Wir sind Ikarier#
Was fährt, kann auch fliegen; auf jeden Fall kurze Zeit#
von Martin Krusche
Wo Menschen Fahrzeuge haben, ist die Vernunft kein verläßlicher Passagier an Bord. Wer unaufgeregt behauptet, ein Auto sei bloß Vehikel, das einen von A nach B bringe, nichts sonst, gehört mutmaßlich einer Minorität an. Es muß angenommnen werden, daß wir schon stürmisch und unvernünfttig waren, als es noch gar keine Automobile gab.
Das legt nahe, sich bewußt den Fragen einer Kultur des Umganges mit solchen Maschinen zu widmen. Diverse Unfallstatistiken zum Straßenverkehr sowie laufende Zeitungsberichte lassen keinen Zweifel daran, daß wir Ikarier eine gefährliche Spezies sind.
Gut, nicht alle von uns sind hochriskante Ikarier, aber doch sehr viele. Ich leite das von Ikarus her; ein altes Idol in Sachen lebensgefährlicher Kühnheit. Die mythologischen Wurzeln solcher Verhaltensweisen sind markant. Da wäre ferner der Titan Prometheus, unser Lehrmeister in vielen Dingen. Er forderte Zeus heraus und betrog den Göttervater um der Menschen willen.
Zeus nahm uns deshalb das Feuer, Prometheus brachte es zurück. Er entzündete die geschichtsträchtige Fackel am Sonnenwagen von Helios, dem Vater des Phaeton, der in unserer Kulturgeschichte mit dem ersten bedeutenden Unfall eines ungeübten Rasers prominent wurde.
Zum Diebstahl des Feuers gebot der Boss seinem Sohn Hephaistos eine Strafmaßnahme für Prometheus. Der Schmied Hephaistos, Schöpfer des Sonnenwagens und anderer technischer Glanzstücke, paßt vorzüglich in diese Mutmaßungen über unsere ikarische Natur.
Er verband Neugier und Tatendrang mit Erfindergeist und Handfertigkeit, da war ihm schließlich auch seine atemberaubende Ehefrau Aphrodite schnurz. (Die ging ihm mit Kriegsgott Ares fremd.) Solche Handwerker kennen wir bis heute.
Ikarus ist vielen ein Symbol der Befreiung. Eine verführerische Vorstellung. Aber es war ja sein Vater Daedalus, der die Freiheit gewann. Ikarus fand bloß den Tod. Was uns an Ikarus fesseln mag, ist die Unbändigkeit im Hochfliegen, eine Bedenkenlosigkeit im Überschreiten von Grenzen.
Das verstellt uns den Blick auf Daedalus, den Problemlöser und vorzüglichen Mechaniker. Daedalus war der solide Handwerker, dem die Heimreise von Kreta gelang. Sein Sohn Ikarus war der bedenkenlose Himmelsstürmer, den Daedalus stürzen sah.
Stehen Ikarus und Daedalus symbolisch für die bipolare Deutung unsere Tätigkeiten, wo zwischen Kunst und Handwerk unterschieden wird? Ist Daedalus trivial und Ikarus mythisch? Wie verhalten sich das Praktische und das Ideelle zueinander? Daedalus handelt praktisch, Ikarus idealistisch?
Es hat mich übrigens ziemlich überrascht, daß uns so ein mythisches Motiv inzwischen in die Realität gefolgt ist. Heute steigen Menschen in geeignete Anzüge mit einer Art von Flughäuten an den Seiten. So gerüstet werfen sie sich von Felswänden in Tiefen, fliegen wie ein zu groß geratenes Gleithörnchen.
Gut, das Fliegen mit Wingsuits ist eigentlich mehr ein elegantes Fallen, höchstwahrscheinlich berauschend, vor allem aber ziemlich tödlich, wo man etwa beim Queren von Felsformationen etwas von der bevorzugten Flugroute abkommt.
Ein anderes Beispiel. Sehe ich mir die Crew des Nitro Circus an, in welche Höhen da mit Motorrädern und Autos gesprungen wird, eine Art der erdnahen Fliegerei, habe ich keinerlei Zweifel, Ikarus lebt. Auf festem Boden ist diese Art der Unbekümmertheit gegenüber dem Sterben ja schon längst zuhause.
Das reicht von Fahrten, um Geschwindigkeitsrekorde zu brechen, bis zu illegalen Straßenrennen. In Autos und auf Motorrädern wurde quer durch das vorige Jahrhundert (auf allen Wegen zu einem ikarischen Kick) gestorben.
Das hat auch seine stilisierten Varianten.
Eines der markantesten Beispiele ist im Film Rebel Without a Cause als Chicken Run dargestellt. In jenem Meisterwerk von Nicholas Ray, nach dem James Dean nur noch Jett Rink in Giants von George Stevens spielen mußte, um sich ewigen Ruhm zu sichern, unterliegt Jim Stark (James Dean) einen Kontrahenten bei dieser Mutprobe.
Beide Teenager fahren in Autos auf eine Klippe hoch über dem Meer zu. Es verliert, wer als erster aus dem Wagen springt. (Sieger Buzz Gunderson kommt dabei ums Leben, weil er länger am Steuer bleibt.)
Ich schweife ab. Was Räder und einen Motor hat, ist auch für Rennen geeignet. Davon sind nicht einmal Rollstühle und Rasenmäher ausgenommen.
Wer je eine BMW Isetta (Knutschkugel) mit aufgemalter Startnummer sah, ahnt, daß wir Menschen für einen Wettstreit mit Fahrzeugen weder nach unten noch nach oben Limits mögen.
Vielleicht kennen Sie dieses Bonmot: „Das erste Motorradrennen der Welt fand statt, als das zweite Motorrad der Welt gebaut war.“ Unter international vernetzten „Petrolheads“ gilt etwa die Faustregel: „It’s better to drive a slow car fast than to drive a fast car slow.“ Man möge besser ein langsames Auto schnell fahren, als ein schnelles langsam.
Die gutbürgerliche Variante solcher Statements lautet zum Beispiel: „Manche Leute fahren so langsam, die werden nicht geblitzt, die werden gemalt.“ Falls Sie nun meinen, das sei ein Ausdruck rasender Unvernunft, läßt sich das nur schwer entkräften. Ich neige zur Ansicht: Wir Menschen sind so.
Wer das lieber anzweifelt, möge Europas Mythologie befragen. Ich hab das eingangs skizziert. Warum ist den Ikarus unser Held, selbst jenen Leuten namentlich geläufig, die sich für unsere Kulturgeschichte nicht interessieren? Es war doch sein Vater Daedalus der verdiente Mann, ein guter Handwerker und solider Flieger. Aber nein, wie schätzen Ikarus, den Himmelsstürmer, der jung starb.
Und wie ist es mit Phaeton, dem Sohn des Sonnengottes Helios? Nur einmal mit Vaters (Sonnen-) Wagen unterwegs und schon ein tödlicher Unfall. In unseren Mythen überstrahlt keine Schönheit die der Sonne, von der wir gewärmt, von der unsere Welt erhellt wird.
In der Antike war sie als der Sonnenwagen des Gottes Helios gedacht, mit dem er täglich das Firmament überquert. Phaeton konnte ihm den Wagen einmal abschwatzen und raste damit in den Tod.
Die Zugkraft der Tiere und die kontinentale Raumbeherrschung durch Reiterei sind Fundamente dessen, was wir uns unter Zivilisation vorstellen, was aber auch Tod und Zerstörung ermöglicht.
In Europa hieß das hauptsächlich Ochsen und Pferde. Die Motorisierung von Fahrzeugen ist also wahrlich in der Tradition des Hephaistos getan. Die Raserei bekam ganz neue Möglichkeiten.
Ich bin überzeugt, als die Sumerer im zweiten Jahrtausend vor Christus endlich leichte Streitwagen mit schlanken Speichenrädern hatten, waren die nicht bloß für Kriegszwecke reserviert. Da ging es garantiert auch um Wagenrennen.
Ich bin sehr neugierig, was uns einfallen wird, wenn die individuelle Mobilität, gestützt auf den massenhaften Privatbesitz von Kraftfahrzeugen mit Verbrennungsmotoren, ihrem Ende zugeht.
Wie erwähnt, wir Menschen sind so. Pardon! Nein. So allgemein hat das freilich keine Gültigkeit. Aber der Motorsport hat sein enthusiastisches Publikum, seit es Kraftfahrzeuge gibt. (Wagenrennen im antiken Rom sollen übrigens auch recht gut besucht gewesen sein.)
Weitere Beiträge zum Thema:#
+) Siehe dazu auch: "Wir Ikarier" vom 6.3.2016 (link)