Agitator und Familienvater#
Leo Trotzki lebte von 1907 bis 1914 in Wien. Er machte von hier aus sozialistische Politik, genoss aber auch die kulturelle Vielfalt der Stadt und das Zusammenleben mit Frau und Kindern.#
Von der Wiener Zeitung (Samstag, 11. Oktober 2014) freundlicherweise zur Verfügung gestellt.
Von
Brigitte Biwald
Bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges ist Leo Trotzki in Wien. Am 2. August 1914, dem ersten Kriegstag, bummelt er durch die Innenstadt und trifft am Ring auf eine Menschenmenge, die "nieder mit Serbien" brüllt. Am 3. August lädt Victor Adler, Vorsitzender der österreichischen Sozialdemokraten, Trotzki zu einer Audienz beim Leiter des kaiserlichen Sicherheitsdienstes ein. Angesichts des soeben erklärten Krieges fürchtet man staatliche Handlungen gegen die russischen Exilanten und warnt daher Trotzki. Noch am selben Tag reist er mit seiner Familie in die Schweiz ab. Einen Tag später beginnt bereits eine Verhaftungswelle von russischen Emigranten. Damit endet Trotzkis Aufenthalt in Wien. Er bleibt mit Frau und Kindern ungefähr zwei Monate in Zürich; dann fährt er allein als Kriegsberichterstatter der Zeitschrift "Kiewskaja Mysl" ("Kiewer Gedanke") nach Paris. Die Familie folgt ihm im Mai 1915 nach.
Im Sommer 1902 hat Trotzki Wien zum ersten Mal besucht, als er, 22-jährig, auf der Flucht aus der sibirischen Verbannung auf dem Weg nach Zürich einen Zwischenstopp beim Chefredakteur der "Arbeiter-Zeitung" einlegte und um Unterstützung bat.
Arrogant und klug#
Trotzki, von Zeitgenossen einerseits als arrogant und überheblich bezeichnet, beeindruckt andererseits durch sein Aussehen, seine Rhetorik und seinen packenden Schreibstil. Das ist der Mix, mit dem er Erfolg hat, und zwar nicht nur als Redakteur, sondern auch bei Frauen. Er findet in der gebildeten Natalja eine verständnisvolle Gattin. Sie ist Trotzkis zweite Ehefrau: Als ihm 1902 die Flucht aus dem Zarenreich und die Ausreise nach Westeuropa gelingt, lässt er seine junge Frau, Alexandra Sokolowskaja mit den beiden kleinen Töchtern Sinaida und Nina im Stich. Für die Unterhaltszahlungen muss sein Vater, ein Gegner dieser überstürzten Ehe, aufkommen.
1903 begegnet der Dreiundzwanzigjährige dann der drei Jahre jüngeren Russin Natalja Sedowa. Sie studiert Kunstgeschichte an der Sorbonne und führt ihren Freund in die Welt der Kunst und Literatur ein. Auch ihre politische Vergangenheit imponiert Trotzki: Aus einem vornehmen christlichen Mädchenpensionat in Charkow wurde sie entlassen, weil sie versuchte, ihre Mitschülerinnen vom Beten abzuhalten. Und von der Moskauer Universität hatte man Natalja suspendiert, da sie bei einer illegalen Aktion zur Verbreitung revolutionärer Schriften erwischt worden war.
1905 riskiert Trotzki die illegale Einreise nach St. Petersburg. Aufgrund seiner Aktivitäten wird er verurteilt und in die Verbannung nach Sibirien geschickt. Quer durch die winterliche Tundra und via Finnland gelingt ihm mit Helfern die Flucht. In der Zwischenzeit hat Natalja einen Sohn geboren. Das Paar findet in Berlin wieder zusammen, wäre gerne dort geblieben, doch die preußischen Behörden verweigern die Aufenthaltserlaubnis. Somit fällt die Entscheidung für Wien.
Familie und Politik#
Im Oktober 1907 ist es so weit und Trotzki bezieht mit Frau und Kind in Wien-Hütteldorf ein Sommerhäuschen in der Hüttelberg-straße 55. Dort fühlt er sich mit seiner Familie sehr wohl, ein zweiter Sohn wird am 20. März 1908 geboren. Doch der Hausbesitzer hebt den Mietzins auf das Doppelte an und so muss sich die vierköpfige Familie nach einem billigeren Quartier umsehen.
Trotzkis finden es in der Sieveringer Straße Nr. 19, wo es damals günstige Arbeiterwohnungen gab. Doch die Adressen wechseln weiter: Einmal ist es der große Mietzinsrückstand, der zur Delogierung der notorisch geldknappen Trotzkis führt, ein anderes Mal ihr unkonventioneller Lebensstil. Dass zu später Stunde Telegramme zugestellt und Besucher empfangen werden, verärgert die Nachbarn. Aufsehen erregt auch ihr Äußeres: Im Gegensatz zur herrschenden Mode trägt er das Haar lang, sie kurz.
Die Adresse, an der die Trotzkis am längsten verweilen, ist das Eckhaus im 19. Bezirk, Weinberggasse/Rodlergasse 25/2. Unter seinem Pseudonym Antid Oto ("Gegengift") verfasst Trotzki Beiträge für eine Reihe liberaler Zeitungen. Vor dem Sozialdemokratischen Verein der russischen Kolonie Wiens hält er Vorträge.
Natalja hingegen widmet die Tageszeit den Kindern und liest in der Nacht. Die kleine Wohnung ist nur dürftig möbliert, dafür leben die Trotzkis inmitten unzähliger Bücher. Gemeinsam besuchen sie regelmäßig die großen Wiener Kunstsammlungen. Trotzki geht aber auch mit seinen Söhnen zum Fußball- und Handballspielen in den Park. Weihnachten wird mit einem Tannenbaum gefeiert. Beide Söhne besuchen eine nahe gelegene christliche Schule und fühlen sich dort wohl.
Zuhause wird russisch und deutsch gesprochen, die beiden Buben eignen sich den Wiener Dialekt an. Aufgebessert wird das Haushaltsgeld ab und zu von Trotzkis Eltern, den Großgrundbesitzern aus Südrussland am Schwarzen Meer. 1907 kommen sie nach Wien. Sie haben die fünfjährige Sina Bronstein bei sich, Trotzkis Tochter aus erster Ehe mit Alexandra. Die Fünfjährige sieht ihrem Vater ähnlich und zeigt "glühende Zuneigung".
Trotzki ist mit diesen Besuchen überfordert, die er als "Wasserfall von Verwandten" bezeichnet. Das zeigt sich besonders im Jahr 1912: Trotzki hat Zahnprobleme und lässt sich von einem der besten Wiener Zahnärzte behandeln. Dieser lässt eine abgebrochene Bohrerspitze im Kieferknochen stecken und versichert, dies sei kein Grund zur Beunruhigung. Daraufhin sucht Trotzki misstrauisch einen Chirurgen auf, der den Fremdkörper entfernt. Kaum ist sein Mund verarztet, trifft seine Schwester Jelisaweta mit ihrem Sohn Alexander zu einem 14-tägigen Besuch ein. Dann kreuzt Trotzkis Vater erneut mit der nun elfjährigen Sina auf und bleibt den ganzen Sommer über in Wien. Trotzki fühlt sich in seinem Arbeitsablauf gestört. Er leidet unter Stress und Magenbeschwerden. Schließlich bringt ihn sein Vater David zu einem Arzt, der einen Kuraufenthalt empfiehlt. Diesen kann sich Leo nicht leisten und so entspannt er sich in den Museen, in Kaffeehäusern und vor allem in Donaubad Kritzendorf, damals auch "Kritz-les-Bains" genannt.
In Wien lebt seit 1908 Adolf Joffe, Facharzt für Psychiatrie, der sich für die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands engagiert und die Trotzkis mit Alfred Adler zusammenbringt. Bei seinen regelmäßigen Besuchen im Café Central trifft Trotzki auch auf Peter Altenberg, Hugo von Hofmannsthal und Karl Kraus.
Marxistische Philister#
Er frischt seine Bekanntschaft mit führenden Austromarxisten wie Victor Adler und dessen Sohn Friedrich auf. Rudolf Hilferding macht Trotzki mit Otto Bauer und Karl Renner bekannt. Groß ist seine Enttäuschung, als er sich darüber im Klaren wird, wie fremd ihm diese Männer bleiben: "Revolutionäre treten anders auf, nicht wie selbstzufriedene Philister, engstirnige Bürokraten" klagt er. Trotzki tritt zwar der österreichischen Sozialdemokratie bei und schreibt für die "Arbeiter-Zeitung" Artikel, aber sein eigentliches Interesse gilt der Politik des Nachbarstaates Deutschland.
Was Trotzki in seinen sieben Wiener Jahren an dieser Stadt fasziniert, ist das Kulturleben, die Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse und die Vielfalt der ethnischen Gruppen.
Dabei vergleicht er die österreichisch-ungarische Monarchie und das Deutsche Reich mit der negativen historischen Entwicklung Russlands, wo sich keine Mittelschicht, kein Bürgertum entwickeln konnte und die rückständige Landbevölkerung "bewusst verdummt worden sei". Doch die Beschäftigung mit diesem Thema kann Trotzki von anderen dringenden Fragen nicht ablenken: Von Wien aus erinnert er seine Briefpartner in der Schweiz und in Frankreich immer wieder an die Notwendigkeit, die vollständige Einheit der Partei herzustellen.
1912: die Konferenz#
Als Befürworter der organisatorischen Einheit hat Trotzki seit langem auf eine Versammlung der russischen Sozialisten in Wien gedrungen. 1912 übernimmt er die praktischen Vorbereitungen für die Konferenz. Über einen Monat lang organisiert er Unterkünfte für die Delegierten. Es ist eine bunte Schar, die sich im August versammelt. Die Leninschen Bolschewiki sind die einzige nennenswerte Fraktion, die fehlt.
Aber schon vor dem Ende der Beratungen reisen einzelne Delegierte ab. Nationale Divergenzen beeinträchtigen ein koordiniertes Vorgehen. Immerhin beschließt die Konferenz Resolutionen zu mehreren allgemeinpolitischen Themen. Einhellig wird die Idee der österreichischen Marxisten übernommen, dass die "national-kulturelle Autonomie" die Lösung für die Probleme der Regierung eines großen Vielvölkerstaates sei. Das ist das Gegenteil dessen, wonach die Bolschewiki streben, die nach dem Sturz der Monarchie einen multinationalen Einheitsstaat beibehalten wollen.
Diese Konferenz, als "Augustblock" bezeichnet, erreicht somit nur wenig, die Spannungen bleiben bestehen. Bolschewiki und Menschewiki streiten sich lautstark um die Agrarfrage, die nationale Frage, oder debattieren über die Natur des Imperialismus.
Trost und Ablenkung findet Trotzki in seiner Arbeit als Publizist. Alle sind überrascht, als er im September 1912 als Sonderkorrespondent der Zeitung "Kiewskaja Mysl" den Balkan besucht, wo gerade der erste Balkankrieg ausbricht. Von einigen größeren Städten des Balkans schickt Trotzki Depeschen, spricht mit führenden Persönlichkeiten, ortsansässigen Journalisten und Soldaten.
Im Jänner 1913 kehrt Leo Trotzki nach Wien zurück und trifft seinen späteren Erzfeind Josef Stalin in der Schönbrunnerstraße 255.
Trotzki genießt in Wien das häusliche Glück mit Natalja und den Kindern. Abrupt hat es am 2. August 1914 damit ein Ende. "Alle Serben müssen sterben!" plärren die Jugendlichen. Sergej, der jüngere Sohn, schon mit sechs Jahren ein kleiner Rebell, verkündet auf dem Sieveringer Spielplatz lauthals die Gegenparole "Hoch Serbien!" und wird daraufhin verprügelt.
Die letzte Wohnstätte Trotzkis, das Haus in Sievering, ist noch erhalten. Eine Tafel mit dem Hinweis auf seinen Aufenthalt in Wien fehlt bis heute. (Die Straßentafel "In der Krim" darf zu keinen Fehlschlüssen verleiten: Es ist bloß die verballhornte Erinnerung an einen legendären Gastwirt namens Grimm.)
Am Zinshaus in der Schönbrunner Schlossstraße, in dem Stalin einige Wochen des Jahres 1913 verbrachte, befindet sich übrigens eine Gedenktafel, die sogar unter dem Schutz des Staatsvertrags 1955 steht.
Brigitte Biwald, geboren 1951, lebt als Historikerin in Perchtoldsdorf. Veröffentlichungen über die Revolution von 1848 und das Sanitätswesen im Krieg.
Literaturhinweis:#
Joel Carmichael: Trotzki. Ullstein, Frankfurt/ Berlin 1973.Dietmar Grieser: Eine Liebe in Wien. Residenz, St. Pölten, 2003.
Robert Service: Trotzki. Eine Biografie. Suhrkamp, Berlin 2012.