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Intersektionalität und Behinderung#

Ein Problemaufriss#


Freundlicherweise zu Verfügung gestellt von: "Behinderte Menschen", Heft 1 - 2014

von

Markus Dederich


Einführung#

Seit einigen Jahren sind erste Ansätze einer Rezeption von Theorien zur Intersektionalität sowie deren Übertragung auf heil- und sonderpädagogische sowie inklusionspädagogische Kontexte zu beobachten. In einer ersten Annäherung werden unter dem Begriff der „Intersektionalität“ Theorien verstanden, die sich mit dem Zusammenwirken mehrerer sozialer Ungleichheitslagen und den zwischen ihnen bestehenden Wechselwirkungen befassen. Allerdings steht diese Entwicklung noch ganz am Anfang. Zum Zusammenspiel verschiedener Ungleichheitslagen im Kontext von Behinderung gibt es eine Reihe interessanter Befunde.

  1. Unter den Kindern, die sonderpädagogischen Förderbedarf aufweisen, befinden sich knapp doppelt so viele Jungen wie Mädchen (vgl. Statistisches Bundesamt 2009, 97). Besonders massiv ist die Ungleichverteilung in Förderschulen mit dem Förderschwerpunkt soziale und emotionale Entwicklung. Analog hierzu gibt es eine ganze Reihe anderer Befunde, die auf eine engen Zusammenhang zwischen Entwicklungsauffälligkeiten und Geschlecht hinweisen.
  2. Obwohl Mädchen bzw. junge Frauen mit Behinderung durchschnittlich bessere Bildungsabschlüsse erreichen als Jungen bzw. junge Männer mit Behinderung, werden sie nach der Schulzeit in höherem Maße benachteiligt als männliche Vergleichsgruppen. So liegt die Erwerbsquote bei den Männern bei insgesamt 26 bis 30%, bei Frauen hingegen bei ca. 20%. Entsprechend sind sowohl das ökonomische Kapital, das Armutsrisiko und die Einschränkungen von Möglichkeiten zu sozialer
Teilhabe ungleich verteilt (Deutscher Bundestag 2008, Schildmann 2011a).
  1. Seit der Publikation der PISA-Studie gibt es eine verstärkte Aufmerksamkeit für den engen Zusammenhang von sozialer Herkunft (“class”), Bildungserfolgen und Behinderungen des Lernens (van Essen 2013). PISA hat den alten Befund, die Förderschule mit dem Förderschwerpunkt Lernen sei eine Schule für Arme, wieder aktuell gemacht.

Von solchen Beispielen abgesehen gilt aber bis heute weitgehend, dass die Mehrdimensionalität der Entstehung von benachteiligenden Ungleichheitslagen in vielen heilund sonderpädagogischen Arbeiten zwar mitschwingt, jedoch eher selten systematisch herausgearbeitet wird.

Nachfolgend wird es darum gehen, das Potential der Intersektionalitätsforschung für den Kontext Behinderung sowie umgekehrt die Bedeutung des Themas Behinderung für die Intersektionalitätsforschung zu beleuchten. Zum Schluss möchte ich einige für den Inklusionsdiskurs wichtigen Aspekte aufzeigen und kritisch reflektieren.

Zugrundeliegendes Verständnis von Behinderung#

Die theoretische Auseinandersetzung mit dem Begriff der Behinderung gehört zu den zentralen Themen der Heil- und Sonderpädagogik. Heute kann ein relatives bzw. relationales Verständnis von „Behinderung“ als fachlicher Konsens gelten. Damit ist gemeint, dass Behinderung keine Bezeichnung für spezifische Störungen oder Beeinträchtigungen des Individuums ist. Die aktuelle Theoriebildung nimmt vielmehr an, dass der Sachverhalt, der als „Behinderung“ bezeichnet wird, emergent aus einem mehrdimensionalen Geflecht von individuellen körperlichen oder kognitiven Voraussetzungen und daraus resultierenden Beeinträchtigungen sowie sozialen und gesellschaftlichen Kontextfaktoren hervorgeht (Gröschke 2007, 102).

Hinzu kommt, dass Behinderung das Ergebnis eines kontextgebundenen Wahrnehmungs- und Deutungsprozesses angesichts von erwartungswidrigen Merkmalen oder Eigenschaften eines Individuums ist. Jemand kann nur vor dem normativ unterfütterten Horizont verschiedener (sozialer, kultureller, wissenschaftlicher, pädagogischer, therapeutischer und anderen) Deutungsfolien als behindert wahrgenommen werden. In einem solchen Theorierahmen lässt sich Behinderung in der Folge auch als Ausgrenzungs- und Diskriminierungssachverhalt begreifen, aus dem Nachteile u. a. hinsichtlich des Zugangs zu Ressourcen oder sozialem, kulturellem und ökonomischem „Kapital“ im Sinne Bourdieus resultieren. Vor diesem Hintergrund ist Behinderung eine gesellschaftsrelevante sozialpolitische, bildungspolitische und sozialethische Aufgabe, die weit über den Kompetenz- und Aufgabenbereich der Pädagogik und Rehabilitation hinausgeht.

Führt man sich vor Augen, dass Menschen mit Behinderungen weder geschlechts- noch alterslos sind, dass sie eine soziale Herkunft und eine spezifische Bildungsgeschichte haben, in einem Netzwerk von Beziehungen leben, finanzielle Ressourcen für die Bewältigung und Gestaltung ihres Lebens usw. benötigen, wird deutlich, dass die Kategorie Behinderung mit anderen sozialen Differenzierungskategorien in Verbindung gebracht werden muss. Hier nun kommt die Intersektionalitätsforschung ins Spiel. Sie bietet die Chance, bisher weitgehend isoliert wahrgenommene und bearbeitete Probleme im Kontext von Behinderung neu zu rahmen.

Was bedeutet Intersektionalität?#

In der Soziologie dürfte die These, dass es unterschiedliche Dimensionen von sozialer Ungleichheit gibt, relativ trivial anmuten. Auch die Tatsache, dass diese Dimensionen nicht unabhängig voneinander wirken, dürfte nicht ganz neu sein. Jedoch ist die systematische, sowohl theorieorientierte als auch empirische Untersuchung solche Wechselwirkungs- und Interaktionsprozesse erst durch die Intersektionalitätsforschung zu einem eigenen Forschungsprogramm erhoben worden. Zuvor ging es in unterschiedlichen Forschungszusammenhängen, z. B. den Gender oder Cultural Studies, immer um eine Hauptdifferenz und deren Anerkennung. Die Intersektionalitätsforschung hingegen denkt Differenz im Plural. Sie geht davon aus, dass Menschen anhand einer ganzen Reihe von Differenzmerkmalen wahrgenommen und einer sozialen Bewertung unterzogen werden, dass sie „entlang dieser Kategorien Ressourcen zugewiesen oder abgesprochen bekommen, identitäre Zuweisungen erfahren oder selbst vornehmen“ (Plößer 2013, 60). Im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen also die Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Differenzkategorien und aus ihnen resultierenden Ungleichheitslagen. Winker und Degele (2009) begreifen Intersektionalität „als kontextspezifische, gegenstandsbezogene und an sozialen Praxen ansetzende Wechselwirkungen ungleichheitsgenerierender sozialer Strukturen (d.h. von Herrschaftsverhältnissen), symbolischer Repräsentationen und Identitätskonstruktionen“ (S. 15).

Jedoch geht es nicht nur bloß um Wechselwirkungen, sofern dieser Begriff suggeriert, dass das Zusammenspiel verschiedener Kategorien die Substanz der einzelnen Kategorien unberührt lässt. Vielmehr geht es um Verschränkungen und Prozesse der Modifikation (etwa die Verstärkung von Ungleichheitslagen), die aus der Verschränkung resultieren. Die Kategorien werden mit anderen Worten als interdependent gefasst (vgl. Walgenbach 2012, 19). Sie treten verwoben auf und können sich folglich „wechselseitig verstärken, abschwächen oder auch verändern“ (Winker / Degele 2009, 10). Es geht also darum, unterschiedliche Aspekte von Differenz in ihrem komplexen und vielgestaltigen Zusammenspiel und hinsichtlich der Gleichzeitigkeit ihrer Wirkungen zu untersuchen. Dem liegt die These zugrunde, dass nur so das je „Spezifische einer Unterdrückungskonstellation“ (Walgenbach 2012,11) analysiert und verstanden werden kann. Dem muss die Ungleichheitsforschung mit ihren Theorien und Methoden gerecht werden.

Die so verstandene Interdependenz hat den Vorteil, starre Differenzkategorien zu verflüssigen und so der Annahme entgegenzuwirken, den Kategorien lägen fixe Entitäten mit einem spezifischen Kern zugrunde. Dies wiederum soll der Gefahr vorbeugen, homogene Kollektive entlang einer Differenzkategorie zu konstruieren. Ein weiterer wichtiger Grundzug der Intersektionalitätsforschung ist ihre Macht- bzw. Herrschaftskritik. „Das Forschungsfeld bzw. der gemeinsame Gegenstand von Intersektionalität sind […] Macht-, Herrschafts- und Normierungsverhältnisse,die soziale Strukturen, Praktiken und Identitäten produzieren“ (Walgenbach 2012, 2). Im Zentrum des Interesses der Intersektionalitätsforschung stehen daher nur solche Ungleichheiten, die auf Machtund Verteilungskämpfe zurückgehen und durch Legitimationsdiskurse gestützt werden (vgl. ebd., 23 f.).

In einer zusammenfassenden Passage, die die Grundannahmen der Intersektionalitätsforschung bündelt, schreibt Becker-Schmidt: „Jede Achse sozialer Ungleichheit trägt Züge, die sich aus den spezifischen sozialhistorischen Kontexten herleiten lassen, in denen sie entstanden ist. Zu diesem Kontext gehören die gesellschaftlichen Konflikte, die zu Formen der Über- und Unterordnung geführt haben. Geschlechterhierarchien, Klassenantagonismen sowie Hegemonien zwischen Mehrheits- und Minderheitsgesellschaften sind zwar insofern Ausdruck von historischer Kontinuität, als sich Geschichte bis heute als Abfolge von Herrschaftsverhältnissen lesen lässt. Dennoch gibt es in diesem Gleichlauf differente Entwicklungsstränge, Verwerfungen und Ungleichzeitigkeiten. Die Diskriminierungskriterien, die charakteristisch für die einzelnen Ungleichheitslagen sind, unterliegen keiner einheitlichen Logik“ (Becker-Schmidt 2007, 60). Dem muss die Forschung und Theoriebildung durch eine kontextsensitive und relationale Kategorienbildung entsprechen. Nur so kann einer Präformierung der erforschten sozialen Wirklichkeit durch den zugrundegelegten Begriffs- und Kategorienapparat vorgebeugt werden.


Vergleicht man die bisher vorliegenden Publikationen zum Thema, dann zeigt sich, dass hinsichtlich einer Reihe zentraler Fragen noch Klärungsbedarf besteht. Hiervon sollen hier nur zwei genannt werden.

Zum einen ist das Verhältnis von Diversität bzw. Differenz, Sozialer Ungleichheit und Intersektionalität noch nicht hinreichend geklärt. Zwar handelt es sich um sich überlappende, keineswegs jedoch um Gleiches bezeichnende Begriffe.

Zum anderen besteht hinsichtlich der zu berücksichtigenden Kategorien weiterhin Uneinigkeit. Unumstritten ist die fast schon klassische Trias race, class, gender (vgl. Winker / Degele 2009); strittig aber ist durchaus, welche anderen Kategorien zu berücksichtigen sind. Wenning und Lutz (2001) beispielsweise unterscheiden 12 verschiedene hierarchisch aufgebaute Heterogenitätsdimensionen, ohne ihre Liste damit als abgeschlossen zu betrachten. Da die Anzahl und Auswahl der Differenzkategorien (z. B. „sexuelle Orientierung“, „ethnische Zugehörigkeit“, „Gesundheit“ oder „sozioökonomischer Status“) erhebliche Auswirkungen darauf hat, wer bzw. welche Gruppen überhaupt als in einer Ungleichheitslage befindlich wahrgenommen werden, ist die Auswahl bis heute umstritten. Während die von manchen Autorinnen und Autoren favorisierte Offenheit der Liste eine Rückversicherung gegen problematische Verengungen darstellt, birgt diese Offenheit ihrerseits die Gefahr, Beliebigkeit zu produzieren und damit analytisches und kritisches Potential einzubüßen. In diesem Zusammenhang fragt Walgenbach zu recht: „Welche Kategorien werden als relevant gesetzt, welche tendenziell marginalisiert, abgewertet und ausgeblendet?“ (Walgenbach 2012, 21) Auch die Entscheidung, welche Kategorien als zentral angenommen werden, ist eine diskurs- und damit machtpolitische.

Behinderung und Intersektionalität#

Einleitend wurde bereits auf einige empirische Befunde hingewiesen, die sowohl für die Theoriebildung als auch die empirische Forschung auf die Relevanz der Intersektionalität hinweisen. In diesem Abschnitt möchte ich anhand einiger weniger Beiträge skizzieren, wie die intersektionale Perspektive bisher in der Theoriebildung aufgenommen wurde.

In der Heil- und Sonderpädagogik findet sich bisher eine systematische Bezugnahme auf die Intersektionalitätsforschung nur in einer Reihe von Arbeiten von Ulrike Schildmann (Schildmann 2006, 2011a, 2011b). Ihre Studien über die Verhältnisse von Behinderung und Geschlecht bzw. Behinderung, Geschlecht und Alter sind dem Versuch gewidmet, die zwischen diesen Kategorien bestehenden Zusammenhänge „systematisch auf die gesellschaftlichen Konstellationen und Anforderungen der aufeinanderfolgenden Altersabschnitte und damit auf den Komplex der gesamten Lebensspanne“ (Schildmann 2006, 13) zu beziehen. Diesem Forschungsprogramm wird die Intersektionalitätsforschung als geeignetes Theorie und Methodenkonzept zugrunde gelegt. Hinzu kommt eine normalismustheoretische Rahmung, die deutlich macht, dass Vorstellungen von Normalität und Praktiken der Herstellung von Normalität den Kontext der Entstehung sozialer Ungleichheitslagen bilden.

Auch im Kontext der Disability Studies steht die Rezeption und Weiterführung der Intersektionalitätsforschung noch in den Anfängen. Stand bislang die Untersuchung des Verhältnisses von Behinderung und Geschlecht im Vordergrund, ist inzwischen die Einsicht gewachsen, dass weitere Ungleichheitslagen und Benachteiligungen berücksichtigt werden, etwa das Alter, der sozialer Status, die sexuelle Orientierung, die Hautfarbe, der Wohnort und die Wohnregion, der familiäre Status, der Bildungsstand, die Attraktivität und das Körpergewicht (vgl. Waldschmidt 2010). Waldschmidt zufolge geht es nicht nur im die Frage, wie die Intersektionalität für die Erforschung und theoretische Modellierung von Behinderung fruchtbar gemacht werden kann, sondern auch, ob Behinderung eine zentrale Kategorie für die Intersektionalitätsforschung überhaupt sein kann. Waldschmidt möchte „die Differenzierungskategorie (Nicht-)Behinderung als – neben class, race, gender – wichtige Dimension ins Spiel […] bringen“ (Waldschmidt 2010, 38).

Ähnlich wie Schildmann skizziert Waldschmidt ihren theoretischen Zugang unter Rückgriff auf die Normalismustheorie, in deren Rahmen „Behinderung“ als relationale Differenzkategorie gedeutet wird. Dabei wird die Kategorie „Körper“ als zentrale Analyseebene betrachtet. Ohne Theorie des Körpers, so die Grundannahme, ist es kaum möglich, ein kritisches Modell von Behinderung zu entwickeln. Waldschmidt zufolge ist der Körper „das entscheidende Machtfeld […], auf dem die Kämpfe um soziale Teilhabe ausgetragen werden“ (Waldschmidt 2010, 38). Der Vergleich und die Differenzierung von Körpern anhand von Kriterien ist ein historischer und politischer Prozess, der sich sowohl auf die Geschlechterdifferenz, den Diskurs des Rassismus oder die Unterscheidung von ability und disability anwenden lässt.

Ein anders ansetzender Zugang findet sich bei Raab (2007). Sie versucht, Einsichten der Queer-, Gender- und Cultural Studies für die Disability Studies fruchtbar zu machen und schlägt vor, die Kategorien Behinderung, Heteronormativität und Geschlecht im Sinne der Intersektionalität theoretisch zu verknüpfen. Damit folgt sie der Abkehr von einem Modell der Mehrfachunterdrückung hin zur Betrachtung miteinander verschränkter, historisch bedingter und wandelbarer sowie sich gegenseitig durchdringender, machtvoller Kategorien. Hierdurch wird Raabs Auffassung nach zum einen das Wissen über Behinderung als sozio-kulturelle Konstruktion ausdifferenziert und vertieft. Zum anderen wird sichtbar, dass die „heteronormative Ordnung der Geschlechterdifferenz“ (S. 140) nicht nur auf den „Vektoren“ Körper, Geschlecht und Sexualität beruht, sondern auch Auswirkungen auf das immer noch virulente Verständnis von Behinderung hat. Heteronormativität bestimmt demnach bestimmte Bilder von Männlichkeit, Weiblichkeit und Homosexualität, darüber hinaus aber auch von Asexualität und Ageschlechtlichkeit. Letztere sind im Kontext von Behinderung von Bedeutung, weil die Körper behinderter Menschen oftmals nicht die Kriterien erfüllen, die nach Auffassung vieler Menschen erfüllt sein müssen, um als männlich, weiblich, schön oder begehrenswert angesehen zu werden.

Durch die Verknüpfung und intersektionale Untersuchung der Kategorien Behinderung, Heteronormativität und Geschlecht und den jeweils eingelagerten Körpernormen soll es beispielsweise möglich werden zu klären, „inwieweit vorherrschende Alltagsnormen und Diskurse von Gesundheit an Weiß-Sein und heterosexuelle Maskulinität gekoppelt sind und wie dadurch umgekehrt Behinderung konstruiert wird“ (Raab 2007, 129).

Eine ganz andere Fragestellung findet sich bei Thielen (2011), der die subjektive Dimension von Diskriminierungsprozessen in den Mittelpunkt rückt. Thielen verweist auf die Gefahr, dass die Ausblendung der Perspektive der Subjekte zu einer „stereotypisierenden Konstruktionen spezifischer Gruppen“ führen kann, „die in Anbetracht spezifischer Differenzkonfigurationen in ihren Lebenslagen und Lebensweisen als homogen gedacht werden“ (Thielen 2011, o.S.). Die Hinzuziehung der subjektiven Perspektive ist der Einsicht geschuldet, dass Ungleichheitslagen nicht allein an objektiven Parametern festgemacht werden können, sondern als solche auch wahrgenommen und gedeutet werden müssen. Es ist daher entscheidend, welche Bedeutung und welchen Sinn soziale Akteure ihrer Situation beimessen und wie sie sie bewerten. Die Hinzunahme der subjektiven Perspektive hat auch in theoretischer Hinsicht eine gravierende Konsequenz. Denn hierdurch wird die – ohnehin schwierige und problembeladene – kausale Attribuierung von Ungleichheitslagen und deren Erklärung erheblich erschwert.

Probleme und offene Fragen#

In diesem Abschnitt soll es darum gehen, ohne Anspruch auf Vollständigkeit eine Reihe von Problemen und Fragen anzusprechen und deutlich zu machen, dass bei der intersektionalen Erforschung und Analyse von Behinderung noch erhebliche theoretische Klärungsarbeit und empirische Untersuchungen ausstehen.

Betrachtet man verschiedene Diskursstränge, dann zeigt sich, dass Behinderung eine Kategorie ist, die quer zu den üblichen Differenzlinien liegt, denn sie kann sowohl den körperorientierten (z. B. Geschlecht, Gesundheit) als auch den (sozial-)räumlichen (z. B. Klasse, Kultur) sowie den ökonomisch orientierten (z. B. Armut) Differenzlinien zugeordnet werden (Lindmeier 2013, 120). Tatsächlich divergieren die Auffassungen darüber, „welche Differenzkategorien und -linien sich mit Behinderung ‚dynamisch überkreuzen‘“ (ebd.).

Ebenso ist noch ungeklärt, ob die Kategorie „Behinderung“ gemeinsam mit der Kategorie „Alter“ einer übergeordneten Kategorie „Körper“ zugeschlagen werden soll, oder ob sie als eigenständige Strukturkategorie anzusehen ist. Ersteres entspräche dem Entwurf von Winker und Degele (2009). Für letzteres spricht jedoch, dass Behinderung – wie übrigens das Alter auch – nicht auf das Körperliche reduziert werden kann.

Eine weitere Herausforderung für die Intersektionalitätsforschung ergibt sich daraus, dass Differenz- bzw. Strukturkategorien ihrerseits nicht dekontextualisiert und als fixe, in sich homogene Entitäten betrachtet werden dürfen. Vielmehr sind stets historisch, politisch, soziökonomisch und kulturell bedingte Unterschiede in der Ausprägung und sozialen Ausformung der jeweiligen Kategorie (z. B. von Geschlechtsrollen, gesellschaftlichen Reaktionen auf Behinderung oder kulturellen Deutungsmustern des Alters) zu berücksichtigen.

Darüber hinaus ist es, so etwa Weinbach (2014), unerlässlich, die Differenzkategorien nicht als Personenkategorien zu begreifen, sondern sie von Gesellschaftsstrukturen her zu begreifen. Weinbach zufolge gerät die Intersektionalitätsforschung aufgrund ihrer „Geschichtsvergessenheit und gesellschaftstheoretischen Blindheit“ (S. 74) in eine Schieflage. Sie steht in der Gefahr, Subjekte anhand von Differenzkategorien zu verdinglichen, indem sie sie als beobachterunabhängige Entitäten behandelt. Statt dessen kommt es darauf an zu würdigen, „dass spezifische Personenkategorien erst auf der Grundlage spezifischer Gesellschaftsstrukturen […] in die Welt kommen, und dass sie in Abhängigkeit von diesen Gesellschaftsstrukturen an Gewicht gewinnen oder verlieren können“ (S. 80).

Desweiteren muss bei konkreten Untersuchungen von Wechselwirkungsprozessen mit anderen Differenzkategorien immer mitbedacht werden, dass jede Differenzkategorie eigene Spezifika aufweist. Das zeigt Schildmann (2011b) am Beispiel der Kategorien Geschlecht, Alter und Behinderung. Die traditionell binär gedachte Kategorie Geschlecht teilt die Gesellschaft in zwei etwa gleich große Gruppen ein. Demgegenüber wird die Kategorie Alter in mindestens drei, manchmal auch mehr Gruppen aufgeteilt, die in sich differenziert sein können, was aber wiederum von der jeweiligen Gesellschaft und Kultur abhängt. Die Kategorie Behinderung schließlich verweist insgesamt auf eine etwa 10% der Bevölkerung umfassende Minderheit (was die Kategorien Geschlecht und Alter so nicht tun). Das bedeutet, dass die Intersektionalitätsforschung stets interkategoriale Differenzen berücksichtigen muss.

Hinzu kommen intrakategoriale Differenzen, die ebenfalls nicht ausgeblendet werden dürfen. So ist der Begriff „Behinderung“ eine abstrakte Generalisierung, die höchst verschiedenartige Phänomene zusammenfasst. Daher erweist es sich im Detail als hochproblematisch, diese Vielfalt in einer homogen gedachten Kategorie zusammenzufassen. Vielmehr müssen diese intrakategorialen Differenzen ebenfalls berücksichtigt werden. Von hier aus gesehen wird es für die zukünftige Intersektionalitätsforschung im Kontext von Behinderung unumgänglich sein, genau herauszuarbeiten, was womit und in welcher Hinsicht verglichen und in Beziehung gesetzt wird.

Ein letzter hier zu nennender Punkt bezieht sich auf einen möglichen paradoxen Effekt, den die durch die intersektionale Perspektive bedingte Zunahme von Komplexität produzieren kann: Einerseits geht es der Intersektionalitätsforschung darum, die individuelle Problemund Bedürfnislage hinsichtlich der verschiedenen in ihr wirksamen Benachteiligungsfaktoren und deren Zusammenspiel zu analysieren. Das aber geht offensichtlich nicht ohne Kategorien. Andererseits geht die Intersektionalitätsforschung davon aus, dass sich die Kategorien selbst durch ihr Zusammenspiel und die zwischen ihnen bestehenden Wechselwirkungen verändern. Es ist bislang nicht geklärt, ob die Verflüssigung der Kategorien zu einem ausdifferenzierteren komplexeren System von Kategorien führt (die beispielsweise induktiv aus einem sozifischen Forschungskontext gewonnen werden) oder zu einer bloßen Diffusion. Letzteres würde zu einem Verlust an analytischer Klarheit einhergehen, sofern diese distinkte Kategorien voraussetzt. Begriffslogisch kann diesem Problem nur durch eine Ausdifferenzierung bzw. kontextabhängige Spezifizierung des Systems von Differenzkategorien begegnet werden.

Intersektionalität und Inklusion#

Die intersektionale Perspektive steigert die Komplexität des Phänomens „Behinderung“, indem Wechselwirkungen mit anderen Differenzkategorien herausgestellt werden. Jedoch begnügt sie sich nicht damit, theoretisch oder empirisch Ungleichheitslagen und daraus resultierende Benachteiligungssachverhalte zu analysieren, sondern ist auch dem Anspruch verpflichtet, einen aktiven Beitrag zur Überwindung von Unterdrückung und Benachteiligung und zur Wertschätzung von Differenzen, die nicht hierarchisiert werden, zu leisten. Diese doppelte Programmatik macht die Intersektionalitätsforschung für die Inklusionspädagogik interessant.

Nachfolgend soll es unabhängig von den zwischen Intersektionalitätsforschung und Inklusionspädagogik bestehenden politischen und sozialmoralischen Affinitäten darum gehen, einen wichtigen Unterschied herauszuarbeiten, der sich auf die jeweilige Funktion und Bewertung von Differenzkategorien bezieht. In der Inklusionspädagogik ist die Verwendung der Kategorie „Behinderung“ durchaus umstritten. Die markanteste diesbezügliche Position jedoch ist mit ihrer Forderung nach konsequenter Dekategorisierung eindeutig und unmissverständlich. Dieser Position zufolge ist die Verwendung der Differenzkategorie „Behinderung“ pädagogisch überflüssig und überdies schädlich, weshalb konsequent auf sie zu verzichten sei. Es ist genau diese Position, die nachfolgend mit der Intersektionslitätsforschung kontrastiert werden soll. Bei diesem eher skizzenhaften Vergleich werde ich auf – miteinander verwobene – analytische, politische und pragmatische Aspekte eingehen.

Im Kern geht es bei der Inklusion darum, Ausschlüsse zu vermeiden, Barrieren aller Art abzubauen und allen Menschen den Zugang zu den regulären gesellschaftlichen Institutionen sowie die Teilhabe an ihren wichtigen Gütern und Errungenschaften zu ermöglichen. Dabei ist die Prämisse zugrunde gelegt, dass Differenzen zwischen Menschen nicht nivelliert oder diskreditiert, sondern anerkannt und als positiver Beitrag zur Gesellschaft zu würdigen sind. Inklusion bedeutet „Formen der Anerkennung des oder der Anderen zu kultivieren, die das Konstrukt von ‚Normalität und Abweichung‘ und damit bestimmte Zumutungen von Zugehörigkeitsbekundungen auf kultureller, gesundheitlicher oder habitueller Ebene hinter sich lässt. Die Kategorie der Inklusion scheint geeignet, das Adressatenproblem Sozialer Berufe dahingehend zu lösen, als damit nicht mehr primär ‚Zielgruppen‘ oder deren Vertreter im Fokus stehen, sondern Bildungs- und Veränderungsprozesse zentral werden, die – bemessen an einer oder mehrerer Differenzkategorien – jeweils alle Akteure einbezieht: Vom Defizit zur Differenz […]“ (Eppenstein und Kiesel 2012, 96 f.).

Der zweite Teil des vorangehenden Zitats verweist auf ein grundlagentheoretisch zentrales Problem der Inklusionspädagogik. Wie bereits angedeutet, fordern manche ihrer Vertreterinnen und Vertreter wegen der etikettierenden und stigmatisierenden Effekte von Bezeichnungen wie etwa „Behinderung“ sowie daran anschließender problematischer Gruppenbildungs- und Stigmatisierungseffekte eine konsequente Dekategorisierung. Pointiert gesagt ist die Kategorie „Behinderung“ dieser Position zufolge weniger Ausdruck als (Mit-)Ursache sozialer Ungleichheit, Diskriminierung usw. und muss deshalb tunlichst vermieden werden (vgl. Wocken 2011). Ich werde diese Position nachfolgend als „antikategoriale Inklusionspädagogik“ bezeichnen. Insbesondere vor dem Hintergrund historischer Erfahrungen von Marginalisierung, Ausgrenzung, Entrechtung, systematischer Benachteiligung von spezifischen Gruppen entfaltet diese Position ihre politische Plausibilität.

Gleichwohl bleibt ein schwer aufzulösendes Dilemma, mit dem sich die Inklusionspädagogik, aber auch die Intersektionalitätsforschung konfrontiert sieht. Einerseits geht es in beiden Zusammenhängen darum, problematische Kategorisierungen zu überwinden, andererseits kommen beide nicht umhin, diese Kategorien zu verwenden, um bestimmte Problemlagen überhaupt benennen, sozial wahrnehmbar und damit z. B. politisch oder pädagogisch bearbeitbar machen zu können. Was sich auf einer sozialethischen Ebene als höchst problematisch erweist, ist aus erkenntnistheoretischen und analytischen unumgänglich, nämlich etwas als etwas zu benennen. Das Dilemma besteht darin, dass die Bildung von gruppenbezogenen Kategorien anhand spezifischer Differenzmerkmale einerseits die Voraussetzung dafür ist, überhaupt auf ein gesellschaftlich relevantes Problem aufmerksam zu machen (etwa die Ungleichbehandlung aufgrund einer Behinderung), andererseits aber problematische Effekte hat, etwa soziale Stigmatisierung oder die Affirmation des „ontologischen Status“ der jeweiligen Differenzkategorie.

In der antikategorialen Inklusionspädagogik zeigt sich dieses Problem in aller Schärfe. Der Verzicht auf die Kategorie „Behinderung“ mag Stigmatisierungs- und Gruppenbildungseffekte unterlaufen; zugleich aber führt er zu einem Verlust von analytischer Trennschärfe und Differenzierung, was wiederum politische und pragmatische Folgen hat – etwa die Einbuße der Möglichkeit, spezifische Interessen im Raum des Politischen zu artikulieren oder passgenaue individualisierte pädagogische Interventionen zu planen. In Hinblick auf die Intersektionalitätsforschung ist die Sachlage hingegen etwas differenzierter zu beurteilen. Hier lassen sich nach McCall (2005) idealtypisch drei verschiedene Positionen zum Umgang mit Kategorien ausmachen, nämlich interkategoriale, antikategoriale sowie intrakategoriale. Im hier diskutierten Zusammenhang kommt es nicht auf die Unterschiede zwischen diesen drei Positionen an, sondern auf die Feststellung, dass die Verwendung von Kategorien letztlich von keiner Position in Frage gestellt wird. Zwar verweist die antikategoriale Position auf die Kontingenz und Konstruiertheit von Differenzkategorien und warnt vor essentialistischen bzw. verdinglichenden Effekten, die die Auffassung nach sich ziehen kann, Kategorien seien apriori gegeben. Gleichwohl arbeitet auch diese Position mit Differenzkategorien, aber eher mit solchen, die induktiv gewonnen werden und eben nicht als vorab gesetzt betrachtet werden.

Ein weiterer Unterschied zwischen antikategorialer Inklusionspädagogik und Intersektionalitätsforschung besteht darin, dass es unter Intersektionalitätsforscherinnen und -forschern ein Bewusstsein für die politische Relevanz von Differenzkategorien gibt. So gibt es beispielsweise in den Disability Studies nicht nur eine Kritik an individualisierenden und damit Stigmatisierung und Ausgrenzung stützenden Modellen von Behinderung, sondern auch ein Festhalten an der Kategorie „Behinderung“. Einerseits ist sie unverzichtbar für analytische Zwecke, andererseits wird sie als identitätspolitisch relevante Kategorie verstanden. So sehr also die Intersektionalitätsforschung daraufhin angelegt ist, Kategorien zu verflüssigen und zu dekonstruieren, so unverzichtbar sind auch die Differenzkategorien in diesem Forschungsfeld, und zwar sowohl aus analytischen als auch politischen Gründen. Wiederum pointiert gesagt: Während die antikategoriale Inklusionspädagogik sich konsequent für die Dekategorisierung entscheidet, bleibt das Verhältnis der Intersektionalitätsforschung zu den Kategorien eher ambivalent. Trotz ihres kritischen Impetus greift sie entweder auf bereits etablierte Kategorien oder generiert Kategorien je nach Fragestellung und Problemkonstellation induktiv. Zugleich unterzieht sie die Kategorien einer Verflüssigung und Kontextualisierung und arbeitet ihre gesellschaftliche Bedingtheit heraus.

in Abgrenzung zur antikategorialen Inklusionspädagogik über die Möglichkeit verfügt, das Dilemma der Verwendung von Kategorien zwar nicht aufzuheben, aber theoretisch und reflexiv zu berücksichtigen. Dies kann gelingen, wenn sie eine spannungsreiche doppelte Perspektive einnimmt und gleichzeitig kategorial und kategorienkritisch verfährt. Das bedeutet im Kern, in einem nicht abschließbaren Prozess zwischen komplexitätsreduzierenden und eindeutigen kategorialen Bezeichnungen (die für deskriptive oder analytische Zwecke unverzichtbar sind) einerseits und einer entweder komplexitätssteigernden Verflüssigung oder dekonstruktiven Kritik der Kategorien andererseits zu oszillieren. Für diesen Prozess ist ein hohes Maß an machtkritischer Reflexivität erforderlich. Damit ist gemeint, dass es stets im Bewusstsein der Forschenden bleiben muss, dass die Begriffe, die zur Untersuchung sozialer Wirklichkeiten herangezogen werden, keine „ontologischen“ Entitäten bezeichnen, sondern konstruierte Kategorien sind, die jeweils zu einer bestimmten Zeit und in einem bestimmten Kontext hervorgebracht und verwendet werden. Reflexivität bedeutet den Fokus darauf zu legen, wie Unterscheidungen hervorgebracht werden und welche machtförmigen epistemischen und sozialen Effekte sie produzieren.

Zum Schluss soll noch darauf hingewiesen werden, dass die vorab skizzierten, auf eher wissenschafts- und erkenntnistheoretischer Ebene angesiedelten Unterschiede zwischen kategorialen und antikategorialen Zugängen zu Problemen der Differenz, auch pragmatische Implikationen haben. So verändert die Verflüssigung von Kategorien und deren Auflösung in einem interdependenten Geflecht von Differenzmerkmalen den Blick auf die pädagogische Praxis und die Weise, wie diese organisiert wird. Beispielsweise müssen pädagogische Konzeptionen für die Arbeit mit heterogenen Gruppen völlig anders gefasst werden als solche, die von homogenen Gruppen ausgehen oder nur wenige, binäre Differenzmerkmale berücksichtigen. Dies ist eine der zentralen Herausforderungen einer intersektional aufgeklärten inklusiven Didaktik: Das differenzierte und individualisierte Antworten auf höchst unterschiedliche und ausdifferenzierte Lernvoraussetzungen und Bedarfslagen. Während die antikategoriale Inklusionspädagogik es verbietet, auf ein differenziertes begrifflich-kategoriales Analyseinstrumentarium zurückzugreifen, lässt die Intersektionalitätsforschung diese Möglichkeit offen. Insofern erlaubt es ein intersektional orientierter Zugang eher als ein antikategorial inklusionspädagogischer, passgenaue Interventionen für einen in hohem Maße individualisierten Unterricht theoretisch zu fundieren.

Schlussbemerkung#

Sozialwissenschaften beruhen letztlich darauf, auf methodisch abgesichertem Weg Unterscheidungen vorzunehmen, die einen Unterschied machen. Ohne Begriffe und kategoriale Differenzierungen kann es keine Erkenntnis, keine Identifizierung von sozialen Problemen und in der Folge keine Entwicklung praxistauglicher Konzepte geben. Auch wenn es sozialmoralisch wünschenswert zu sein scheint, kategoriale Zuschreibungen aufzulösen, bleibt die Notwendigkeit bestehen, ungerechtfertigte Ungleichheitsverhältnisse analytisch zu durchdringen und im Raum des Politischen nicht nur individuelle, sondern gruppenspezifische Probleme, etwa ungerechte Verteilung von Ressourcen oder Partizipationschancen zu identifizieren und so zu einem Mehr an Gerechtigkeit beizutragen. Eine solche analytische Klarheit ist auch pädagogisch unverzichtbar, weil sie Voraussetzung dafür ist, individuell passgenaue Unterstützungsangebote zu entwickeln und entsprechende Ressourcen bereitzustellen. Wie zuvor mehrfach betont wurde, bleibt gleichwohl das Problem bestehen, dass die Verwendung von Differenzkategorien dazu beitragen kann, soziale Realitäten zu verfestigen. Dieser Spannung oder Ambivalenz scheint die Intersektionalitätsforschung eher gerecht zu werden als die antikategoriale Inklusionspädagogik. Während diese auf den Verzicht auf Kategorien setzt, arbeitet jene an einer aus den Wechselwirkungsprozessen und Dynamiken hervorgehenden Dynamik und trägt zu einer signifikanten Steigerung der Komplexität bei, ohne kategoriale Differenzen ganz zu verabschieden. Die Kunst des „intersektionalen Blicks“ besteht darin, zwischen den Polen der Synthese und Analyse frei flottieren zu können. Die Intersektionalitätsforschung stärkt nicht nur das Bewusstsein für die Komplexität, Vielgestaltigkeit und Kontingenz von Differenz, sondern hat auch das Potential, im Rahmen einer machtkritischen Fundierung Diskriminierungsverhältnisse aufzudecken und einen Beitrag zu deren Abbau zu leisten. Wie andere Diversityansätze ist sie ein Instrument, „strukturelle und institutionell Bedingungen wie auch normative Diskurse, die zur Nicht-Anerkennung und zur Ausblendung von Vielfalt führen, kritisch in den Blick zu nehmen und das Ziel der Anerkennung mit Fragen nach gerechteren Lebens- und Arbeitsverhältnissen zu verknüpfen“ (Plößer 2013, 62).

Literatur#

Becker-Schmidt, Regina (2007): “Class”, “gender”, “ethnicity”, “race”: Logiken der Differenzsetzung, Verschränkungen von Ungleichheitslagen und gesellschaftliche Strukturierung. In: Klinger, Cornelia / Knapp, Gudrun-Axeli / Sauer, Birgit (Hg.): Achsen der Ungleichheit : zum Verhältnis von Klasse, Geschlecht und Ethnizität. Frankfurt a.M. S. 56–83
Deutscher Bundestag (2008): Lebenslagen in Deutschland. Dritter Armuts- und Reichtumsbericht. Berlin
Eppenstein, Thomas & Kiesel, Doron (2012): Intersektionalität, Inklusion und Soziale Arbeit – ein kongeniales Dreieck. In: Balz, Hans-Jürgen / Benz, Benjamin / Kuhlmann, Carola (Hg.): Soziale Inklusion. Grundlagen, Strategien und Projekte in der Sozialen Arbeit. Wiesbaden, S. 95–104
Gröschke, Dieter (2007): Behinderung. In: Greving, Heinrich (Hrsg.): Kompendium der Heilpädagogik. Bd. 1, Troisdorf, S. 97–109
Lindmeier, Christian (2013): Das aktuelle Thema: Intersektionalität. In: Sonderpädagogische Förderung heute. 58. Jg., Heft 2, S.119–120
Lutz, Helma / Wenning, Norbert (2001): Differenzen über Differenz – Einführung in die Debatten. In: Lutz, Helma / Wenning, Norbert (Hg.): Unterschiedlich verschieden. Differenz in der Erziehungswissenschaft. Opladen, S. 11–24
McCall, Leslie (2005): The Complexity of Intersectionality. In Signs, Journal of Women in Culture and Society. 30. Jg. Nr. 3, 1771.1800 Plößer, Melanie: Diversität. In: Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete, 82. Jg., Heft 1, S. 60–63
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Schildmann, Ulrike (2006): Verhältnisse zwischen Behinderung und Geschlecht in der Lebensspanne. Eine statistische Analyse. In: Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete. 75 Jg., Heft 1, S. 13–24
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