Nebeneffekte zu beachten, wenn sich beispielsweise die Person gänzlich ihrer Umwelt verschließt und weigert, „sich irgendeiner anderen Beschäftigung zuzuwenden“ (Attwood 2005, 109). Hier bietet es sich an, mit ihr gemeinsam einen Tagesplan zu erstellen, der eine zeitliche Begrenzung der Beschäftigung mit einem Spezialinteresse vorsieht. Ein Verbot oder eine auferlegte Einschränkung des Interesses helfen dagegen kaum weiter.
Bereits der Heilpädagoge A. Phillips war es, der 1930 aufgrund eigener Erfahrungen mit sogenannten Savants zu dem Schluss kam, dass es keine überzeugende Alternative zur Entwicklung und Unterstützung eines „persönlichen Talents“ gebe. Diese Auffassung teilt ebenso O. Sacks (1995; 2000). Jedoch sollten eine spezielle Entwicklungsförderung, allgemeine Bildungsprozesse und eine Befähigung zur Selbstvertretung (Empowerment) nicht gänzlich außer Betracht bleiben. Hierzu bietet es sich an, persönliche Interessen mit pädagogischen zu verschränken. Dieser Weg, bei dem zum Beispiel der Erwerb von Kulturtechniken mit dem Aufgreifen von Spezialinteressen und Stärken verknüpft wird, hat sich in der Praxis als wirksam und fruchtbar bestätigt (vgl. Lawson 2011, 103, 114; Kluth 2003).
[1] Für diese Erfahrung gibt es neurowissenschaftliche Erklärungen, die zu verschiedenen Theorien geführt haben (z. B. Intense World Theory von Markram & Markram 2010; Enhanced Perceptional Functioning von Mottron und Team (2006); ebenso kann die Monotropismus- Hypothese (Lawson 2011) im Kontext von Wahrnehmungsbesonderheiten diskutiert werden.
[2] Eine deutschsprachige Übersicht der aktuellen Theorien über Autismus, von denen Autist(inn)en sagen, dass sie ihren Erfahrungen und Annahmen am nächsten kommen, bietet die Schrift von Theunissen (2014).
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Der Autor#
Prof. Dr. Georg Theunissen Ordinarius für Geistigbehindertenpädagogik und Pädagogik bei Autismus Philosophische Fakultät III Erziehungswissenschaften Institut für Rehabilitationspädagogik Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
theunissen nospam@TUGraz.at @paedagogik.uni-halle.de