Zu Österreichs bildender Kunst in der Zwischenkriegszeit#
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Was die Wertschätzung österreichischer Kunst des 20. Jahrhunderts betrifft, so begegnen wir auf den ersten Blick einem merkwürdigen Tatbestand. Es gibt nämlich nur international anerkannte österreichische Künstler, die entweder schon bis zum Ende des Ersten Weltkrieges über Österreich hinaus Anerkennung gefunden hatten oder solche, deren Hauptwerke erst nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden sind.
Im ersteren Fall handelt es sich etwa um Gustav Klimt, Egon Schiele, Alfred Kubin und Oskar Kokoschka, im letzteren um Friedrich Hundertwasser, Ernst Fuchs, Arnulf Rainer und Fritz Wotruba. Dazwischen gab es anscheinend niemanden, der internationale Anerkennung verdiente. Das ist aber denkbar unwahrscheinlich, und man muss sich fragen, warum die Künstler der Zwischenkriegszeit nicht mehr bekannt wurden. Und hier bieten sich als Erklärung die sozialen, ökonomischen und politischen Verhältnisse an, die eine Ausstrahlung über Österreich hinaus verhinderten, ja in Österreich selbst einen Durchbruch unmöglich machten. Bevor wir uns der Problematik weiter nähern, sollten wir uns fragen, wen man eigentlich einen Künstler der Zwischenkriegszeit nennen sollte. Natürlich kann man, wenn man will, auch Kokoschka oder Kubin zu den Künstlern der Zwischenkriegszeit rechnen, da sie ja zwischen den beiden Kriegen sehr bedeutende Werke schufen. Tatsächlich wird man ihr Schaffen nicht außer acht lassen können, da ja, präzise gesagt, die Kunst der Zwischenkriegszeit einfach jene ist, die während dieser Jahre entstanden ist.
Aber mit den Künstlern ist dies anders. Sie haben teils vor, teils nach dieser Zeit Werke geschaffen. Ich meine nun, dass jene Künstler als eigentliche Künstler der Zwischenkriegszeit anzusehen sind, deren Hauptwerk in diese Zeit fällt. Nun sagt man, dass bildende Künstler im allgemeinen zwischen dem zwanzigsten und dreißig- bis vierzigsten Lebensjahr ihre besten Werke schaffen, wobei man dabei natürlich sehr vorsichtig sein muss. Denn obwohl diese Regel sehr häufig stimmt, gibt es doch sehr bedeutende Ausnahmen.
Nun ist die Zwischenkriegszeit relativ kurz. Knapp zwanzig Jahre dauerte sie. Aber sie ist ein historisch sehr präzise abzugrenzender Zeitabschnitt. Sowohl an ihrem Anfang als auch an ihrem Ende standen große gesellschaftliche und politische Veränderungen. Es wäre naheliegend, die Künstler und Kunstwerke einfach aufzuzählen, sie mit mehr oder weniger Krampf in "Stilrichtungen" "einzuordnen" und damit einen sogenannten "Überblick" zu geben. Dies ist wohl die landläufige, "kunsthistorische" Vorgangsweise, die ich jedoch gerne den Kunsthistorikern überlasse, die hierzulande das Monopol in der Kunstwissenschaft besitzen.
Ich bin Psychologe, speziell Tiefenpsychologe, und mich lässt eine solche Vorgangsweise völlig unbefriedigt. Sie macht nichts verständlich und dient so weder der Kunst bzw. den Künstlern noch dem Publikum in einem auch nur halbwegs genügenden Grad. Will man - und gerade darum geht es mir vor allem - die Kunst einer Epoche verstehen (was durch einzelne Werke und einzelne Künstler viel leichter ist als bei einem nolens volens oberflächlichen "Überblick") muss man sich die Frage stellen, was speziell diese Epoche ausmacht, was sie in besonderem Maße bestimmt und wie der sogenannte "Zeitgeist" in ihr zum Ausdruck kommt. Das interessiert mich, und ich hoffe, dass es auch das ist, was Sie in besonderem Maße interessiert.
Mit dem Wort "Zeitgeist" haben wir einen Ausdruck verwendet, von dem wir einerseits spüren, dass mit ihm etwas echt Vorhandenes getroffen wird, andererseits, dass wir dabei in eine diffuse Begriffswelt eintreten, die dem typischen Hochschwefel vieler "Kunstexperten" entspricht, der dazu führt, dass sich das Publikum weitestgehend weigert, Abhandlungen über Kunst zu lesen, und Kunstbücher nur als Bilderbücher ansieht. So sehr ich überzeugt bin, dass es so etwas wie einen "Zeitgeist" gibt, so überzeugt bin ich auch, dass es nötig ist, diesen Begriff seines potentiellen Mystizismus zu entkleiden, der ihn des Öfteren umgibt. Er erwächst aus der Situation, in der sich eine Gesellschaft in einer bestimmten Periode ihrer Geschichte befindet, aus den Aufgaben, die ihr daraus erwachsen, und aus den Möglichkeiten, diese zu bewältigen. Sicherlich, man kann in einer Situation verschieden reagieren, aber diese Situation gibt doch einen gemeinsamen Nenner für alle, die sich in ihr befinden.
Österreichische Kunst der Zwischenkriegszeit#
Nun behandeln wir nicht einfach die Kunst der Zwischenkriegszeit im allgemeinen - also den gemeinsamen Nenner jener der USA, Frankreichs, Italiens, Deutschlands, ja auch der Sowjetunion -, sondern nur die Österreichs. Es kann kaum ein Zweifel darüber bestehen, dass es in den verschiedenen genannten Ländern Gemeinsamkeiten der Kollektivsituation gibt, so etwa, was die technischen Entwicklungen angeht, in denen allerdings die USA zumindest darin führend waren, als technische Errungenschaften bereits den Massen zur Verfügung gestellt wurden. Aber es gibt auch erhebliche Unterschiede. Etwa was die historische Ausgangsbasis in den einzelnen Ländern betrifft, die eine sehr wichtige Situationskomponente darstellt. In diesem Zusammenhang erhebt sich die Frage, welche Besonderheiten gerade Österreich betreffen, denn es geht uns ja um die österreichische Kunst dieser Zeit. Nun befand sich Österreich zweifellos in einer Sonderposition, die sich am ehesten noch mit jener der Türkei vergleichen lässt. Von einem 54-Millionen-Reich blieb ein Rumpfstaat von sieben Millionen übrig. Mit ungesicherten, unklaren Grenzen, mit einer Hauptstadt, die als Verwaltungszentrum einer Großmacht konzipiert war, mit einer ökonomisch höchst fragwürdigen Struktur (deckte doch 1918 etwa die Agrarproduktion gerade fünfzehn Prozent des Bedarfs - heute: 85 Prozent -, und die ökonomischen Verflechtungen mit vielen Produktionszentren der alten Monarchie waren zerschnitten worden). Das war das Ergebnis der folgenreichsten Niederlage der österreichischen Geschichte. Denn den Ersten Weltkrieg verlor vor allem Österreich, und erst den Zweiten Deutschland. Diese Niederlage zu verarbeiten, war eine enorme ökonomische, politische und sozialpsychologische Aufgabe. Zwar hatte die Spätmonarchie durchaus demokratische Elemente, die die Nachfolgestaaten mit Ausnahme Österreichs und dem nunmehr italienischen Gebiet durchaus zu schätzen wussten, aber auch noch erhebliche obrigkeitsstaatliche. Aber die Republik musste zu einem Zeitpunkt größter außen- und innenpolitischer Schwierigkeiten ihre Fähigkeiten zeigen. Die ökonomische Lage war also a priori schwierig. Ein ökonomisch verwundbares Land musste die dann 1929 einsetzende Weltwirtschaftskrise besonders hart treffen und später mit der bewusst destruktiven ökonomisch Politik Deutschlands gegenüber Österreich nach 1933 ("Tausend-Mark-Sperre") fertig werden, die den Zweck hatte, Österreich "anschlussreif" zu machen.
Die sicherlich objektiv bestehenden Schwierigkeiten Österreichs sowie seine relativ geringe demokratische Tradition mussten nun auch die inneren Verteilungsprobleme dramatisieren. Und so kam es zu jener inneren Teilung Österreichs in zwei Lager, die erst durch Hitlers Konzentrationslager eine entscheidende Abschwächung ihrer Feindschaft erfuhr. Der bürgerlich-proletarische Konflikt spiegelte wohl einen auch international bestehenden Klassengegensatz wider, der dann im Ost-West-Konflikt nach dem Zweiten Weltkrieg seine gleichsam klassische Prägung erfuhr.
Gewiss, Österreich lebte nicht auf dem Mond. Es wurde von anderen beeinflusst - von Deutschland und Italien mit ihren Faschisten, von der Sowjetunion mit ihrem elitären aristokratischen Avantgarde-Proletariertum, schließlich von den liberalen USA, die dabei waren, durch Massenproduktion die technischen Errungenschaften, wie Telefon, Grammophon, Radio und Auto, sehr vielen Bürgern zugänglich zu machen, deren Jazz-Musik (teils über das Kino) sich wie eine Weltreligion ausbreitete und erstmals die Schwarzen als Künstler international etablierte und deren Werbemethoden Moden und sonstige Lebensformen weit ausstrahlten. Auto, Flugzeug und Eisenbahn durchstießen die Hundert-Stundenkilometer-Marke auf breiter Front. Die technische Industrie mit ihren Möglichkeiten faszinierte in gleicher Weise Liberale und Sozialisten, doch wurden gleichzeitig auch, wohl oft im Anschluss an Friedrich Nietzsche, Stimmen laut, die vor der Zerstörung der Natur warnten.
Frauenemanzipationsbestrebungen gab es, und all die schönen Dinge, die teils eine Neue Linke heute als besonders originell ansieht. Denn gegen die sekundärfeudalen faschistischen Tendenzen gab es egalitär-demokratische, gegen die sozialistischen auch universal-menschliche.
Depression#
Betrachtet man also die Situation, in der sich die Menschen der Zwischenkriegszeit befanden, so stellt diese den gemeinsamen Nenner dessen dar, was man mit Recht den "Zeitgeist" nennt. Dieser umfasst nun auch die verschiedensten Reaktionen auf eine gegebene Situation. Denn man kann je nach den schichtspezifischen und individuellen historischen Voraussetzungen positiv abhängig, negativ abhängig sowie vernünftig unabhängig reagieren. Das heißt, man kann im Sinne der eigenen Tradition, gegen diese oder auch kritisch realistisch reagieren. Sicherlich ist den österreichischen Reaktionen - mit wenigen Ausnahmen, und dies wird niemanden verwundern - eine tiefe Depression, eine melancholische Niedergeschlagenheit gemeinsam: Wie soll man auf diese säkulare Niederlage sonst reagieren? Aber trotzdem sind in diesem Rahmen sehr verschiedene Reaktionen zu bemerken. Denken wir etwa an einen so bedeutenden Mann wie Hugo von Hofmannsthal. Dieser hat sich mit Republik und Demokratie nie recht abgefunden. In einer sentimentalen Rückwendung in die Spätphase der Monarchie hat er dieser romantische Denkmäler geschaffen, großartig unterstützt von dem Bayern Richard Strauss. Nicht umsonst hat Hofmannsthal auch der patriarchalischen Ehe einen, allerdings zauberhaften, Schwanengesang gesungen. Richard Strauss hat für die Arabella ein südslawisches Lied verwendet und so zu Hofmannsthals Text eine seiner schönsten Arien komponiert:
Und Du wirst mein Gebieter sein
und ich Dir Untertan,
Dein Haus wird mein Haus sein
in Deinem Grab will ich mit Dir begraben sein,
so gebe ich mich Dir
für Zeit und Ewigkeit!
Die "nostalgische" Rückwendung war eine Form der Reaktion auf die triste Situation, und sie lag allen jenen nahe, denen es in der Spätmonarchie relativ gut gegangen war. Aber jene Gesellschaftsschicht - spät feudale und gutbürgerliche Gruppen - betrachtete Kunst zwar als Schmuckelement ihres Lebensstils, war aber durchsetzt von genussvoller Tragik. Schon vor dem Krieg hatte der elegisch todessüchtige Gustav Klimt - ein echter Haute-Volée-Künstler - dem Ende der Monarchie das Sterben umrankt - man denke an sein Bild "Der Kuss", auf dem entnervte, entblutete Liebende sich am Abgrund zu Tode küssen. Die triste Situation in der Ersten Republik bestätigte dieser Schicht ihre Lebensskepsis. Die Wiener Werkstätten hielten die Fahne der Haute-Volée hoch. Das heißt, man sah über die sozialen Notstände und Probleme weiterhin vornehm hinweg, doch mit Tristesse. Aber es mag als Symptom gelten: Recht kurz, aber doch, war Gustav Zimpel, ein Neffe Klimts, Direktor der Wiener Werkstätten. Er schuf unter anderem Bilder überzüchteter hollywoodschlanker Frauen, manierierter Kaffeehäuser und ähnliches. Aber quasi als Kontrapunkt heimlich und leise, schuf er sozialkritische Blätter, ja auch Gemälde. Und so erwarb ich - zum Rufpreis von dreihundert Schilling - in der Hauptanstalt des Dorotheums ein Ölbild von ihm, das alte, bewohnte Eisenbahnwaggons darstellt. Sein Werk wurde mit Hilfe seines Bruders in zwei Verkaufsausstellungen verschleudert und so umgebracht.
Die Kunst der Haute volée sieht also über Notstände hinweg. Man kann dies auch, indem man in Märchen oder Mythen flüchtet oder in "zeitlose" Themen, wie etwa Blumensträuße oder Landschaften. Aber auch solche lassen sich depressiv oder heiter darstellen. Wenn es auch sehr schwierig sein mag, anlässlich solcher Themen den Zeitgeist zu erspüren oder gar schlüssig nachzuweisen, manchmal ist es möglich. Sicherlich, wenn eine soziale Situation thematisch dargestellt wird, dann ist der Bezug auch leicht zu erkennen und zu durchschauen. Ansonsten ist es schwierig.
O.R. Schatz und seine Holzschnitte#
Sehen wir uns etwa O. R. Schatz' Blatt "Allein" an, ein Holzschnitt aus dem Jahr 1929. Da steht ein Arbeiter allein vor einem hohen Haus, diesem den Rücken zukehrend. Das Haus hat kleine Fenster, die aussehen wie die eines Gefängnisses. Links steht eine Gaslaterne, ohne Licht zu geben. Der Mann sinniert vor sich hin. Seine Augen blicken mit jener Leere, die typisch ist für jene, die sich mit ihren inneren Bildern beschäftigen und die Welt außen "aus den Augen verloren" haben. Und er kommt zu keinem Ergebnis. Dieses Blatt zeugt von tiefer Depression. Diese ist jedoch konkret auf die Situation eines Arbeiters, wahrscheinlich eines Arbeitslosen bezogen. Dessen Ausweglosigkeit mochte jedoch auch jenen etwas sagen, die nicht arbeitslos waren. Aber die Situation, besonders nach dem "Schwarzen Freitag" an der US-Börse 1929, war Existenznot im eigentlichen, ursprünglichen Sinne.
Ohne Zweifel gilt dies auch von seinem Holzschnitt "Um den Abfall" aus demselben Jahr. Da greift eine sichtbar alte und gebeugte Frau in einen praktisch leeren Abfallkorb - wohl der Gemeinde Wien. Hinten rechts gehen, hoch erhobenen Hauptes, Mann und Frau in Mänteln mit Pelzbesatz vorbei - er den Blick starr und verkrampft nach vorne gerichtet, sie mit von der Abfallstiererin abgewandtem Blick. Hier ist Klassenspannung zu spüren und auch Aggression gegen die Reichen, wenn auch das Mitleid mit der armen Frau dominiert. (Eher einer Kollwitz als einem Georges Grosz in der Affektivität verwandt.)
Hans Scheibner, der Bildhauer des Café Landtmann, erzählte mir von seiner Aufnahmsprüfung an der Kunstgewerbeschule am Stubenring, kurz nach dem Ersten Weltkrieg. Franz Cicek - der große Kinderkunstpädagoge - war dort Professor und nahm die Aufnahmsprüfung ab. Er verlangte folgendes: "Stellen Sie sich vor, jemand will sich umbringen und in die Donau stürzen. Malen Sie das!" Er wollte den Ausdruck einer Stimmung sehen, nicht technisches Talent. Aber es war wohl kein Zufall, dass er gerade den Selbstmord zum Thema wählte.
Schatz hat in seinem Holzschnitt "Am Ende?" dieses Thema ohne Auftrag gestaltet. Da steht einer am Geländer, wohl jenem der ehemaligen Floridsdorfer Brücke. Denn gewaltig wölben sich die eisernen Bögen empor. Unnahbar, technisch, unmenschlich, mächtig. Ich habe in einem Artikel, Liebe 1930, der dann in mein erstes Buch über O. R. Schatz einging, unter anderem auch die triste Situation der Liebenden dieser Epoche an Hand von Kunst expliziert. Man sehe sich etwa jenes Liebespaar am Kai an, das 1930 geschaffen wurde.Dieses Blatt ist sicher durchdrungen von Traurigkeit, wobei wir dem Paar gerne glauben wollen, dass seine Zukunft vor allem von der ökonomischen Ausweglosigkeit überschattet ist. Und doch scheint die Liebe etwas Tröstliches zu haben. Die Nacht, die die Unterschiede einebnet, das Graue, Schäbige, Hässliche verbirgt, entfaltet ihre romantischen, Seelen wärmenden Momente nur auf der linken Seite. Da sind die unendlich fernen Sterne, da findet sich das andere Ufer angedeutet, dahin sehen die Liebenden, während sie der brutalen Härte des Lichts, das von einem Lichtmast über eine hohe Mauer erbarmungslos und hart herunterfällt, den Rücken zukehren. Rechts ist die Seite, die der Mensch gemacht - vor ihnen ist die Natur, sind der Strom, die Sterne. Der Mann umfasst das Mädchen mit dem linken Arm und drückt es an sich. Nicht mit Leidenschaft, sondern mit Erbarmen, wie wenn er sie schützen wollte vor der Unbill - der Kälte der Nacht, der Härte des Lichtes, das die Trostlosigkeit enthüllt. Er will sie schützen und weiß doch wohl, wie wenig er das kann. So spürt man die Resignation, den geringen Grad der Hoffnung, das Wissen, dass alle Romantik nur unerfüllter Traum sein wird. Der Gegensatz zwischen der Härte und Kälte des Lichtes im Rücken und der Weite der Sternennacht vor den beiden bestimmt zum Großteil die Spannung des Bildes. Das Licht enthüllt leider die Härte der Realität - die Sternennacht ist ein schöner Traum.
Im Blatt "Nach Hause" ist der Zeitbezug wohl nur ähnlich angedeutet wie im eben explizierten. Der Mann, der da geht, kommt vielleicht von der Geliebten oder geht zu ihr nach Hause. An Fabriken oder nur Lagerhäusern vorbei. Die Gehsteige lassen scheinbar alles durch ihre Schräge auf die Straße rollen, und so geht er denn auch schwer und gebückt, krumm, voll Sorgen und seelischen Lasten seines Weges, und seine Beine werfen harte, schwarze Schatten. Die Vorstadt ist voller Einsamkeit, und auch hinter den Fenstern vermutet man kaum jemanden. Er wird noch eine Weile brauchen, bis er - allein gelassen - am Ziele ist. Er hat nichts zu bieten, und ihm wird auch nichts geboten.Ich möchte diesen, immerhin recht explizit mit den Zeitnöten korrespondierenden Arbeiten eine Zeichnung gegenüberstellen, die zwar präzise der Atmosphäre der Zwischenkriegszeit entspricht, jedoch mit ihr keinen unmittelbaren thematischen Zusammenhang aufweist. Es ist dies eine traumhafte Lithographie Oskar Laskes, eines Künstlers, der - Geburtsjahr 1874 - eigentlich der Generation Oskar Kokoschkas und Kubins zuzuzählen ist. Das Blatt hat den Titel: "Friedhof der Namenlosen"
Das Blatt hat den Titel: "Friedhof der Namenlosen" stellt also jenen Ermordeten- und Selbstmörder-Friedhof Wiens dar, der, nahe der Donau gelegen, nichtidentifizierte Tote beherbergt. Die Traurigkeit des Themas fügt sich besonders gut in die Depression der Zwischenkriegszeit, aber das Thema gab es schon vor jener Zeit, und es gibt es auch heute noch. Die Nebelschwaden hüllen die Gräber und ihre Geheimnisse zart und weich ein, rücken sie in unbestimmte Ferne und fordern ehrfurchtsvolles Schweigen. Hier kann man sehen, wie ein einziges Blatt ohne literarischen Bezug mehr über eine ganze Epoche aussagen kann als lange Reihen von Namen und ein ganzer Schwanz von Quellenangaben. Dieses Blatt eines vergleichsweise wenig bekannten Künstlers hält jedem internationalen Vergleich stand.Maler des Klassenkampfes#
Wenn wir nun bei der Traurigkeit, beim Abschied von der alten Größe sind, so wollen wir doch auf etwas zurückkommen und es ins Zentrum rücken, das bisher in Schatz' Blättern, mit Ausnahme des Holzschnittes "Um den Abfall" hintergründig blieb, nämlich das Klassenkampfmotiv. Im "Abfall" erlebten wir sozusagen eine offizielle Spannung zwischen dem Paar im Hintergrund und der sich um den Abfall bückenden Frau. Ähnlich angedeutet, doch weit aggressiver tauchen diese Klassenspannungen bei Franz Probst auf, einem nur um drei Jahre jüngeren Künstler als Schatz.
Auf dem Blatt "Drei auf der Straße" hat der Mann links die Hände demonstrativ in den Hosentaschen. Er hat keine Krawatte, und seine Hände und Unterarme drücken den Rock so weg, dass die Hosenträger sichtbar werden. Er wendet seinen Kopf mit Nachdruck nach links, von dem feinen Herrn in der Mitte weg, seine Proletarierkappe unübersehbar hoch gestülpt. Der Bourgeois in der Mitte hat einen modisch weichen Hut. Sein Sakko ist elegant gestreift, seine Krawatte sitzt, und die einfarbige Hose stammt von einem guten Schneider. Seine Augen zusammengekniffen, den Hut tief in die Stirn gedrückt, verachtet er wohl den Proletarier links und versucht, sich mit allen nur möglichen Gebärden von ihm zu unterscheiden. Im Hintergrund rechts trachtet eine Dame, sich outriert - ein Lieblingswort dieser Zeit -, doch etwas steif vorwärts zu bewegen. Hier nimmt Probst im Klassenkampf kaum Partei. Beide Männer sind ähnlich unsympathisch. Dies sieht erheblich anders auf dem Blatt "Big Boss" aus. Nicht ohne thematischen Einfluss aus den USA finden wir hier oben links den Monokel tragenden Boss auf einem Lehnsessel sitzend, in der linken Hand genüsslich ein Glas (Schnaps?) aufhebend. Hier berührt sich Probst thematisch, bei diesem Kopf auch stilistisch, mit Georges Grosz. Der Kapitalist hockt hier auf seiner Fabrik, aus der, unter ihm, die Arbeiter herausquellen. Der Boss sieht selbstgefällig auch zu einer jener busenfreien Damen, die das Leben reicher Leute, aus ökonomisch-spekulativen Gründen, zu verschönern pflegen. Er hat die Fabrik, und er hat auch schöne Frauen.Hier wird das Klassen-Frauenkampfmotiv stark akzentuiert, das in dem vorhergehenden Blatt nur angedeutet war. Aber es ist keine Frage, dass der Besitz schöner Frauen - als Ehefrauen oder als Kebsweiber oder beides - sicherlich zum Neid der Proletarier beiträgt. Denn nur selten gelingt es einem Proletarier, derartige Damen zu erobern. Deshalb ist ja auch die Vergewaltigung der Herrenfrau oder deren Gewinnung durch die Revolutionsführer oder die höheren Funktionäre eine Siegesdemonstration. Da schöne Frauen, ähnlich wie edle Steine, zu den gesellschaftlichen Raritäten gehören, werden sie kaum jemals den Massen der sogenannten Arbeitnehmer zur Verfügung stehen, sondern höchstens der Arbeiteraristokratie. Das untergründig in der Gesellschaft wirkende Frauenkampfmotiv hat ödipale Wurzeln und vermag, geschickt manipuliert, zu schwersten Aggressionen führen.
Oben in der Mitte: Jener Mann, der sich sorgfältig eine Zigarre oder Zigarette anzündet, ist wohl ein Handlanger des großen Bosses, ein Capo. Er hilft ihm bei der Unterdrückung, schafft vielleicht auch Frauen heran, bei denen er eventuell auch mitnascht. Im Vordergrund liegt einer (oder eine?) in einer Blutlache - hat er (sie?) sich etwa aufgelehnt? Jedenfalls steigt ein anderer, wenig berührt, darüber hinweg.
Ganz offen tobt nun der Klassenkampf auf Probsts Blatt "Straßenschlacht". Es handelt sich hier um ein zeitgeschichtliches Dokument von großer Bedeutung, ist es doch entstanden nach der blutigen Auseinandersetzung im burgenländischen Ort Schattendorf, dem darauffolgenden Prozess, der mit einem Freispruch endete, dem Justizpalastbrand, dem Einschreiten der Polizei.
Ich weiß kein Kunstwerk aus der Zeit der Ersten Republik, das auf diese so entscheidenden Ereignisse der österreichischen Geschichte so intensiv Bezug nimmt. Schatz schuf im Anschluss daran etwas pathetisch aufeinandergeschichtete Särge, auf die eine schwarze Sonne strahlt. Aber hier wird die Kampfatmosphäre in einer Intensität wiedergegeben, die ihresgleichen sucht. Dabei sind die eigentlichen Zentren einerseits jener mit einem Prügel zuschlagende Mann in der Mitte und jener vor ihm auf dem Boden liegende, schwer angeschlagene. Beide beseelt ein ungeheurer, ja dämonischer Hass, der sie bereit sein lässt, den andern "um jeden Preis" zu vernichten, auch um den der eigenen Selbstvernichtung. Und gerade das macht die Dämonie aus, dass der Vernichtungsdrang jede Rationalität verloren hat. Der Stehende ist der Heimatschutzmann, und er hat den Mann unten wohl niedergeschlagen. Die Augen hat er weit aufgerissen, und auch den Mund, in dem Zähne wie Nägel blecken. Sie erinnern an die Zähne von Haifischen. Dabei schlägt er eher langsam, mit Sadismus zu. Der unten Liegende glüht ebenfalls von Hass. Geifer trieft aus seinem Mund, Blut rinnt ihm die Wangen hinunter, zerschlagen ist sein Gesicht, und die Augen hat er hilflos nach oben verdreht. In ohnmächtiger Wut hat er seine rechte Hand zur Faust geballt. Im Moment hat er keine Kraft, er ist ausgelaugt, kann sich nicht bewegen. Doch wehe, wenn er wieder Kraft gewinnen sollte. Dann wäre die Rache bodenlos. Denn aus ihm strömt ein rückhaltloser, wenn auch ohnmächtiger Hass. Ordinäre Qual, erschöpfte Wut, blutig dumpfes Stöhnen, und dann dieses Schielen eines Menschen, der fast erledigt im Dreck liegt, mit einem Blick, der töten würde, wenn er könnte. Dieses versumpfte, verbitterte Gesicht ist von unerhörter, ja grausamer Expressivität. Es ist von intensiverer Ausdruckskraft als das des Schlagenden. Im Unterschied zu dem Blatt "Big Boss" kann man auch hier nicht erkennen, dass Probst auf einer Seite steht. Beide Seiten sind schrecklich, unversöhnlich und blindwütig. Wenn es auch richtig ist, dass damals ein enormer Hass existierte, hat Probst ihn doch dämonisiert. Die Aggressivität ist hier weit größer als bei einem Georges Grosz. Jenem fehlt auch grundsätzlich Probsts metaphysische Dimension.
Apokalypse made in Austria#
Diese zeigt sich besonders in seinen apokalyptischen Blättern, wobei mir sein Blatt "Begegnung" (1926) am eindruckvollsten erscheint. Die beiden Männer sind offenbar feindselig gegeneinander eingestellt. Aber sie gehen einander nicht direkt an. Sie gehen nicht aufeinander zu. Vielmehr sucht jeder von ihnen den andern von der Seite zu fassen. Da dies jedoch beide tun, kommt keiner um den andern herum. So gehen sie im Kreise. Sie misstrauen einander, doch zögern beide, einander anzufallen. Sicher gibt es auch hier klassenkämpferische Elemente, wenn jedoch auch nur andeutungsweise. Der Mann im Hintergrund hat einen Hut auf dem Kopf, einen Anzug an, und er trägt Krawatte. Der im Vordergrund hat eine Kappe auf dem Kopf, und sein Gewand ist eher ein Arbeitsanzug. Insofern kann man hier schon, wenn auch höchst verhalten, Symbole von Bourgeoisie und Proletariat sehen.
Man denkt an die damalige innenpolitische Situation Österreichs - wir nähern uns 1926, der Halbzeit zwischen den beiden Kriegen -, und die "beiden Lager" misstrauen einander intensiv. Sie stellten Kampfverbände auf, und doch hatten sie sich bis dahin noch nicht frontal angefallen. So gesehen, kann man das Bild als ein Symbol der inneren Situation Österreichs sehen.
Doch meine ich, man wird damit diesem Bild nicht hinreichend gerecht, es scheint prinzipieller und universeller gemeint. Denn zunächst meint man, dass es in dieser kahlen Landschaft kaum noch Natur, ja auch keine anderen Menschen mehr gibt. Öde und verlassen, wie ausgestorben umlauern hier sozusagen die beiden letzten Menschen einander. Das ist kein bloß österreichischer Konflikt. Andererseits mag der innerösterreichische Konflikt der Ausgangspunkt für das Erleben gewesen sein, wenn er auch sozusagen auf ein Letztes, Höchstes und Endgültiges hin abstrahiert wurde.
Nun ist der proletarisch-bürgerliche Konflikt, wenn man den Kommunisten ihr Proletariertum abnimmt, tatsächlich jener Großkonflikt, der sich bereits im 19. Jahrhundert abzeichnete. Nach dem Zweiten Weltkrieg führte er bis zum Zerfall des kommunistischen Lagers (Ausschwenken Jugoslawiens und Chinas) und war das internationale Spannungselement. Karl Marx hat in seinem berühmten Kommunistischen Manifest aus dem Jahre 1848 eine merkwürdige Prophezeiung ausgesprochen: Entweder es würde das Proletariat über die Bourgeoisie siegen, oder "beide Klassen" würden "miteinander untergehen". Wenn wir von seiner Naivität absehen, die ihn annehmen ließ, unter der Herrschaft des Proletariats würde es keine Kriege mehr geben, was durch den vietnamesisch-kambodschanischen und chinesisch-vietnamesischen Krieg anschaulich widerlegt wurde, so ist seine These, dass der bürgerlich-proletarische Konflikt zum gemeinsamen Untergang führen könnte, eine hochinteressante Prophetie. Um eine solche Aussage rational-schlüssig decken zu können, hätten ihm ungleich mehr wissenschaftliche Informationen zur Verfügung stehen müssen, als dies damals überhaupt möglich war. Auch 1926 reichten die Informationen hiefür noch nicht. Erst Chruschtschow konnte mit voller wissenschaftlicher Deckung von der Möglichkeit eines gemeinsamen Unterganges sprechen. Tatsächlich kann man sich bei diesem Bild denken, dass beide einander töten könnten. Von der Situation in Österreich in der Zwischenkriegszeit ausgehend, bewegt sich dieses Blatt auf dem Niveau von Karl Marx' Prophetie. Insofern ist dieses Bild ein apokalyptisches.
Gefangenschaft#
Einer anderen Art von Voraussicht entsprang wohl das Blatt "Gefangen" (1923).
Auch hier wird ein prinzipielles Problem angesteuert. Es geht nicht um das spezifisch-individuelle Schicksal eines Gefangenen, sondern es geht um das Gefangensein überhaupt. Ein Gesicht von höchster Bitterkeit. Diese Augen sehen durch den Beschauer sozusagen hindurch. Der Vorwurf wird hier nicht einem Menschen gemacht, sondern dem Schicksal, Gott; mit einer bannenden Kraft, mit erbarmungsloser Energie und doch auch voll unendlicher Trauer. Ein Gesicht, das die Hiobsfragen, ähnlich wie Kafka, im modernen Leben stellt; und den Kern der Theodizee-Problematik berührt, an der sich der menschliche Geist bis heute den Kopf einrennt.Das Problem wurde in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern nur wenige Jahre später hochaktuell. Ohne jede auch nur behauptete individuelle oder kollektive Schuld wurden Millionen hingeschlachtet. Es kann kein Zweifel darüber bestehen, dass diese KZ ihre historischen Wurzeln schon in der Zeit lange vor dem Zweiten Weltkrieg hatten. Ich meine, das Blatt macht dies höchst spürbar.
Technik als Hoffnung #
Es wäre nun ganz falsch anzunehmen, dass es dem Österreicher zwischen den Kriegen ganz an Hoffnung mangelte - auch wenn sie recht gering war. Und die Hektik, die die zwanziger Jahre durchzieht, wird man wohl als eine Art "Tanz auf dem Vulkan" ansehen müssen, eine hysteroide Lebenssteigerung, die über der Verdrängung pessimistischer Ausblicke lagerte. Diese positiven Ausblicke gründeten sich, soweit sie vorhanden waren, in beiden (auch internationalen) Lagern auf dem wissenschaftlich-technischen Fortschritt. Beide Lager hatten ihre vorderste Front keineswegs in Österreich. Sowohl in den USA als auch in der UdSSR erwartete man von fortschreitender Technisierung die Erlösung der Menschheit von ihren Leiden. Und von beiden Seiten her gab es Einflüsse auf dieses Land.
Dies vermag etwa O. R. Schatz' Blatt "1930" aus dem Jahr 1929 zu illustrieren. Es wurde für das Arbeiterjahrbuch 1930 geschaffen und war von Josef Luitpold, dem Herausgeber, in Auftrag gegeben worden. Schatz stellte zwei Entwürfe her, und beide wurden auch ausgeführt, wobei der hier abgebildete auf der Rückseite des Jahrbuchs Verwendung fand. Wir sehen hier eine amerikanische Science-Fiction-Technik, wobei sich Hochhäuser, Bahnen und wohl auch Wohnhäuser aufeinandertürmen. Hier herrscht triumphierend - triumphalistisch nennt man so etwas mehr schlecht als recht in der katholischen Kirche - die sekundäre, vom Menschen geschaffene Welt. Diesen Stolz auf die Technik und die Hoffnung auf die Gestaltung der Zukunft durch die Technik teilten die Vertreter der Arbeiterbewegung - und teilen sie noch immer - mit den Kapitalisten. Denn dieses Blatt hätte ebenso gut ein Jahrbuch der Firma Ford oder General Motors programmatisch schmücken können, oder ein Moskauer Gewerkschaftsblatt, wie es dann tatsächlich einem österreichischen Arbeiterkalender diente. Nun wirkt diese Arbeit nicht umsonst "amerikanisch", erinnert am ehesten an New York. Denn es gab einen ganz erheblichen Einfluss der USA auf Österreich, wobei sich dieser auf den verschiedensten Ebenen abspielte. Er steht aber, mit - der allerdings sehr wesentlichen - Ausnahme des Exports der Jazz-Musik (lange Zeit "Negermusik" genannt), vor allem mit technischen Fortschritten und deren Massenproduktion im Zusammenhang, bedeutet diese ja die Demokratisierung des technischen Forschritts.
Nun waren aber viele technische Produkte, wie etwa der Radioapparat - erst recht etwa das Auto - hierzulande nur vergleichsweise kleinen Menschengruppen zugänglich. Ich erinnere mich noch, dass mein Vater, damals Fabrikarbeiter, mit den Hörern des selbstgebastelten "Detektorapparates" auf dem Kopf im Bett saß und regelmäßig vor Müdigkeit einschlief. An einen "Röhrenapparat" war damals nicht zu denken. Erst die Nationalsozialisten schufen mit ihrem Volks- oder Kleinempfänger einen Wandel, da sie rechtzeitig die unerhörte Bedeutung des Rundfunks als Propagandamittel erkannten. Nicht umsonst stürmten sie 1934 außer dem Regierungssitz - wenn auch nicht so erfolgreich - das Gebäude der RAVAG. Seitdem gehört der Sturm auf Rundfunkstationen zu jedem Putsch. Die USA, als das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, schufen auch eine enorme Filmindustrie und beeinflussten damit das Normensystem, die Verhaltensmuster, die Mode und die Zukunftsträume vieler Länder in hohem Maße. Und die multinationalen Firmen internationalisierten damals schon die Werbung und deren Stil. Eine ganz besondere Sache war auch schon in der Zwischenkriegszeit das Auto. Es fand nicht sofort in die bildende Kunst Eingang, doch in der Zwischenkriegszeit finden wir es schon wiederholt dargestellt.
Betrachten wir Schatz' Holzschnitt "Die Fahrt". Wir finden wir nicht nur bei ihm, sondern auch bei Probst und bei Franz Sedlacek das Auto mit einem ähnlichen Stellenwert. Und können erahnen, dass es sich bei diesem Ding um die künftige heilige Kuh der westlichen, freien Welt handelt. Es ist ja auch zu einem gewissen Grad tatsächlich ein Mittel größerer Freiheit der Bewegung, wobei es sich bei dieser Freiheit zwar um eine sehr wichtige Basisfreiheit handelt, jedoch keineswegs um eine sehr qualifizierte - wie etwa die Meinungsfreiheit. Eine enorm breite Fahrbahn - die sich im Hintergrund allerdings sprunghaft verengt - zieht das Kabriolett geradezu nach vorne. Keine anderen Autos und keine anderen Fahrzeuge behindern das Vorwärtskommen. Man ahnt den Genuss der Beschleunigung. Man sieht auch rechts und hinter dem im Zentrum fahrenden Auto Vorderteile zweier anderer Autos. Das Herrschaftsgefühl - Herr über zwanzig, dreißig oder fünfzig Pferdestärken zu sein - und das damit verbundene Sozialprestige, das hinter sich Lassen der armen Fußgänger, verlieh dem Autofahren, damals wohl mehr als heute, etwas rauschhaft Großartiges. Dazu kommt, dass alle Arten von Verkehrsmitteln tiefenpsychologisch Symbole der Entwicklung darstellen. Der "Weg", schon ein zentrales biblisches Symbol, erlaubt es, vorgegebene Ziele leichter anzustreben, ist er doch geebnet. Das Fortbewegen symbolisiert die Entwicklung - der Strom, der Wind, das Fahrzeug bewegt sich vorwärts. Man kann sich langsam, behäbig oder schnell vorwärtsbewegen, es raketengleich tun, vorsichtig oder überstürzt, und man kann mehr oder weniger an vorgegebene Bahnen gebunden sein, mehr (bei größerer Sicherheit), wie etwa die Schienenfahrzeuge. Die Eisenbahn nennt man im Englischen bezeichnenderweise "railway". Den Traum vom Auto zu realisieren, konnten sich damals nur wenige in Europa leisten. Hier waren die US-Amerikaner "bahn"-brechend, das heißt, sie schufen eine Straße in die Zukunft. Der Traum davon bestand, und Amerika war Vorbild.
Technik als Gefahr#
Wie sehr allerdings die Zwischenkriegszeit bereits die Problematik der Nachkriegszeit in ihren Spitzenvertretern vorwegnahm, zeigt, dass neben dem naiven Technikrausch in der kapitalistisch-sozialistischen Welt bereits eine klare Erkenntnis der Gefahren der Technik bestand. Der Ansatzpunkt findet sich bei Nietzsches Zukunftspessimismus hinsichtlich der Natur, wie er sich etwa in den folgenden Versen äußert:
Die Wüste wächst; weh dem, der Wüsten birgt
Stein knirscht an Stein, die Wüste schlingt und würgt.
Der ungeheure Tod blickt glühend braun
und kaut -, sein Leben ist sein kaun . . .
Wir finden die Idee, dass der Mensch mit seinem Geist und seiner Technik, von der man sich im kapitalistisch-sozialistischen Systemkomplex die große Freiheit erhoffte, innerhalb weniger Jahrzehnte alles Leben auf dem Planeten - mit Ausnahme vielleicht der Bakterien - vernichtet haben wird, etwa bei Ludwig Klages. Ähnliches finden wir bei Theodor Lessing in seinem Buch "Der Untergang der Erde am Geist" abgehandelt.
In der Kunst gibt es, wie Walter Krüger in seinem Werk "Das Gorgonenhaupt" schlüssig zeigte, sehr viele Arbeiten, die sich als Ausblick auf Lebensvernichtung deuten lassen. Aus Österreichs Zwischenkriegszeit haben wir schon Probsts "Begegnung" apokalyptisch gedeutet (Abb. 4).
Wir können dem bereits Gesagten noch einiges hinzufügen. Wir sagten, dass die sich beiden Männer, die sich da gefährlich gegenüberstehen, in einer tödlich-leeren Landschaft befinden, in der es außer ihnen kein Leben mehr gibt. Man hat den Eindruck, als ob es um die beiden letzten Menschen gehe. Allerdings handeln sie nicht so, wie Friedrich Nietzsche es erwartete. Sie müssten dann nämlich sagen: "Wir haben das Glück erfunden" und hiezu blinzeln. Hier ist tatsächlich Wüste um sie herum, ein Friedhof der Namenlosen im weitesten Sinn.
Als Beispiel, dass die menschliche Technik und der hinter ihr stehende Geist verwüstend-gefährlich sind, und gleichzeitig als letztes Beispiel für die Kunst der österreichischen Zwischenkriegszeit, soll uns die "Fabrik" aus der Serie "Industrie" von O. R. Schatz dienen. Diese Fabrik ist mächtig, gewaltig und solcherart auch imponierend. Wie ein Schlachtschiff liegt sie da, und um sie herum ist Wüste. Vielleicht arbeitet sie noch, wie die Fabriken in amerikanischen Science-Fiction-Filmen. Da landet ein Raumschiff, wie "Enterprise", auf einem fernen Planeten. Und die Besatzung findet Maschinen, die noch arbeiten und nicht aufhören zu arbeiten, während jene Wesen, die sie schufen, bereits - wie dies so schön heißt - "ausgestorben" sind. Hier ist auch alles "ausgestorben". Leer scheinen auch die Büros, und auf dem gesamten Terrain wächst kein Baum mehr, ja nicht einmal ein Grashalm. Der Stacheldraht über der Mauer ist absurd. Er mag einmal seinen Sinn gehabt haben, aber nun kommt hier keiner mehr auch nur in seine Nähe. Schatz ist hier bedrückend-deprimierend in seiner Aussage. Im Gegensatz zum Pflichtoptimismus jenes "Lagers", dem er sich zuzählte - wir sprachen schon über seine Science-Fiction-Technik für das Arbeiterjahrbuch, eine eindeutige Auftragsarbeit, die auch nicht die Intensität seiner Fabrik besitzt -, ist er hier tief skeptisch.
Im Gegensatz zur Zwischenkriegszeit wurden in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg die Probleme ungleich konkreter. Der Untergang der Erde durch den menschlichen Geist droht über den apokalyptischen Krieg ebenso wie über die Apokalypse in kleinen Dosen durch ständige Zerstörung unserer Lebensbasis. Österreichs beiden Lagern entspricht der Ost-West-Konflikt. Die Technik ist demokratisiert wie in den USA, und das Auto hat in der Wertschätzung schon seinen Zenit überschritten. Österreich selbst geht es jedoch so gut wie noch nie, und das schon eine ganze Weile.
Gott sei Dank scheint wenigstens vorläufig der Hass überwunden, wie ihn Probsts Straßenschlacht reflektiert. Leider - es tut mir leid, das sagen zu müssen - muss man Hitlers dialektischen Beitrag zu dessen Überwindung sehr hoch veranschlagen. Aber ich möchte hier keine Vergleiche zwischen der Zwischen- und Nachkriegszeit anstellen. Das wäre eine Arbeit für sich. Was ich mir vorgenommen habe, war nicht ein Aufzählen der Künstler der Zwischenkriegszeit oder gar ihrer Werke, vielmehr wollte ich die Kunstwerke als Sonden benützen, um in den Geist einer Periode einzudringen, in der wir wurzeln, viel mehr wurzeln, als wir bisher zugeben wollten. Diese war, wie selten zuvor, schöpferisch, und vieles in ihr verstehen wir gerade heute so gut, weil aus den Keimen von damals beachtliche, oft ganz große Gewächse wurden. Es wird nie vollständig gelingen, uns in historisch vergangene Situationen hineinzuversetzen. Aber gelingt es in einem gewissen Grad, ist dies schon wertvoll. Die Kunst der entsprechenden Periode kann hiezu sehr nützlich sein, wie ich meine, gezeigt zu haben.
Abbildungen#
Oskar Laske (1874-1951)
Abb. 1: Friedhof der Namenlosen, Lithographie, 1928 (?), 23 x 26 cm
Franz Probst (geb. 1903, lebt in Wien)
Abb. 2: Gefangen, Schwarzweiß-Aquarell, 1923 (?), 20 x 21,5 cm
Abb. 3: Big Boss, Seh warzweiß-Aquarell, 1926, 27 x 18 cm
Abb. 4: Begegnung, Seh warzweiß-Aquarell, 1926, 24 x 18 cm
Abb. 5: Straßenschlacht (nach Schattendorf). Seh warzweiß-Aquarell, 1927, 28,5 x 21 cm
Abb. 6: Drei auf der Straße, Schwarzweiß-Aquarell, 1928, 27 x 19 cm
Otto Rudolf Schatz (1900-1961)
Abb. 7: Fabrik, Holzschnitt, 1927, 28 x 35 cm
Abb. 8: Das Jahr 1930, Holzschnitt, 1929, 27,5 x 22 cm
Abb. 9: Allein, Holzschnitt, 1929, 27,5 x 22 cm
Abb. 10: Um den Abfall, Holzschnitt, 1929, 11 x 9,5 cm
Abb. 11: Die Fahrt, Holzschnitt, 1930, 11 x 10 cm
Abb. 12: Am Ende?, Holzschnitt, 1930, 11 x 10,5 cm
Abb. 13: Liebespaar am Kai, Holzschnitt, 1930, 10,5 x 10 cm
Abb. 14: Nach Hause, Holzschnitt, 1930, 11 x 10,5 cm
Literatur#
- Wilfried Daim: Zu Österreichs bildender Kunst zwischen 1918 und 1938, in: Katalog zur Ausstellung "Zwischenkriegszeit. Österreich 1918-1938", Schloß Pottenbrunn, St. Polten 1976
- Ders.: Otto Rudolf Schatz, Roetzer Verlag, Eisenstadt 1978 Ders.: Franz Probst, Roetzer Verlag, Eisenstadt 1979
- Ders.: Otto Rudolf Schatz: Kriegsbriefe, Roetzer Verlag, Eisenstadt 1980 Walter Krüger: Das Gorgonenhaupt, Berlin 1972
WILFRIED DAIM, Prof. Dr. phil., geboren 1923 in Wien. Tiefenpsychologe. Ab 1939 in der österreichischen Widerstandsbewegung.
1942 zur deutschen Wehrmacht eingezogen, mehrmals schwer verwundet. Nach dem Krieg Studium der Psychologie und Anthropologie. Lehranalyse bei Igor A. Caruso. Rund zwanzig Buchveröffentlichungen, u. a.: Umwertung der Psychoanalyse (1951), Tiefenpsychologie und Erlösung (1954), Der Mann, der Hitler die Ideen gab (1958), Totaler Untergang (1959), Die kastenlose Gesellschaft (1960), Otto Rudolf Schatz (1978), Franz Probst (1979), Otto Rudolf Schatz: Kriegsbriefe Veröffentlichung mit ausdrücklicher Genehmigung des Autors vom 22.3.2008.
Enthalten in: "Das geistige Leben Wiens in der Zwischenkriegszeit, Österreichischer Bundesverlag, Wien, 1981