Josef Schrammels Volksmusik vor Haremsdamen#
Vor 150 Jahren ging der Wiener Musiker auf Konzertreise in den Orient.#
Von der Wiener Zeitung (1. Dezember 2019) freundlicherweise zur Verfügung gestellt
Von
Stefan Winterstein
Die Schrammelmusik ist einer der raren Fälle, bei denen ein Familienname zum Genrebegriff geworden ist. Die Brüder Johann und Josef Schrammel revolutionierten Ende des 19. Jahrhunderts mit ihrem gleichnamigen Quartett die Wiener Volksmusik derartig, dass noch zu ihren Lebzeiten die "Schrammelmusik" zum stehenden Begriff wurde. Größen wie Johann Strauss und Johannes Brahms zählten zu ihren Fans.
Die aus dem Vorort Neulerchenfeld stammenden Brüder spielten in den Salons der Wiener Aristokratie und des Großbürgertums - als weniger bekannt gilt, dass Josef Schrammel als Jugendlicher auch einmal im Serail von Konstantinopel aufgetreten ist.
Gerade in diesen Tagen jährt sich der Aufbruch Josef Schrammels in den Vorderen Orient zum 150. Mal. Eine gut eineinhalb Jahre dauernde Tour führte den damals 17-jährigen Musikersohn 1869 aus Neulerchenfeld nach Smyrna (Izmir), von dort nach Konstantinopel (wie Istanbul seinerzeit international noch genannt wurde), weiter nach Ale-xandrien, Kairo und an den gerade erst eröffneten Suezkanal. Wunderlicher Höhepunkt der Reise war die erwähnte Darbietung im Sultanspalast von Konstantinopel, wo Schrammel gemeinsam mit einigen anderen Musikanten vor dem Harem auftrat: ein Ereignis, das heimischen Publizisten später zu den schauerlichsten Legenden Anlass bot, verliebte Haremsdame und Flucht inklusive.
Südbahn nach Triest#
Die Wirklichkeit war zwar etwas weniger spektakulär, und doch war diese Orientfahrt, die in die Frühzeit des mit Eisenbahn und Liniendampfschiffen organisierten Fremdenverkehrs fiel, im Ganzen ein bemerkenswertes Abenteuer. Einerseits standen Schrammel bereits die ersten modernen Verkehrsmöglichkeiten zur Verfügung, andererseits reiste er noch im herkömmlichen, das heißt rein praktisch orientierten Modus: nicht zu Vergnügungs-, sondern zu Geschäftszwecken. Ihm dabei - über seine inzwischen edierten Reiseaufzeichnungen - zu folgen, heißt vielerlei über die Reisemodalitäten, Lebensumstände und das Leben eines Musikers des 19. Jahrhunderts zu erfahren.
Am 9. Dezember 1869 ging es mit dem Fiaker von Neulerchenfeld in Richtung Meidling, wo man sich stilecht noch einmal mit Frankfurtern und Wein labte. Mit Josef Schrammel reisten dessen Tante, Katharina Schütz, und deren als reiselustig beschriebener Gatte Balthasar Schütz, beide Volksmusikanten (sie Sängerin und Gitarristin - er Sänger, Gitarrist und Geiger), sowie eine junge Dame namens Lini (wohl Karolina), die in den Aufzeichnungen als Cousine bezeichnet wird.
Vermutlich mit dem Abendzug, der damals fast 24 Stunden dafür brauchte, begab man sich per Südbahn nach Triest. Bevor man in der österreichischen Hafenstadt den Lloyd-Dampfer bestieg, wurde Gott noch um Gesundheit und gutes Wetter gebeten. Leider mit wenig Erfolg: Angesichts von "zwei Stock hohen Wellen" kamen die Passagiere vor Furcht und Übelkeit tagelang nicht aus den Betten. Nach derlei Strapazen und mehreren Zwischenhalten landeten Schrammel und die Seinen nach einer Woche endlich im kleinasiatischen Smyrna, dem heutigen Izmir.
Dort wurden sie von einem gewissen Herrn Weidmann erwartet. Die Schilderung belegt, dass eine Spielvereinbarung - vermutlich telegrafisch - bereits von Wien aus getroffen worden sein muss. Weidmann betrieb ein Kaffeehaus im sogenannten Frankenviertel der Stadt. Als "Franken" wurden Fremde aus dem westlichen Kulturraum bezeichnet, die sich häufig in eigenen, entsprechend europäisch geprägten Stadtvierteln aufhielten.
Diese Fremden im Morgenland stellten das Zielpublikum der Truppe dar, die ihnen einen "musikalischen Gruß" aus der Heimat brachte - bisweilen bildete sich offenbar ein regelrechtes Stammpublikum heraus. Aufgeführt worden sein dürften überwiegend Salonlieder und Tänze. Auch erste eigene Kompositionsversuche Schrammels, der seit frühester Jugend Erfahrungen im Ensemble seines aus dem Waldviertel nach Wien zugewanderten Vaters gesammelt und eine musikalische Ausbildung genossen hatte, sind überliefert.
Aus Schrammels Notizen geht hervor, dass er, seine Tante und sein Onkel offenbar gut gefielen, die Sängerin Lini aber ausgepfiffen zu werden drohte. Sie wurde daher bei nächster Gelegenheit heimgeschickt, und auch das Engagement in Weidmanns Kaffeehaus zerschlug sich bald. Es mangelte aber, wohl weil man weiterempfohlen wurde, nicht an Alternativen: Vorerst trat man nun in einer Gaststätte im Zentrum von Konstantinopel auf, danach einige Wochen in einem Gasthaus in Kadiköy, einer auf der asiatischen Seite gelegenen Vorstadt.
Wanzen, Flöhe, Feuer#
In einer längeren Spielpause ergab es sich nun, dass Schrammel gemeinsam mit elf fremden Musikern ins Serail gerufen wurde: "Mittwoch den 4ten [Mai] kam Herr Sarava und sagte, ich solle mit ihm spielen im Sultan-Palais, ich bekomme 20 Franken, ich ging mit ihm. Wie wir (nämlich 12 Mann) ins Palais kamen, so führten uns einige schwarze Diener in ein schönes Zimmer, da sagte er, dass gleich etwas zu essen kommen wird. In einer Viertelstunde kam dasselbe, wir aßen, aber echt türkisch, nämlich: Alles, was nur zu essen aufgestellt wurde, mussten wir mit den Fingern herausnehmen, dann nach dem Essen kam ein türkischer Kaffee und dann wurden wir in einen Garten geführt, wo 300 türkische Frauen sich ergötzten an unserer Musik. Da spielten [wir] 4½ Stunden, dann bekamen wir vom ersten Diener des Sultans unser Geld, wurden wieder durch die schauerlichen geheimen Gänge hinausgeführt und so gingen wir nach Haus."
Ganz so geheimnisvoll, wie er erscheinen mag, war dieser Auftritt vielleicht gar nicht: In den eigentlichen Haremsbereich, der streng dem Sultan, den Prinzen und den sogenannten Schwarzen Eunuchen (entmannten Sklaven aus Afrika) vorbehalten war, kann Schrammel nicht vorgedrungen sein. Der Hof wandte sich zudem seit der Auflösung der Janitscharen (1826) mehr und mehr der europäischen Musik zu. Dies wurde durch die sogenannten Tanzimat-Reformen, die eine bürgerliche Gesellschaft nach westlichem Vorbild begünstigten, noch verstärkt. Abendländische Musiker waren im Serail also hochwillkommen.
Auf Kadiköy folgte Galata, das stark europäisierte Handelszentrum von Konstantinopel. Die Zustände waren selbst hier merklich andere als in Europa: "Bis jetzt haben wir ein Zimmer, wo zwei Betten darin stehen, eines benutze ich und meine zweimal hunderttausend Wanzen und eines benutzt mein Onkel und Tante und ihre fünfmal hunderttausend Wanzen und Flöhe."
Eines Nachts findet man sich gar inmitten eines Großbrandes wieder, der angeblich über hundert Häuser vernichtete. Das von den Wienern bewohnte Haus wurde von angeheuerten Feuerwehrmännern gerettet. "Es geschah so wenig [. . .], dass wir gleich denselben Tag noch konnten zu spielen anfangen." Istanbuls Wohnbauten waren damals üblicherweise aus Holz errichtet, Brände standen gleichsam an der Tagesordnung. Nur wenige Wochen später sollte Schrammel von der Terrasse aus den Feuerschein der Brandkatastrophe von Pera beobachten, über die auch österreichische Zeitungen tagelang berichteten. An die tausend Menschen sollen dabei ums Leben gekommen sein.
Nach einem Sonderauftrag bei einer islamischen Beschneidungsfeier in Çanakkale, an der asiatischen Seite der Dardanellen, traf überraschend eine Einladung nach Alexandrien ein, wo man gemeinsam mit Tirolern musizieren sollte. Erst in Nordafrika dürfte allmählich Schrammels Abenteuerlust erwacht sein. Hat es früher noch geheißen: "Wir essen und trinken und spielen Karten, was wir immer tun, wenn wir keine Gäste haben", so beginnt er seine Arbeitspausen nun häufig anderweitig zu nutzen. Er unternimmt etwa einen Eselsritt zum Mahmudija-Kanal oder bestaunt die Pompejus-Säule, von der Napoleon einst die Eroberung Alexandriens beobachtete und die auch zu Schrammels Zeit noch außerhalb des Stadtgebietes lag, sowie, mit einem Revolver bewaffnet, die Große Katakombe von Mex. Nicht selten interpretiert er das Gesehene falsch oder wird - mangels höherer Schulbildung ein leichtes Opfer - von windigen Reisebegleitern mit Fehlinformationen genarrt: Den Mahmudija-Kanal hält er für den Nilfluss, und von den damals nur auf eigene Faust zugänglichen Katakomben wird ihm erzählt, es handle sich um unterirdische Wohnungen, in die sich einst verfolgte Christen flüchteten.
In Kairo, der nächsten Station, sieht sich Schrammel zu seinem Entsetzen gleich bei der Ankunft mit Prostituierten konfrontiert, die ihn in einem Kauderwelsch aus Deutsch, Arabisch und Türkisch zu werben versuchen. Doch er weiß sich mit seinen im Lauf der Reise angeeigneten Türkischkenntnissen zu helfen: "Da sagte ich zurück: istemem (ich will nicht)." Er steigt stattdessen gemeinsam mit einem Freund in den Jussufsbrunnen hinab und besucht die erst wenige Jahre zuvor fertiggestellte Alabaster-Moschee, die er für ein antikes Bauwerk hält. Auch eine Ausfahrt zu den Pyramiden von Gizeh wird unternommen, wobei Schrammel auch eine Besteigung der Cheopspyramide wagt.
Reprise in Alexandrien#
Von Ismailia, einer im Zuge des Suezkanalbaus entstandenen Wüstensiedlung, zeigt sich der Reisende regelrecht angeödet. Beda Dudík, der Begleiter Kaiser Franz Josephs I. bei der Kanaleröffnung 1869, hatte diese Ansammlung von Holzhäusern im Schweizerhausstil eine oasenhafte "Wunderschöpfung" genannt. Schrammel beklagt nüchtern, dass es hier kaum Landsleute gebe und man auf die Passagiere von anhaltenden Schiffen angewiesen sei.
So kam es schließlich noch zu einer Reprise in Alexandrien und, nach der Querung des Mittelmeers, zu zwei Zugaben in Pula und Triest, bevor man sich per Eisenbahn wieder in Richtung Wien begab. Am 11. Mai 1871 kommen Onkel, Tante und der inzwischen 19-jährige Neffe gesund wieder in ihrer Heimat an.
Stefan Winterstein, geboren 1981, lebt als Literaturwissenschafter und Autor in Wien. Herausgeber u. a. des Buches "Josef Schrammel im Serail" (Schneider, Tutzing 2007). Schrammels Aufzeichnungen ist mitunter schwer zu folgen - vieles musste im Zuge der Edition über aufwendige Recherchen erschlossen werden. Dass der später berühmt gewordene Volksmusiker über seine kuriose Reise überhaupt einen Bericht zusammengestellt hat, verdanken wir wohl einem Bedürfnis nach "ritueller Besiegelung". Denn es waren keineswegs nur die Lockungen einer ungewöhnlichen Verdienstmöglichkeit, die den jungen Musikus in die Ferne gezogen hatten.
Der ältere Bruder Johann leistete zur selben Zeit gerade seinen Militärdienst; Josef hingegen war untauglich. Die vermutlich vom Onkel eingefädelte Reise in den Vorderen Orient samt dortiger beruflicher Bewährung diente offenbar als eine Art Mannbarkeitsritual. Den weiteren beruflichen Weg sollten die zwei Brüder bald gemeinsam bestreiten.