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Bravourmusik mit Geist#

Beethovens Sonaten für Klavier sind ein Gipfelpunkt seines Schaffens und der klassischen Musik. Das gilt nicht zuletzt für die "Mondscheinsonate".#


Von der Wiener Zeitung (12. Dezember 2020) freundlicherweise zur Verfügung gestellt

Von

Hermann Schlösser


Der deutsche Komponist Ludwig van Beethoven
Der deutsche Komponist Ludwig van Beethoven
Foto: © IMAGNO/Austrian Archives (S)

Wie Zeitgenossen berichten, war Ludwig van Beethoven ein hervorragender Pianist, bis ihm die Taubheit das Musizieren verbot. Seine völlige Vertrautheit mit dem Instrument zeigt sich auch in seinen Kompositionen: Die 32 Sonaten, die er zwischen 1796 und 1823 veröffentlicht hat, gehören zum Anspruchsvollsten, was jemals für das Pianoforte komponiert worden ist. Die "große Sonate für das Hammerklavier", op. 106, galt zum Beispiel lange als unspielbar und gehört auch heute noch nicht zum gefälligsten Konzertrepertoire.

Aber auch die meisten anderen Sonaten sind nicht für Dilettantenhände geeignet. Als reizvolle Ausnahme gibt es immerhin die zwei "leichten Sonaten" in g-Moll und G-Dur (op. 49, Nr. 1 und 2), vor denen sich selbst Amateure mit bescheidenen Fähigkeiten nicht zu fürchten brauchen. Aber jenseits dieser beiden hübschen Nebenwerke wird es schikanös schwierig. Weitgriffige Akkordblöcke, die der Hand eine große Spannung zumuten, gehen unvermittelt über in hochvirtuose Läufe, die wiederum nur mit völlig entspannter Hand zu meistern sind. Ein Musterbeispiel dafür ist der erste Satz der "Appassionata", op. 57. Im zweiten Satz der letzten Sonate (c-Moll, op. 111) verlangen endlos lange Trillerketten eine perfekte rhythmische Kontrolle, wenn sie nicht amorph und verwirrend klingen sollen. Aber auch weniger ambitionierte Werke wie die elegant beschwingte "Sonatine", op. 79, enthalten doch abrupte Lagenwechsel und große Sprünge (etwa der linken Hand über die rechte hinüber), die nur mit sicherem Überblick über die Tastatur und ungehemmter Beweglichkeit der Hände und Finger zu bewältigen sind.

Wer dieser Musik völlig gerecht werden will, darf sich jedoch nicht mit einer Aneinanderreihung makellos ausgeführter Einzelheiten begnügen, sondern muss einen frei strömenden Musikfluss in Gang bringen, in dem alle Schwierigkeiten untergehen. Dann erst blühen die kantablen Schönheiten ebenso auf wie die expressiven Eruptionen und es offenbart sich die konstruktive Logik des Ganzen.

Freilich verlangt diese Musik auch leistungsfähige Instrumente. Vom frühen 19. Jahrhundert an wurden Hochleistungsklangkörper mit drei Pedalen und großer Resonanz von Klavierbauern wie Érard in Paris und Broadwood in London auf den Markt gebracht. Beethoven verfolgte diese Neuerungen mit großem Interesse und erweiterte dabei seine Klangvorstellungen. Lassen sich die drei frühen Sonaten, op. 2, die seinem Lehrer Joseph Haydn gewidmet sind, auf einem Instrument des 18. Jahrhunderts noch adäquat darstellen, verlangen Beethovens spätere Werke herrisch nach einem Konzertflügel, der imstande ist, alle klanglichen Register zu ziehen.

Dennoch ist Beethovens Klaviermusik nicht auf die pianistische Bravour zu reduzieren. Der Komponist war ein musikalischer Denker, der die Möglichkeiten und Grenzen der Sonatenform gründlicher reflektiert hat als sein Lehrer Haydn oder auch Mozart. Seine 32 Sonaten sind nicht nur ein Kompendium pianistischer Schwierigkeiten, sondern auch ein musikalisches Forschungsprojekt: Was ist mit den Mitteln der Klaviersonate auszudrücken? Wie weit lassen sich ihre Formen dehnen, wie sehr reduzieren? Wann ist der Punkt erreicht, an dem eine Sonate aufhört, eine solche zu sein? Welche architektonischen Grundlagen müssen gewahrt werden, damit eine Sonate nicht in zusammenhanglose Einzelteile zerfällt? Mit Fragen dieser Art setzte sich Beethoven in immer neuen Anläufen auseinander.

Was ist eine Sonate? Ursprünglich bezeichnete das Wort "Sonate" jedes Musikstück, das im Gegensatz zur gesungenen "Kantate" von einem Instrument gespielt wird ("sonare" ist das italienische Wort für "spielen", "klingen"). Im Lauf des 18. Jahrhunderts wurde diese Kunstform jedoch genauer bestimmt: Seitdem beginnt eine Sonate in der Regel mit einem schnellen ersten Satz, ihm folgt ein langsamer zweiter, ein meist kürzeres Scherzo als dritter und ein beschwingtes Finale als vierter Satz. Ebenso geläufig ist die dreisätzige Form, die ohne das Scherzo auskommt. Den kompositorisch kunstvollsten Teil bildet meist der Eröffnungssatz. Zur Beschreibung seines Bauprinzips hat sich der Begriff "Sonatenhauptsatzform" eingebürgert: Zwei Themen, die sich in Charakter und Tonart voneinander unterscheiden, werden in einer "Exposition" vorgestellt, dann in einer "Durchführung" zueinander in spannungsreiche Beziehungen gesetzt, bis schließlich in der "Reprise" der Anfang wieder erreicht wird, der am Ende einer langen musikalischen Entwicklung einen anderen Eindruck hinterlässt als zu Beginn.

Diese Formvorgaben waren beim Komponieren einer Sonate gewiss nützlich, mussten aber niemals sklavisch befolgt werden. Einfallsreiche Komponisten haben immer wieder Sonaten komponiert, die der Standardform nicht (oder nicht ganz) entsprachen. Ein berühmtes Beispiel ist Mozarts Sonate A-Dur, KV 331, die justament nicht mit einem Sonatenhauptsatz beginnt, sondern mit einer Reihe von Variationen.

Delikate Musik#

Die klassische Klaviersonate bot also schon vor Beethoven Raum für allerlei Experimente. Niemals wurden die Regeln des Genres so brav erfüllt, wie sie in den Lehrbüchern standen, immer konnten Vorgaben modifiziert, relativiert oder ironisch konterkariert werden. Das sachkundige Publikum fand sein Vergnügen darin, solche Verstöße gegen die Norm zu erkennen und zu goutieren. Beethovens Arbeit ging jedoch über diese kleinen Freiheiten weit hinaus. In einem kreativen Prozess, der 27 Jahre lang dauerte, trieb er die Sonatenform in musikalische Dimensionen, von denen seine Vorgänger nicht einmal träumten. Die "Mondscheinsonate" zum Beispiel.

Ludwig van Beethovens Klaviersonate op. 27, Nr. 2 beginnt - in deutlicher Abweichung von der Normalform - mit einem langsamen Satz: Adagio sostenuto. Diese Tempowahl hat dem Stück den Beinamen "Mondscheinsonate" eingebracht, der nicht vom Komponisten stammt. Schauen wir uns dieses Stück genauer an. Vier Schläge lang hält die linke Hand den Grundton Cis in tiefer Lage fest. Darüber versetzt die rechte Hand die Töne Gis, Cis, E in eine viermal wiederholte Triolenbewegung. Den Regeln der Sonate brav entsprechend, wird so am Beginn des ersten Satzes die Tonart des Stückes unüberhörbar etabliert: durch den mehrfach zu hörenden cis-Moll-Dreiklang. Im weiteren Verlauf werden die Triolen dann durch ein weites Feld von Harmonien und zuweilen auch Dissonanzen geschickt, aber ihr rhythmisches Muster wird in keiner dieser Modulationen verändert.

So entsteht ein sanfter Fluss, der auch die Melodie trägt, die auf dem vierten Schlag des vierten Taktes mit zwei punktierten Achtelnoten einsetzt. Erst verharrt sie eine Weile auf ein und demselben Ton, dann steigt sie um ein weniges höher und sinkt wieder ein bisschen hinunter. Der Bass der linken Hand imitiert an manchen Stellen die geringfügigen Bewegungen des Hauptthemas, eine fragile Innenspannung baut sich auf, die den Tonfall des Ganzen aber nicht unterbricht. Ein bisschen traurig ist diese delikate Musik, zugleich aber tröstet sie sich durch verhaltenen Wohllaut über ihre eigene Traurigkeit hinweg.

Es ist nicht völlig abwegig, dieses zarte Adagio mit bleichem Mondlicht in Verbindung zu bringen. Allerdings ist die Sonate nach dem leisen Verklingen des Hauptthemas in den Basstiefen der linken Hand nicht zu Ende. Zwei weitere Sätze schließen sich an: Zunächst folgt ein sehr kurzes, tänzerisches Allegretto im Dreivierteltakt und in der Tonart Des-Dur. Wie kommt der Komponist von cis-Moll nach Des-Dur? Sehr einfach: Cis und Des sind der gleiche Ton, der allerdings in verschiedenen harmonischen Umgebungen angesiedelt ist. Dies ermöglicht eine Umdeutung der Tonart, auch "enharmonische Verwechslung" genannt. Im Übergang vom ersten zum zweiten Satz der "Mondscheinsonate" führt Beethoven vor, welche bezaubernde Entrückung sich mit dieser minimalen Umwandlung erzielen lässt: Ohne den Grundton zu ändern, wird aus cis-Moll Des-Dur, die Musik erstrahlt plötzlich in anderem Licht.

Freie Handhabung#

Dieses harmlos tuende, einfach nur schöne Allegretto wirkt wie ein Atemholen nach der Melancholie des ersten Satzes. Allerdings behält es nicht das letzte Wort. Kaum ist es verklungen, entladen sich die Eruptionen des dritten Satzes. Er ist mit Presto agitato überschrieben, fegt wie ein Donnerwetter über die Tasten und vernichtet alle Mondschein-Assoziationen. Dieser ungeheure Satz bildet den musikalischen Höhepunkt der Sonate. So zeigt sich endgültig, dass Beethoven hier die gewohnte Verlaufslogik geändert hat: Was üblicherweise schnell beginnt und schnell endet, also zyklischen Charakter hat, wird hier zu einer zielstrebigen Geraden: Sie hebt langsam an, wird bewegter weitergeführt, um schließlich im Extremtempo aufs Ende zuzurasen. Beethoven selbst hat diese durchkomponierte Akzeleration "Sonata quasi una Fantasia" genannt.

Damit erteilte er sich die Lizenz zur freien Handhabung der Sonatenform, denn sie vollzieht sich ja fast ("quasi") so ungebunden wie eine Fantasie. Dennoch bleibt sie eine Sonate, die in drei Sätze gegliedert ist und deren Finalsatz in eben jener Hauptsatzform geschrieben ist, die ein wesentlicher Bestandteil der klassischen Sonate ist, wenn sie auch in konventioneller gebauten Stücken ihren Platz im ersten Satz hätte.

Es fällt schwer, heute noch zu erfassen, wie unerhört (im wörtlichen Sinn) diese vielgespielte "Mondscheinsonate" in ihrem Entstehungsjahr 1801 gewirkt haben muss. Wer in den Klangwelten des 20. und 21. Jahrhunderts lebt - von Strawinskys "Sacre du Printemps" bis Heavy Metal -, wird diese Musik als ausgewogen, formfest, klangschön, kurz gesagt als "klassisch" wahrnehmen. Bei näherer Bekanntschaft offenbart sie jedoch eine Fülle musikalischer Kühnheiten. Und was für die "Mondscheinsonate" gilt, bewahrheitet sich auch an den anderen 31 Sonaten Beethovens, die am 250. Geburtstag des Komponisten zwar nicht mehr ungewohnt neu, aber noch immer faszinierend interessant sind.

Hermann Schlösser ist Literaturwissenschafter und war viele Jahre Redakteur im "extra".

Wiener Zeitung, 12. Dezember 2020