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Die verlorene Komponistengeneration#

Vor 50 Jahren starb Ernst Toch - kaum einer der zwischen 1880 und 1900 geborenen Komponisten ist heute präsent.#


Von der Wiener Zeitung (Donnerstag, 2. Oktober 2014) freundlicherweise zur Verfügung gestellt.

Von

Edwin Baumgartner


Ernst Toch und die Bildhauerin Anna Mahler
Künstler im Exil: Ernst Toch und die Bildhauerin Anna Mahler, Tochter Gustav Mahlers.
© Bettmann/corbis

"Ratibor." Mit der heute in Polen gelegenen Stadt Racibórz beginnt eines der originellsten, witzigsten und effektvollsten Stücke der gesamten neueren Musikgeschichte. "Ratibor! Und der Fluss Mississippi und die Stadt Honolulu und der See Titicaca; der Popocatepetl liegt nicht in Kanada, sondern in Mexiko, Mexiko, Mexiko." Was da exponiert wird, ist eine Chorfuge nach allen Regeln hehrer Fugenkunst von Johann Sebastian Bach bis Max Reger. Oder besser: fast nach allen Regeln. Es fehlen nämlich die Tonhöhen. Ernst Toch schrieb seine "Fuge aus der Geographie" für Sprechchor als Finale einer Suite "Gesprochene Musik" im Jahr 1930.

Ernst - wer?

Der vor rund 50 Jahren verstorbene österreichische Komponist Ernst Toch ist einer der großen Vergessenen der Musikgeschichte - ein Star der Zwischenkriegszeit, nach der durch die Nationalsozialisten erzwungenen Emigration in die USA dort immerhin angesehen, nach 1945 zunehmend dem Bewusstsein des Musikbetriebs entschwunden.

Große Namen ohne Aufführung#

Es ist kein Einzelschicksal. Fast scheint es, als sei die gesamte Generation der zwischen 1880 und 1900 geborenen Komponisten des deutschsprachigen Raums verloren gegangen. Selbst jene, die dem Namen nach bekannt sind, scheinen kaum noch in den Programmen der Konzertveranstalter, geschweige denn jenen der Opernhäuser auf. Paul Hindemith (1895) geboren - wann war seine herrliche Sinfonie "Mathis der Maler" zuletzt live zu hören? Josef Matthias Hauer (1883 geboren) - dass er sich mit Arnold Schönberg um die Erfindung des Zwölftonsystems stritt, weiß man, aber wer spielt seine Musik? Einer der bedeutendsten österreichischen Symphoniker, Egon Wellesz (1885 geboren), würdiger Nachfolger Gustav Mahlers, ist praktisch unaufgeführt. Gerade Erich Wolfgang Korngold (1897 geboren) konnte ansatzweise der Vergessenheit entrissen werden.

Bleibt der engere Schönberg-Kreis: Alban Berg (1885 geboren) und Anton von Webern (1883 geboren) - doch halt: Berg, ja, gewiss, "Wozzeck" gehört zum Standardrepertoire der wichtigeren Opernhäuser, doch Webern? - Wann hat man eines seiner Werke zuletzt live gehört? Bitte selbst in den Aufzeichnungen der eigenen Konzertereignisse nachschlagen. (Abgesehen selbstredend von den "Sechs Bagatellen für Streichquartett", deren rund vierminütige Spieldauer als willkommenes Moderne-Alibi sonst auf Haydn und Beethoven beschränkter Abende dient.)

Vielleicht ist Carl Orff (1895 geboren) die zweite Ausnahme. Doch es ist eine Ausnahme mit Bauchschmerzen. "Carmina burana" sind zweifellos eines der meistgespielten Chorwerke dieser Dimension. Aber schon die wunderbaren Märchenopern "Der Mond" und "Die Kluge" erscheinen kaum je auf den Spielplänen, von den genialen antiken Tragödien "Antigonae", "Oedipus der Tyrann" und "Prometheus" oder der tiefschürfenden Weltende-Philosophie "De temporum fine comoedia" ganz zu schweigen.

Vielleicht kann man tatsächlich an Toch festmachen, was eine ganze Generation von Komponisten aus Deutschland und Österreich hat untergehen lassen. Auf gewisse Weise scheint Tochs Schicksal beispielhaft - nur der Start, der ist schon sehr individuell, quasi anders herum. Der am 7. Dezember 1887 in Wien geborene Komponist hat nämlich mit Streichquartetten Erfolg, ehe er ein geregeltes Kompositionsstudium absolviert. In der Folge erhält er die wichtigsten größeren Preise (mehrmals etwa den österreichischen Staatspreis), dient im Ersten Weltkrieg als Soldat, heiratet.

Nach dem Ersten Weltkrieg schreibt er die Werke, mit denen er dem Musikgeschehen seinen Stempel aufdrückt: Das neunte Streichquartett op. 26 (1919), das Klavierkonzert, für das sich Pianisten wie Walter Gieseking und Elly Ney einsetzen (ausgerechnet jene Elly Ney, die 1940 wegen einer Konzertreise in die Niederlande das Reichspropagandaministerium wissen ließ: "Es ist mir nicht sehr angenehm, daß ich dort im Hotel Central wohnen muß. Jedoch hoffe ich, daß sich dort keine Juden mehr aufhalten, so wie es früher war") und das auch die Dirigenten Wilhelm Furtwängler und Pierre Monteux favorisieren, und die bereits genannte "Fuge aus der Geographie".

Toch ist jetzt eine feste Größe des Konzertlebens, doch nach Hitlers Machtergreifung bleibt ihm als Jude nur die Flucht: erst nach Paris, dann in die USA, wo er als Professor der University of Southern California Komposition und Philosophie lehrt. Er schreibt einige Filmmusiken, etwa zu den Thrillern "The Cat and the Canary" und "The Unseen".

Symphonien als Alterswerke#

1950 beginnt Toch, immerhin 63 Jahre alt, Symphonien zu komponieren: Sieben werden es insgesamt. 1958 verleiht ihm die Bundesrepublik Deutschland ihr großes Verdienstkreuz, Österreich lässt sich mit dem Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst bis 1963 Zeit. Dass man Toch nach 1945 niemals offiziell um seine Heimkehr bittet, versteht sich von selbst. So stirbt er am 1. Oktober 1964 in Santa Monica als "amerikanischer Komponist".

Natürlich könnte man das Schicksal Tochs und seiner Generationsgefährten primär am Nationalsozialismus festmachen und der Unterbrechung der Aufführungstradition mit allzu schwachen Wiedergutmachungsbestrebungen nach Ende der NS-Diktatur. Doch die Dinge liegen hier, wie so oft, komplizierter.

Alois Melichar, österreichischer Komponist, Dirigent und Verfasser von Polemiken wie "Musik in der Zwangsjacke", die sich vor allem gegen Schönberg aber auch gegen Orff wenden, berichtet, dass man Toch bei einem Deutschlandbesuch nahegelegt habe, er müsse jetzt "etwas richtig Freches" schreiben.

Nun war Toch zwar ein richtig frecher Komponist gewesen, sein Name galt nahezu als Synonym für freche Musik - aber diese Zeit lag 1000 Jahre zurück. Wobei Toch schon zuvor, in einigen Werken Ende der Zwanziger-, Anfang der Dreißigerjahre, von der Mischung provokanter Grellheit, maschinenhaften Rhythmen und scharf dissonantem Kontrapunkt Abstand genommen und sich der Tatsache besonnen hatte, dass er vor allem auch ein begnadeter Melodiker war. Nach der Emigration wandelte sich seine Musik endgültig in herbe Neoromantik. Dass Toch in den USA seine Sprache mildert, kennt man als Phänomen der Konzession an den Geschmack des Publikums nicht nur von ihm. Auch Hindemiths und Béla Bartóks "amerikanische" Werke sind auf hohem Niveau kulant, und dass der sonst stets so unerbittliche Arnold Schönberg gerade im amerikanischen Exil der Zwölftontechnik tonartengebundene Bedeutung abringt und in seinem fast etwas reißerischen Klavierkonzert gar Melodien in süffigen Oktaven verstärkt, ist gewiss kein Zufall.

Auch Toch hatte nun, im Exil, einen Altersstil entwickelt, der sich in langen, weitbogig gespannten Melodien manifestiert, und in einer Klanglichkeit, die man als karg, bisweilen auch als schroff bezeichnen mag, ganz gewiss aber nicht mehr als frech oder provokant.

Ein Generationskonflikt#

Genau das mag der Grund für das Verschwinden so vieler deutschsprachiger Komponisten der Generation der 1880 bis 1900 Geborenen sein. Keiner von ihnen kam um den Bruch herum: Entweder wurde er 1933 in Deutschland und 1938 in Österreich vollzogen oder 1945, als einerseits in einer falsch verstandenen Aufarbeitung nicht die Wiedergutmachung im Zentrum des Denkens stand, sondern die Wiedergutmachung unter der Bedingung, dass die Musik avantgardistisch sein musste; andererseits aber auch Komponisten, die sich mit dem NS-Regime arrangiert hatten, nun in dem Tempo aus den Spielplänen verschwanden, in dem man ihre Verstrickungen in die kunstpolitischen Machenschaften der Nationalsozialisten entdeckte. Mit einem Johann Nepomuk David wollte man ab einem gewissen Zeitpunkt eben nichts mehr zu tun haben, und Joseph Marx hatte (obwohl seine Verstrickungen gar nicht so klar waren) bald nur noch in Österreich eine, freilich auch hier verblassende, Stellung.

Die Generation 1880-1900 war, ob es nun jüdische Komponisten waren, die emigrieren hatten müssen, oder solche, die es sich gerichtet hatten, 1945 zur alten Garde geworden. Es waren Männer aus einer anderen Zeit (fast so, als ob es wirklich 1000 Jahre gewesen wären), von denen ein Karlheinz Stockhausen, ein Hans Werner Henze oder ein Gottfried Michael Koenig nichts mehr wissen wollten. Der Untergang von Komponisten wie Toch könnte somit auf einen simplen Generationenkonflikt mit einem der mörderischsten Regime der Weltgeschichte als Katalysator hinauslaufen. Wer nur einmal die "Fuge aus der Geografie" gehört hat, ahnt, welchen Verlust das für unser Kulturleben bedeutet.

Wiener Zeitung, Donnerstag, 2. Oktober 2014