Der Nationalstaat ist noch nicht am Ende#
Erkenntnisse aus der Corona-Krise.#
Von der Wiener Zeitung (1. Juli 2020) freundlicherweise zur Verfügung gestellt
Von
Max Haller
Es steht außer Zweifel, die Corona-Pandemie war die stärkste und folgenreichste Krise seit dem Zweiten Weltkrieg. Es ist daher wichtig, sich zu überlegen, welche Lehren man daraus ziehen sollte. Der derzeit auch in Wien lebende bulgarische Politologe Ivan Krastev hat ein Buch dazu geschrieben und wurde in der "Wiener Zeitung" interviewt. Dreimal als "einer der führenden intellektuellen Europas" angekündigt, muss man seine Thesen dennoch kritisch hinterfragen. Drei Fragen sind zu diskutieren: die welthistorische Bedeutung der Corona-Krise, die Bedeutung der Nationalstaaten und nationaler Wirtschaftspolitik sowie die Rolle der EU.
Der Vergleich mit der Spanischen Grippe#
Zur ersten Frage: Man sollte bei den Fakten bleiben. Diese Krise war tiefgehend und folgenreich, nicht nur wegen der halben Million Toten weltweit, sondern auch wegen des wirtschaftlichen Einbruchs, der allein in Europa Millionen in Arbeitslosigkeit stürzte und wohl zum Untergang vieler Firmen (vor allem kleinerer) führt. Die Pandemie um einer plakativen Aussage willen mit der Spanischen Grippe zu vergleichen, ist jedoch fehl am Platz. Krastev behauptet, Letztere habe vier- oder fünfmal mehr Menschen das Leben gekostet als der Erste Weltkrieg. In diesem starben rund 20 Millionen Menschen (diese Zahl ist ziemlich sicher), bei der Spanischen Grippe reichen die Schätzungen von 20 bis 50 Millionen - das sind nicht vier- bis fünfmal so viele wie im Ersten Weltkrieg, jedoch ein Vielfaches der Covid-19- Pandemie.
Krastev meint auch, die Spanische Grippe habe den Lauf der Geschichte stärker verändert als der Erste Weltkrieg. Aber was verursachte den Kollaps der Habsburger-Monarchie, die Machtergreifung von Lenins Bolschewiken in Russland, den Aufstieg faschistischer Führer in den 1920ern und Adolf Hitlers 1933 sowie den Holocaust? Es ist schwer zu sehen, welche Rolle die Spanische Grippe dabei spielte; jene des Ersten Weltkriegs und seiner Folgen (extreme Inflation und Arbeitslosigkeit usw.) bei allen vorgenannten Katastrophen ist evident.
Ungleiche Betroffenheit in der Corona-Krise#
Krastev meint, die Menschen seien in der Krise kosmopolitischer geworden. Das Schließen der Grenzen habe aus allen eine wirklich inklusive Gemeinschaft gemacht, sie hätten sich endlich dafür interessiert, was in anderen Teilen der Welt vor sich gehe. Dazu stellt er wenig später selbst fest, man habe auf allen TV-Kanälen nichts anderes gesehen als weltweite Berichte über Corona. Zur These, dass die Krise alle gleich getroffen und eine inklusive Gemeinschaft geschaffen habe, braucht man eigentlich gar nichts zu sagen. Es ist evident, wie ungleich die Betroffenheit durch die Krise ist (alte, also nicht wohlhabende Menschen in Pflegeheimen, Arbeitnehmer, Familien mit Kindern im Gegensatz zu Beamten und Angestellten mit sicheren Jobs, Pensionisten mit guten Pensionen, Vermögende usw.).
Zur Rolle der Nationalstaaten: Gibt es heute nicht mehr so etwas wie nationale Volkswirtschaften, wie Krastev meint? Er scheint die Lehre aus der wirtschaftspolitischen Wende Donald Trumps nicht gezogen zu haben. Der neue Protektionismus der USA, der für viele völlig überraschend kam, ist welthistorisch gesehen überhaupt nichts Neues. Er war seit Beginn des Aufstiegs des Kapitalismus eine mächtige Kraft, die dessen Expansion kontinuierlich begleitet hat. Der nachholende Aufstieg Deutschlands und Japans im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, jener der südostasiatischen Tigerstaaten nach 1945 und zuletzt Chinas erfolgte auch aufgrund von massiver staatlicher Protektion und Subvention nationaler Industrien.
Kein Staat denkt daran, Souveränität abzugeben#
Für Krastev hat die Corona-Krise das Ende des Nationalstaats eingeläutet (viele andere behaupten dies ja schon länger). Hier wird eine kleinstaatliche oder europazentrierte Sicht auf die Welt übertragen. Die USA, Japan, China, Indien oder Brasilien denken nicht daran, ihre Souveränität aufzugeben; dies gilt selbst für Nicht-Großmächte. Selbst im kleinen Österreich ist der Nationalstaat nicht am Ende. Gerade die Corona-Krise hat die Beliebtheitswerte des Kanzlers in ungeahnte Höhen gebracht. Man muss der Regierung zugestehen, dass sie die Krisenbewältigung bis jetzt gut gemanagt hat. Ähnliches gilt für andere Regierungschefs in Europa, die nicht auf Maßnahmen der EU gewartet, sondern ihr Land strikt abgeschottet haben. Gerade die Corona-Krise hat die Bedeutung der Nationalstaaten, ja sogar der Regionen, neu aufgezeigt. Dort, wo man die Probleme nicht erkannte und keine strikten Maßnahmen traf (wie in der Lombardei oder in Tirol), breitete sich die Pandemie verheerend aus; wo es entsprechende Maßnahmen gab, konnte sie einigermaßen unter Kontrolle gehalten werden.
Muss man von einem Versagen der EU in der Krise sprechen? Meiner Meinung nach nur dann, wenn man ihr Aufgaben zuschreibt, für die sie nicht geschaffen wurde und die sie auch nicht bewältigen kann. Die EU als Rechtsgemeinschaft hat bedeutende Leistungen vorzuweisen, als Möchtegern-Staat hat sie meist versagt (wie in der Agrarpolitik). Es sind auch nicht völlig neue Bruchlinien in der EU sichtbar, wie Krastev behauptet. Jene zwischen Nord und Süd war immer schon zentral und ist es heute wieder. Eine Vergemeinschaftung von Schulden in der EU wird nur von den wenigsten gewünscht. Eine tendenziell neoliberale EU-Politik wird allerdings Probleme verschärfen, für die sie bereits in der Corona-Krise teilweise ursächlich war (etwa der Druck auf die rigiden Sparmaßnahmen im italienischen Gesundheitssystem).
Neue Überlegungen zu Konsum und Klimaschutz#
Die Corona-Krise sollte ohne Zweifel zu neuen Überlegungen im Hinblick auf eine ungehemmte Globalisierung Anlass geben. Hier sind Staaten ebenso in der Pflicht wie wir alle als Konsumenten. Unbegreiflich erscheint etwa, warum die Grünen in der Regierung die Besteuerung des Flugbenzins nicht einmal thematisieren. Der Einwand, dies sei sowieso unrealistisch, sticht wie immer überhaupt nicht; würden sie sich Bündnispartner in anderen Ländern suchen, könnte es schon ganz anders aussehen; die EU insgesamt könnte alle Fluglinien zwingen, auf europäischen Flughäfen immer auch trotz höherer Benzinpreise zu tanken. Aber auch wir alle als Konsumenten sind gefragt. Weniger Importe von Billigstprodukten aus Asien würden viele Waren etwas verteuern; wie man weiß, werden aber unglaubliche Anteile neu gekaufter Produkte (etwa Kleider) heute überhaupt nie verwendet. Und auch das Angebot an Billigsturlaubsflügen in fernste Länder könnte schrumpfen.