Jeder in Wien ist mit dem Kaiser verwandt#
Das Neujahrskonzert wird in mehr als 70 Länder übertragen – doch welches Österreich-Bild wird mitgeliefert?#
Von der Wiener Zeitung (Donnerstag, 30. Dezember 2010) freundlicherweise zur Verfügung gestellt
Von
Christoph Irrgeher
Neujahrskonzert zelebriert Wien als Ruhepol der Welt. Zwischen Klischees, Tourismuswerbung und Schönklang.#
Wien. Nur einen Wunsch hatte er. Ein paar Jahre ist es her, da wollte sich ein spanischer Künstler in Wien bescheiden zeigen: Als Dank für seinen Auftritt in einer hiesigen Galerie wollte er nur eine Karte – fürs Neujahrskonzert. Was umgehend Erheiterung auslöste. Und Ratlosigkeit. Wo ein Ticket auftreiben für das Konzert mit der wahrscheinlich längsten Warteliste der Welt? Am sündteuren Schwarzmarkt? Dann lieber doch ein anderes Dankeschön. Der Spanier trug’s mit Fassung.
Andere müssen es auch. Rund 1700 Karten sind im offenen Verkauf, ebenso für die – nicht gar so begehrten – Aufführungen am 30. Dezember und am Silvestertag. Freilich: Es müsste 180.000 Karten geben, um den weltweiten Bedarf zu befriedigen. Wer Karten (Höchstpreis: 940 Euro) begehrt, kann sich im Jänner auf der Philharmoniker-Homepage registrieren – und auf Glück bei der Auslosung hoffen. Auch die anderen Wege sind steinig: Ist der eine zeitaufwendig (ein Philharmoniker-Abo beantragen, förderndes Mitglied werden, Neujahrskonzert-Vorkaufsrecht erhalten: mindestens sechs Jahre), ist der andere kostenintensiv (eBay-Angebot: zwei Karten für 4600 Euro).
Wer durch die Finger schaut, kann immerhin fernsehen: Das Walzer-Event mit den fröhlichen Neujahrswünschen wird mittlerweile in 72 Länder übertragen, darunter so abendlandferne Nationen wie Jamaika, Indonesien und die Mongolei. Was verschafft dem Spektakel eigentlich die Weltgeltung? "Es ist die Neujahrsbotschaft: Hoffnung, Friede, Zuversicht", glaubt Ferdinand von Strantz von der Schweizer Firma T.E.A.M. Die Agentur, die im Namen der Philharmoniker die internationalen Senderechte des Events betreut, tut selbiges auch für Fernseh-Großereignisse wie die Champions League und den Eurovision Song Contest.
"Trägerrakete" Tradition#
Ob das Neujahrskonzert auch den Wien-Tourismus beflügelt? Von Strantz kann sich das durchaus vorstellen, sieht in erster Linie aber einen positiven Schub für das Image. Auch das Büro des Wien-Tourismus weiß auf diese Frage keine Antwort – der Werbewert des Konzerts sei aber jedenfalls "unbezahlbar". Ob dieses Wien-Plädoyer mit seinem behaglichen Walzersound, possierlichen Ballett und prunkvollen Gebäudeansichten nicht auch einen Bärendienst am zeitgenössischen Wien leisten könnte? Absolut nicht, heißt es aus dem Tourismus-Büro. " Der Grund für einen Wien-Besuch ist immer noch das Historische. Das Traditionelle, die Musik, die Museen: Das ist die Trägerrakete für einen Wien-Besuch."
Anders blickt der Soziologe Roland Girtler auf die historische Gemengelage. "Das Neujahrskonzert spielt etwas Gleichmäßiges, Ruhiges vor. Jeder ist in Wien Aristokrat, jeder mit dem Kaiser verwandt. Dieses Bild einer schönen Vergangenheit wird in Wien seit 100 Jahren gepflegt."
Freilich: Diesem Konservieren des Gediegenen ist es wohl auch zu verdanken, dass das Konzert zu dem werden konnte, was es heute ist: ein globales Ritual – wie jeder Ritus von der Wiederholung gespeist. Diese charismatische Kraft der Ruhe steckt nicht nur im Klischee vom gemütlichen Wiener, sie spiegelt sich auch im Ablauf der Konzerte. Mögen sich die Zeremonien am Werk der Komponistenfamilie Strauß auch durch die Wahl der Dirigenten und Stücke, durch kleine liturgische Freiräume unterscheiden: Spätestens bei den immergleichen Zugaben stellt sich im Musikvereinsgold das Gefühl ein, im Neujahrskonzert jenen unwandelbaren Fixpunkt zu besitzen, der den Metamorphosen einer modernen Welt trotzt. Das ist die frohe Botschaft des Neujahrskonzerts – noch bevor die Wiener Philharmoniker zuletzt ihren Gruß entbieten.
Singuläre Eleganz#
Still ist das Spitzenorchester dagegen, wenn es um die Neujahrs-Einkünfte geht: Zahlen sind da nicht zu erhaschen. Nur der Erfolg der Tonträger lässt sich noch quantifizieren: Rund 40.000 Mal verkaufte sich die aktuelle CD weltweit. Ein geringerer Ansturm freilich als auf die Karten. Aber in Zeiten schwindender CD-Einkünfte doch ein enormer Erfolg. Und: Fernab einer kitschigen Optik offenbart sich da eine Konstante, auf die auch der klischeefeindliche Wiener stolz sein darf – nämlich auf die einzigartige Eleganz des philharmonischen Walzerklangs.