Darwins Ahnen#
Schon vor 1000 Jahren hatten östliche Denker Theorien zum Überlebenskampf der Arten.#
Von der Wiener Zeitung (Dienstag, 25. Juli 2017) freundlicherweise zur Verfügung gestellt.
Von
Fabian Köhler
Als der Naturwissenschafter und Philosoph Hasan Tahsini Mitte des 19. Jahrhunderts nach Istanbul zurückkehrte, war er überzeugt: "Alle Arten verändern sich und unterliegen einer dauernden Evolution." Der osmanische Groswesir Reşit Paşa höchstpersönlich hatte Tahsini zuvor als jungen Student nach Europa geschickt, von wo er nun die Lehren Darwins in seine Heimat brachte. Tahsinis Wissbegierde zahlte sich aus: Als Hoca Tahsin Efendi (so war sein türkischer Name) wurde er im Jahr 1869 zum Direktor von Istanbuls erster Universität ernannt - und bald darauf war auch dank ihm die Evolutionstheorie Darwins nicht mehr aus den türkischen Lehrplänen wegzudenken. Bis jetzt.
Kürzlich kündigte das türkische Bildungsministerium in Ankara an, die Lehre von der Entstehung des Lebens via Mutation und Selektion aus dem schulischen Unterricht zu streichen. Es handle sich um eine "archaische Theorie", die kaum belegt sei, hatte schon Anfang dieses Jahres der türkische Vizepräsident Numan Kurtulmuş betont. Ein Vertreter des türkischen Bildungsministeriums kündigte nun an, ab dem Jahr 2019 den "eurozentrischen Unterricht" durch die Lehren muslimischer und türkischer Wissenschafter zu ersetzen.
Dies kann allerdings nur bedeuten, dass die Mächtigen in Ankara in der Schule selbst nicht so gut aufgepasst haben. Sonst wüssten sie, dass islamische Gelehrte über Jahrhunderte zu Erkenntnissen kamen, die den Lehren Darwins nicht unähnlich sind.
Prinzip der natürlichen Selektion#
Bereits im 9. Jahrhundert, also 1000 Jahre vor Charles Darwin, erstellte der arabisch-afrikanische Lyriker und Lexikograph Al-Jahiz eine siebenbändige Enzyklopädie über 350 verschiedene Tierarten. In seinem "Kitab al-Hayawan" (Buch der Tiere) beschrieb er nicht nur eine Systematik tierischer Nahrungsketten, sondern er entwickelte auch eine Theorie des animalischen Überlebenskampfes, die an Darwins Lehre von der natürlichen Selektion erinnert: "Tiere befinden sich in einem Kampf um die Existenz; um Ressourcen, um zu vermeiden, gefressen zu werden, um Fortpflanzung. Umwelteinflüsse beeinflussen den Organismus, sodass neue Eigenschaften entwickelt werden, die das Überleben sichern, mit dem Ergebnis, dass neue Arten entstehen."
Nur wenige Jahrzehnte später kam ein Religionslehrer in Zentralasien zu ähnlichen Ergebnissen. Muhammad al-Nakhshabi beschrieb, wie sich das Leben seiner Vorstellung nach kontinuierlich fortentwickle: "Während der Mensch von empfindsamen Kreaturen abstammt, stammen diese von pflanzlichen Wesen ab und diese wiederum von kombinierten Stoffen und diese von elementaren Eigenschaften und diese von himmlischen Wesen."
Verwandtschaft zwischen Mensch und Affe#
Solche Gedanken mögen aus heutiger Sicht banal klingen, aber zur Erinnerung: Im christlichen Europa war man zu jener Zeit der Überzeugung, die Anzahl der Arten auf der Welt sei lediglich durch die vollendete göttliche Schöpfung und den Platz auf Noahs Arche determiniert. Unterdessen stellte im 13. Jahrhundert ein persischer Philosoph eine These auf, mit der sich selbst heutige Kreationisten - gleich, ob christlich oder muslimisch - noch immer nicht anfreunden können: die Verwandtschaft zwischen Mensch und Affen. In seinem Werk "Akhlaq-i Nasiri" (Arbeit über die Ethik) ergründet Nasir al-Din al-Tusi die moralische, wirtschaftliche und politische Dimension des Menschen. Seiner Überzeugung nach führt eine kontinuierliche Entwicklung von den kleinsten Bausteinen der Welt bis hin zur spirituellen Perfektion.
Einen Teil dieser Entwicklung beschreibt er folgendermaßen: "Solche Menschen (gemeint sind Menschenaffen, Anm.) leben im westlichen Sudan und anderen entfernen Ecken der Welt. Sie sind in ihrem Gewohnheiten, Handlungen und Verhalten den Tieren ähnlich. (...) Der Mensch hat Eigenschaften, die ihnen von anderen Kreaturen unterscheiden, aber er hat andere Eigenschaften, die ihn mit der Tierwelt, dem Reich der Pflanzen oder gar mit unbelebten Körpern vereinen. (...) All diese Fakten belegen, dass das menschliche Wesen auf die mittlere Stufe der evolutionären Treppe gesetzt wurde. Seiner ihm innewohnenden Natur zufolge, ist der Mensch verbunden mit niederen Wesen und nur mit der Hilfe seines Willens kann er eine höhere Entwicklungsstufe erreichen."
Von der Dattelpalme über die Schnecke bis zum Menschen#
Wiederum 100 Jahre später erblickte ein Mann die Welt, der bis heute als Superstar islamischer Gelehrsamkeit gilt: Ibn Khaldun. Der nordafrikanische Philosoph wird als Erfinder der Soziologie, der Politikwissenschaft oder Geschichtswissenschaft bezeichnet und fehlt mutmaßlich auch auf keinem türkischen Lehrplan. Auch er war überzeugt, dass sich der Mensch "aus der Welt der Affen" entwickelt habe. In seinem 1377 fertiggestellten Hauptwerk "Muqaddimah" (Einleitung) ordnet er die menschliche Existenz in eine kontinuierliche Entwicklung des Lebens ein: "Sodann sieh Dir die Schöpfung an. Wie es beginnt bei den Mineralien und wie es übergeht zu den Pflanzen und dann in schönster Weise und stufenweise zu den Tieren. (...) Dattelpalme und Weinrebe, welche das Ende der Pflanzenwelt markieren, sind verbunden mit Schnecken und Schaltieren auf der ersten Stufe der Tierwelt, die nur den Tastsinn haben. (...) So breitete sich die Tierwelt aus, die Zahl der Tierarten nahm zu, und der stufenweise Prozess der Schöpfung führte schließlich zum Menschen, der zu denken und zu reflektieren vermag."
"Mohammedanische Theorie der Evolution"#
Auch in Europa blieben die islamischen Theorien über die Entstehung des Lebens nicht unbekannt. 1874 schrieb der britische Naturwissenschafter John William Draper in seinem Werk "History of the Conflict Between Religion and Science" von einer "Mohammedanischen Theorie der Evolution", nach der sich "der Mensch von niederen Formen (...) zu seinem heutigen Zustand im langen Zeitverlauf" entwickelt habe. Gemeint hatte Draper wahrscheinlich die Lehre Ibn Khalduns. 15 Jahre zuvor hatte Charles Darwin sein "On the Origin of Species" veröffentlicht, das gemeinsam mit den Regeln Gregor Mendels bis heute unsere Vorstellung von der Entwicklung des Lebens prägt.
Es wäre irreführend, die empirisch akribische Arbeit dieser beiden Naturwissenschafter mit den philosophischen "Evolutionstheorien" islamischer Denker gleichzusetzen. Auch die Vorstellung von einer geradlinigen Entwicklung des Lebens hat wenig mit Darwins weit verzweigtem Baum des Lebens gemein. Doch auch wenn nichts darüber bekannt ist, dass Darwin direkt von islamischen Denkern beeinflusst wurde: Es waren islamische "Aufklärer" wie Ibn Khaldun und viele andere, die Europa aus seiner religiös-mittelalterlichen Lethargie hinein in die wissenschaftsfreundliche Neuzeit verhalfen.
Ob in Philosophie, Medizin, Mathematik oder eben auch Biologie: Europäische Denker bedienten sich ausgiebig am Wissensschatz der mittelalterlichen islamischen Welt, die wiederum vom antiken Erbe Europas profitierte. Vor 150 Jahren haben türkische Politiker die Bedeutung dieses gemeinsamen wissenschaftlichen Erbes zum Glück erkannt. Ihren Amtskollegen von heute wäre das auch zu wünschen.