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RECHT UND SCHULD unter dem Aspekt der Hoffnung
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Vortrag beim Forum des Laienrates am 25. August 2000 in Neuhofen/Ybbs.

Christoph Mayerhofer I

I. Ausgang#

1. Begriffe

Unter Recht versteht man einerseits das Gesetz (das Strafrecht) und andererseits die Gerechtigkeit (das Recht ist auf meiner Seite). "Recht" ist kein Überbegriff, sondern ein Synonym für Verschiedenes, das wohl miteinander zu tun hat, aber nicht immer zusammenhängt und daraus ergibt sich das Dilemma, das heute Gegenstand meiner Überlegungen sein soll.

Unter Gesetz verstehe ich menschliche Verhaltensregeln mit dem Anspruch auf Befolgung. Ich möchte unter "Gesetz" keineswegs nur das staatliche oder das kirchliche Gesetz verstanden wissen, sondern jede Verhaltensregelung, mag sie nun von einer größeren oder kleineren Gemeinschaft getragen sein, mag es sich um Ordnungsregeln oder Statuten und Geschäftsordnungen handeln, um weidmännische Jagdregeln, mag es sich um aufgezwungene Ordnungsvorstellungen oder solche handeln, denen ich mich freiwillig unterwerfe, mögen die Motive dieser Regelungen in religiösen Anschauungen zu suchen sein oder im bonum comune, in Sitte, Tradition oder in dem Bedürfnis nach gerechter Ordnung menschlichen Zusammenlebens, ja selbst die Regeln der Künste und Wissenschaften sind solche Gesetze, wenn sie menschliches Handeln binden wollen.

Die Sanktion muss nicht in der Hand des Staates liegen, sie kann in der Ächtung durch eine Gemeinschaft ebenso bestehen wie in dem psychologischen Druck jeder solchen Verhaltensregel. Die Nichtbefolgung eines von mir anerkannten Gesetzes erzeugt eine innere Spannung, die Erfüllung hingegen verschafft Befriedigung.

Nach solchen Verhaltensregeln lebt jeder von uns und keiner kommt ohne sie aus, denn es ist ganz unmöglich, jeden Augenblick das eigene Verhalten völlig losgelöst von bereits Erlebtem und Eingeübtem ab ovo neu zu entscheiden. Ist Ihnen nicht schon der Freund begegnet, der, statt sich die schönsten Opernaufführungen auszusuchen, die Auswahl lieber einem Abonnement mit der Begründung überlässt, dass er sonst gar nicht in die Oper käme? Noch weniger vermag eine menschliche Gemeinschaft ohne solche Verhaltensregeln auszukommen. Denn die Interaktion mit anderen Menschen bedarf einer gewissen Berechenbarkeit, um dieses Zusammenleben überhaupt zu ermöglichen. Wir brauchen das Recht zum Schutz der Grundrechte menschlichen Zusammenlebens und der Sicherung und Verteilung der Güter dieser Erde.

Gerechtigkeit ist

  • ein göttliches Prinzip, das mit der Unterscheidung von Gut und Böse zu tun hat, mit allen damit verbundenen Konsequenzen und
  • eine menschliche Erkenntnis und eine menschliche Empfindung, die richtiges und falsches Handeln bewertet. Dem Menschen scheint die Gabe angeboren zu sein, Bruchstücke dieser vorgegebenen göttlichen Gerechtigkeit als richtig zu erkennen und ihre Befolgung als befriedigend zu empfinden.
Das Spannungsfeld zwischen Gesetz und Gerechtigkeit, die Frage ob und inwieweit das Gesetz Garant dieser Gerechtigkeit sein kann, soll das zentrale Anliegen meiner folgenden Überlegungen sein. Die Schuld schließlich ist der gewollte oder leichtfertige Verstoß gegen das als verbindlich erkannte Gesetz und/oder gegen die Gerechtigkeit an sich. Probleme der Schuld vermag ich heute nicht annähernd befriedigend darzustellen. Ich beziehe mich auf die Schuld im folgenden nur insoweit, als dies für die Darstellung des Rechtes unter dem Aspekt der Hoffnung von Bedeutung ist.

2. Situationsanalyse

Jede Hochkultur besitzt ein ausgeprägtes Rechtssystem sowie auch ausgeprägte Regelungen sämtlicher Lebensbereiche bis hin zum Gebiet der Kunst.

Die Juden haben zur Zeit Christi über ein sehr entwickeltes Rechtssystern verfügt, das sie überdies noch mit dem religiösen Anspruch des göttlichen Gesetzes versehen haben, das es zum Großteil nicht war. Das Christentum schafft eine Befreiung vom mosaischen Gesetz - ich erinnere an das 7. Kapitel des Römerbriefes. Im Abendland ist das Christentum Mitträger einer neuen Hochkultur, wieder mit einem ausgeprägten Rechtssystem, wieder mit einem weitgehenden Anspruch, dass dieses zumindest aus dem göttlichen Gesetz ableitbar sei. In der Blüte dieser Kultur wird der Same der Befreiung gelegt - ich erinnere an das religiöse Streitthema "Gesetz und Evangelium", an die Parolen der französischen Revolution - liberté, égalité, fraternité. Ich erinnere an die Auswanderbewegung nach Amerika und den traditionellen Freiheitsbegriff dieses Staates, ich nehme Bezug auf die Philosophie des Individualismus und auf die Ablösung der monarchistischen Staatsformen durch demokratische.

An der Wende zum dritten Jahrtausend erschrickt der Mensch vor der möglichen Perfektionierung menschlicher Verhaltenssteuerung durch die Mittel einer genau vorausberechenbaren Technik (diese Technik dringt in den Sprachgebrauch ein, die zwischenmenschliches Verhalten regelt, z.B. der Kontakt zwischen zwei Menschen, die Technik der Ehe und dgl.). Dieses Erschrecken vor der möglichen Fremdbestimmung, die auch das immer komplizierter werdende Staatsgefüge mit sich bringt, führt zu einer Sehnsucht nach Freiräumen. Es hatten sich bis vor kurzem sogar zwei Weltmächte mit krass unterschiedlichen Gesellschaftssystemen gebildet, gerade unterschiedlich im Hinblick auf die Programmierung menschlichen Verhaltens. Die Pluralität der Auffassungen heute steht in einem Spannungsverhältnis zwischen einer faktisch immer mehr zunehmenden Fremdbestimmung und einem gleichzeitig stets zunehmenden Aufbäumen dagegen. Alle tradierten menschlichen Verhaltensregeln werden in Frage gestellt, bestehende Herrschaftsstrukturen begegnen Mißtrauen bis Ablehnung, nur die sogenannte natürliche Autorität wird anerkannt. Es treten große Spannungen im Erziehungswesen auf, wo es traditionsgemäß und vermutlich auch biologisch bedingte Herrschaftsstrukturen gibt - ich erinnere an die Bewegung um eine antiautoritäre Erziehung, ich erinnere an die Spannungen in der Kirche, die in der Tradierung von Wertvorstellungen, die sehr entscheidend menschliches Handeln beeinflussen, sich zwei Lagern gegenübersieht. Die einen sehen in der Kirche einen Hort der Ordnung, der Sicherung abendländischer Werte, einen Zufluchtsort der Sicherheit, sich auf Gottes Willen berufender Aussagen vor einer Welt, die immer mehr Traditionen in Zweifel zieht. Auf der anderen Seite wird das Evangelium von der Freiheit des Christenmenschen zum Banner eines Aufbruches, und die Betonung von Gewissen und persönlicher Schuld sind ein Steigbügel dafür, überkommene Gebote in Frage zu stellen. Gerade im Bereich von Ehe und Sexualmoral drohen Lehre und geübte Praxis mit dem Anspruch auf sittliche Rechtfertigung immer mehr auseinanderzuklaffen. Kulturpessimismus und Befreiungsideologie machen vor den Gläubigen dieser Kirche nicht halt.

Ist es nicht eine schöne Zeit, sich zu befreien von sinnlosen Fesseln, die Menschheit zu befreien von unnötigem Leid im Namen der Gerechtigkeit und statt dessen sich den eigentlich wesentlichen Aufgaben der Menschheit zuzuwenden. Ist es nicht eine Zeit, die zur Aussaat unseres Glaubens in diesen reichen Humus drängt? Es ist auch eine Zeit, die man versäumen kann. Die Angst des Papstes, Zeit zu verlieren, wird wohl in dem Erfassen der Bedeutung dieser Umbruchszeit ihren Grund haben. Aber es besteht auch die Gefahr, mit der Heiligkeit grundlegender Menschheitswerte leichtfertig umzugehen. Das sei eine Skizze von Hoffnung und Angst unserer Tage.

Ein notwendiger Beitrag zur Bewältigung anstehender Probleme der Kirche in dieser Krise ist es, den Stellenwert des Gesetzes im Verhältnis zur Gerechtigkeit aufzuzeigen. Ich berufe mich dabei auf drei Erkenntnisquellen: die juristische Praxis im Umgang mit dem Gesetz, die Naturwissenschaften als Erkenntnisquelle göttlicher Schöpfungsprinzipien und die Offenbarung Gottes im Evangelium.

II. Erkenntnisquellen über das Verhältnis von Gesetz und Gerechtigkeit
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1. Die juristische Praxis im Umgang mit dem Gesetz (Gesetz und Fallgerechtigkeit)
Lassen Sie mich an dieser Stelle einiges über meine Erfahrungen als Strafrechtler vortragen, der einerseits beruflich mit der Lösung von konkreten Rechtsfällen in Österreich befaßt ist und andererseits in Strafrechtskreisen durch die Herausgabe einer umfangreichen Entscheidungssammlung bekannt ist.

Das Strafgesetzbuch umschreibt in seinem Besonderen Teil menschliches Verhalten, das nach allgemeiner Überzeugung Unrecht darstellt, daher verboten wird, und die Einhaltung dieser Verbote wird durch Strafsanktionen erzwungen. Man kann davon ausgehen, dass alle diese Verbote unbestreitbar verabscheuungswürdiges menschliches Verhalten darstellen und dass eine unleugbare enge Verwandtschaft mit ethischen Wertvorstellungen besteht. Die Anwendung dieser Tatbestände im konkreten Einzelfall zeigt nun, dass die Aburteilung nach diesen Tatbeständen und diesen Strafdrohungen im Einzelfall Gerechtigkeit nicht garantiert. Die Strafrechtslehre und die Judikatur haben eine ganze Fülle von Rechtsinstrumentarien geschaffen, tatbestandsmäßiges Verhalten im Einzelfall nicht strafgerichtlich sanktionieren zu müssen. Es gibt Rechtfertigungsgründe, Schuldausschließungsgründe, Strafausschließungsgründe, Strafaufhebungsgründe, Verfolgungshindernisse, und wenn dieses Instrumentarium nicht ausreichen sollte, dem Einzelfall gerecht zu werden, gibt es immer noch das Gnadenrecht des Bundespräsidenten.

Zur Beschreibung des Unrechtes bedarf es einer näheren Betrachtung der Rechtfertigungsgründe. Es ist auffällig, dass das StGB in seinem Allgemeinen Teil nur einen von diesen regelt, nämlich die Notwehr. Im übrigen ist aus den erläuternden Bemerkungen zur Regierungsvorlage zu entnehmen, dass es nicht möglich ist, sämtliche Rechtfertigungsgründe taxativ zu regeln und dass insbesondere davon abgesehen wurde, den sogenannten übergesetzlichen Notstand, der auf einer allgemeinen Güterabwägung beruht, einer gesetzlichen Regelung zu unterziehen. Vielmehr ist es der Judikatur überlassen, im Einzelfall zu prüfen, ob nicht immer der Schutz eines höherwertigen Interesses die Verletzung eines geringeren rechtfertigt. Es gibt hier sehr umstrittene Entscheidungen, etwa den Fall eines Wiener Dentisten, der nach einem sexuellen Angriff auf sein Kind mit einer Pistole den Täter auf der Straße gestellt hat und mangels eines Waffenscheines wegen verbotenen Führens dieser Waffe in erster Instanz verurteilt, in zweiter jedoch wegen Irrtums über Rechtfertigungsgründe freigesprochen worden ist.

Ich halte hier die Erkenntnis für wesentlich, dass trotz der unbestrittenen Richtigkeit der Tatbestände des StGB der Gesetzgeber weiß, dass es ihm nicht gelingen kann, sämtliche Rechtfertigungsgründe befriedigend zu regeln und dass es auch der Lehre genügt, die Richtung für derartige Überlegungen anzugeben. Es ist auch bezeichnend, dass im Besonderen Teil des StGB 1975 die Zahl der Gründe, die eine Strafbarkeit nach den einzelnen Tatbeständen ausschließen, im Vergleich zu früheren Gesetzen zugenommen hat. Ich denke etwa an die zahlreichen Fälle tätiger Reue die nunmehr anerkannt werden. Und zwar ist darin nicht eine Aufweichungstendenz des Strafrechtes zu erblicken, sondern die Sorge, dass es nicht gelingen möge, mit der Umschreibung des Tatbestandes auch nicht strafwürdige Fälle jeweils aus dem Bereich des Strafbaren auszuschließen. Eine zweite Erfahrung ergibt sich aus der Judikatur des Obersten Gerichtshofes. Im Zuge der Auslegung der einzelnen Tatbestandsmerkmale ist der Oberste Gerichtshof gezwungen, Rechtsbegriffe immer detaillierter zu definieren. Kurz vor der Aufhebung des alten Strafgesetzes aus dem Jahr 1852 hat der OGH noch immer neue Rechtssätze formuliert. Es war also in über 100 Jahren Judikatur nicht möglich, dieses Gesetz sozusagen auszujudizieren, sondern im Gegenteil, die Rechtsprechung ist durch die Vielfalt der in der Lebenswirklichkeit vorkommenden Geschehnisse vor immer neue Rechtsprobleme gestellt. Und jedem Juristen ist es völlig geläufig, dass er bei seiner täglichen Arbeit das Gesetz nicht gleich einem Computer auf den Einzelfall anzuwenden vermag, sondern dass diese Subsumierung mangels Bestimmtheit des Gesetzes oder infolge des ungerechten Ergebnisses immer wieder vor neue Probleme stellt. Von dieser Sorge weiß auch der Gesetzgeber, an den immer neue Forderungen zur Reform des bestehenden Rechtes mit dem Hinweis auf seine Ungerechtigkeit im Einzelfall herangetragen werden. Je weiter eine gesetzliche Bestimmung gefaßt ist, umso weniger wird bestimmt, welche Fälle darunter subsumiert werden können, umso mehr Ermessensspielraum ist dem Rechtsanwender überlassen. Damit ist aber auch eine Rechtsunsicherheit gegeben. Je detaillierter das Gesetz die Materie regelt, umso weniger entspricht dieses Gesetz bei seiner Anwendung im Einzelfall den Bedürfnissen fallgerechter Lösungen. Je enger die Kleider der Justitia geschneidert werden, umso weniger passen sie ihr. Durch die Novellierung eines Gesetzes, um im Einzelfall mehr Gerechtigkeit zu schaffen, werden immer weitere Novellen provoziert. Ich denke da nicht nur an das ASVG.

Diese Erfahrung führt zu grundsätzlichen Überlegungen über die Bindung an das Gesetz überhaupt. Hier spiegelt sich ganz deutlich das Spannungsverhältnis zwischen Gesetz und Gerechtigkeit. Bei Studium des Strafrechtes im Jahr 1954 habe ich an der Wiener Universität gelernt, dass nach den §§ 6 bis 8 ABGB die primäre Auslegungsregel die logisch-grammatikalische sei. Danach folgt die systematische, die historische und schließlich die teleologische. Es ist bezeichnend, dass der Nachfolger meines damaligen Strafrechtlehrers heute die teleologische Auslegung als die primäre Methode der Rechtsfindung anpreist. Ich halte dies für einen ungeheuren Fortschritt, der sich leider nicht allgemein durchgesetzt hat. Bei rechtsvergleichender Betrachtung des Vorgehens der Anklagebehörden findet man ein sehr unterschiedliches Verhältnis des Staatsanwaltes zum Legalitätsprinzip, d.h. zu der Forderung, dass er verpflichtet ist, ihm bekannt gewordene Straftaten auch zu verfolgen. Um Ungerechtigkeiten zu vermeiden, hat der Staatsanwalt gerade in romanischen Ländern, aber auch im angloamerikanischen Bereich, einen mehr oder weniger weitgehenden Ermessensspielraum zur Verfügung. Während wir im kontinental-europäischen Bereich aus den Gesetzen die Gerechtigkeit durch Deduktion ermitteln wollen, ist das angloamerikanische Recht mit seinem case-law einen anderen Weg gegangen und sucht durch Analogie zu vergleichbaren Fällen eine bessere Fallgerechtigkeit zu erreichen. Diese Überlegung scheint mir überaus bedeutsam, wenn auch die Erfahrung in der Praxis im Hinblick auf die Frage, was man als Vergleich beim Einzelfall ansieht, nicht überzeugt. Ich erinnere mich an eine Besichtigung Schweizer Vollzugsanstalten, wo mir der Anstaltsleiter erklärt hätte, in einem Übergangsheim würden entgegen dem Strafvollzugsrecht Männer und Frauen zusammen angehalten und er habe ausgezeichnete Erfahrungen damit gemacht; hinsichtlich einer allfälligen Gesetzesverletzung hat er keine Skrupel.

Schließlich darf ich noch darauf hinweisen, dass das Mißtrauen gegen den Juristen, der die Gerechtigkeit aus den Gesetzen deduzieren soll, sich in der Einführung der Laiengerichtsbarkeit widerspielt, die wir bis heute beibehalten haben. All dies zeigt, dass formulierte Rechtsregeln offenbar nicht restlos Gerechtigkeit zu garantieren vermögen.

Einen allgemeinen Prinzipien sich restlos verschreibenden Menschen bezeichnet man abschätzend als "Prinzipienreiter". Wie faßt es doch Mephisto in seiner Unterweisung des Schülers Wagner so treffend zusammen: "Es erben sich Gesetz und Rechte wie eine ewge Krankheit fort. Die schleppen von Geschlecht sich zu Geschlechte und rücken sacht von Ort zu Ort. Vernunft wird Unsinn, Wohltat Plage, vom Rechte, das mit uns geboren ist, von dem ist, leider! nie die Frage." Ebenso wird der Jurist in den Opern des vergangenen Jahrhunderts regelmäßig verspottet und er wird auch heute nur als notwendiges Übel angesehen, der zumeist charakterlich verknöchert, unbeweglich und weltfremd ist oder es aber als Rechtsanwalt raffiniert und schlau versteht, den Missetäter durch die Maschen des Gesetzes seiner gerechten Bestrafung zu entziehen.

2. Die Naturwissenschaften als Erkenntnisquelle göttlicher Schöpfungsprinzipien

Wir wissen heute, dass die meisten Phänomene der Physik durch Zufall bestimmt sind. Nur mit einem statistischen Wahrscheinlichkeitsurteil lässt sich der Ort eines Teilchens voraussagen. Den Weg der Luftmoleküle in diesem Raum kann nur für eine tausendstel Sekunde vorausgesagt werden. Ich erinnere an die Unschärferelation von Heisenberg, ich erinnere an den Energiesprung des Elektrons. Diese beschränkte Möglichkeit der Vorausberechenbarkeit physikalischer Vorgänge findet ihre Parallele in der Biologie. Ich erinnere an die genetische Spontanmutation, auch hier haben wir eine Unschärfe, nämlich die der Selbstreproduktion eigener Musterharmonien.

Diese wissenschaftliche Erkenntnis zur Vorausberechenbarkeit naturwissenschaftlicher Phänomene deckt sich mit dem Erfahrungswissen des Juristen, der zur Kenntnis nehmen muss, dass die formulierte Vorausberechenbarkeit der Gerechtigkeit in Rechtssätzen im Verhältnis zur Lebenswirklichkeit mit einer nicht zu bewältigenden "Unschärfe" verbunden ist. Und es sei mir auf Grund dieser Analogie die Vermutung gestattet, hier ein Prinzip göttlicher Schöpfung vorzufinden, wonach es erhebliche Freiräume gibt, und zwar nicht nur für den Menschen, sondern auch im Ablauf von Geschehnissen, mit denen wir konfrontiert werden, in die wir involviert sind. Oder ich darf es so ausdrücken: Die Unendlichkeit Gottes spiegelt sich in der Vielfalt alles Erschaffenen und in dem freien Raum für Spontanität und Gestaltung. Und so ist uns Menschen die Möglichkeit geboten und die Aufgabe gestellt, für diesen Freiraum offen zu sein und in ihn schöpferisch einzugreifen.

3. Die Offenbarung Gottes im Evangelium

Unser Thema Gesetz und Gerechtigkeit wird im Evangelium sehr breit abgehandelt. Die Verwendung der Begriffe ist eindeutig: Gesetz ist das mosaische Gesetz und die Gerechtigkeit ist eine göttliche Eigenschaft. Der Gerechte steht im Gegensatz zum Gottlosen. Die Aussage des Evangeliums erscheint eindeutig, wenn auch die Akzentuierung dieses Themas etwa bei Paulus und Matthäus unterschiedlich ist. Paulus hält Lästerreden gegen das Gesetz. "Der Buchstabe tötet" sagt er in Korinther 3, 6 sogar im Hinblick auf die zehn Gebote. Ja, "das Gesetz reizt zur Sünde". "Die Kraft der Sünde ist das Gesetz" (Korinther 15, 6). In der Bergpredigt hingegen heißt es nach Matthäus - und er wird darin von Lukas bekräftigt -, "Wer das geringste meiner Gebote auflöst, wird als der Geringste gelten im Himmelreich". "Ein Mensch wird durch des Gesetzes Werke vor Gott nicht gerecht" (Römer 3, 20ff).

Diese Überwindung des Gegensatzes Gesetz und Gerechtigkeit findet sich am deutlichsten in der Bergpredigt: Ich bin nicht gekommen die Gesetze aufzulösen, sondern sie zu erfüllen (Matthäus 5, 17). Das Gesetz wird nicht aufgehoben, sondern aufgerichtet (Römer 3, 31). Und was dieses Erfüllen bedeutet, stellt Christus sogleich klar, indem er die steinernen Gesetze vom Berge Sinai (wie sie Paulus in Korinther 3, 6ff bezeichnet) erläutert. Nicht nur, wer den anderen tötet, sondern auch wer seinem Bruder im Herzen zürnt, versündigt sich. Also nicht die wörtliche, sondern die teleologische Auslegung des Gesetzes rechtfertigt das Handeln. Jedes Gesetz ist unter dem Blickwinkel des Gottes- und der Nächstenliebe zu interpretieren (s. so Römer 13, 8ff) und die Herzenshärte im Zusammenhang mit der Gesetzesauslegung wird von Christus angeprangert. "Wenn eure Gerechtigkeit nicht besser ist als die der Schriftgelehrten und Pharisäer, werdet ihr in das Himmelreich nicht eingehen (Matthäus 5, 50)." Vielmehr vermag gerade das bloße Festhalten am Gesetz zur Verdammnis zu führen. Siehe das Beispiel von der Schuldknechtschaft (Matthäus 18, 23).

Christus lehnt also das Gesetz nicht schlechthin ab, er unterwirft sich der Beschneidung und der Taufe, aber er handelt entsprechend einer teleologischen Auslegung, indem er Güterabwägungen vornimmt. So heilt er etwa am Sabbat. Und somit reduzieren sich alle Gebote letztlich auf zwei - die Gottes- und die Menschenliebe. "An diesen zwei Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten".

Diese eindeutige Aussage bezieht sich aber, und das erscheint mir als sehr entscheidend zu sein, nicht nur auf die historische Situation der Ablösung des alten Bundes durch das Neue Testament, sie bezieht sich also nicht nur auf das mosaische Gesetz, sondern auf das Gesetz schlechthin. Es ist doch auffällig, dass Christus keine neuen Gesetze hinterlassen hat, sondern Gleichnisse, welche die Richtung anzeigen. Das Liebesgebot hat er in den Mittelpunkt gestellt. Damit ist das Ziel bezeichnet, unter dem die Situationen des Lebens jeweils zu beurteilen sind. Pharisäische Gesetzesauslegung jedoch, eine Auslegung fern vom Liebesgebot, eine Gleichsetzung von Gesetz und Gerechtigkeit, lässt sich auch in der katholischen Kirche nachweisen. Denn es ist eine menschliche Sehnsucht, sich in Sicherheit zu wiegen, während wir auf der Wanderschaft sind. Die Kirche ist vor menschlichen Schwächen nicht gefeit, da wir doch alle zusammen Kirche sind.

Christus verdammt alle die, die unter Berufung auf das Gesetz nicht frei sind für den Anruf Gottes zur Stunde, da er den Menschen in eine Situation der Entscheidung gestellt hat. "Wachet und betet, denn ihr wißt nicht die Stunde". Ich denke da an die törichten Jungfrauen und an die Einladung zum Hochzeitsmahl, der aufgrund verständlicher menschlicher Entscheidungen (Eheschließung, Ochsenkauf) nicht gefolgt wird. Je mehr man sich der Entscheidungsfreiheit durch die Bindung an vorweg getroffene Entscheidungen begibt, umso größer ist die Gefahr, den Anruf Gottes zu verfehlen.

III. Konklusion#

1. Das Gesetz als Instrument im Dienst der Gerechtigkeit

Der Befund aus den verschiedenen Überlegungen lautet:

  • Jede Gesetzmäßigkeit in bezug auf die Seinswirklichkeit, die wir erkennen oder die wir verordnen, unterliegt zwei Einschränkungen:
    • einmal durch die Beschränktheit der Richtigkeit alles Gesetzmäßigen an sich (selbst bei den physikalischen und biologischen Gesetzen scheint sich Gott einen Freiraum vorbehalten zu haben)
    • durch unsere menschliche Beschränktheit, mit der wir Wahrheit und Gerechtigkeit nur bruchstückhaft erkennen und mit unserer Sprache wieder nur unvollkommen auszudrücken vermögen.
  • Das vom menschlichen Geist geschaffene und durch seine menschliche Zunge ausformulierte Gesetz ist daher unvollkommen und wir erfahren, dass die Pluralität der Seinswirklichkeit sich durch das Gesetz im Vorhinein nicht einfangen lässt. Je allgemeiner das Gesetz Verhaltensmuster vorschreibt, umso weniger kann eine sichere Aussage für die gerechte Lösung des Einzelfalles abgeleitet werden. Umso detaillierter es gefaßt wird, umso weniger verbürgt dieses Gesetz eine gerechte Lösung analoger Einzelfälle.
  • Man muss sich daher davor schützen, die Berechenbarkeit von Naturgesetzen im Zeitalter der Technik und des Computers auf ein Gesetzessystem zu übertragen, das menschliches Handeln in Beziehung zur Gerechtigkeit berechenbar machen will. Die Gesetze dürfen mit Gerechtigkeit nicht gleichgesetzt werden. Aus der Erkenntnis göttlichen Schöpfungswillens sind naturrechtliche Gesetze zu erkennen, aber aus ihnen ist durch logische Deduktion Einzelfallgerechtigkeit in Form von Regeln nicht allgemein ableitbar. Dies zu glauben, wäre menschliche Hybris, der die Menschen allerdings auch schon unterlegen sind. Gerechtigkeit durch menschliche Gesetze garantieren zu können und ihnen Absolutheitsanspruch zuzuerkennen, beruht auf einer Fehleinschätzung menschlicher Fähigkeiten im Rahmen der dem Menschen zugewiesenen Rolle in dieser Schöpfung. Das Einhalten von Gesetzen wird durch eine gedachte Ordnung stabilisiert, aber dadurch noch lange nicht Gottes Wille vollzogen.
  • Weder menschliche Gemeinschaften, noch der Einzelmensch vermögen ohne die Krücken des Gesetzes auszukommen. Der Mensch und die Gemeinschaft sind zwar imstande, sich in einer aktuellen Situation vom Gesetz zu lösen und für den Ruf der Stunde frei zu sein, der lange Weg zur Erreichung der Ziele der Menschheit und die Bewältigung des Alltags bedürfen der Stütze auf das Gesetz. Das Gesetz ist kein notwendiges Übel, es ist notwendig, aber kein Übel. Im Gegenteil, es ist ein wesentliches Instrument, um Gerechtigkeit auf dieser Welt durchzusetzen, um den Menschen zu führen, zu leiten und ihm zu helfen, sich an diesem Seil entlangzutasten. Man darf das Gesetz lieben, wie im Alten Testament. Es ist wie der Wanderstab, der eine Stütze für Berg- und Talfahrt bedeutet - aber man darf von ihm nicht mehr erwarten als einen Wanderstab. Man muss auch manchmal Schritte ohne diesen Stab wagen, um das erhoffte Ziel unserer Pilgerschaft zu erlangen. Ein gesetzloser Zustand führt zum Chaos. Die formulierte Norm hat an sich
schon einen moralischen Wert.

Denn ihre Einhaltung bestätigt meine Treue gegenüber meinen Vorsätzen und Zielen, und sie bestätigt die Achtung gegenüber dem gemeinschaftlichen Willen der Sozietät, in die ich geboren bin. Ohne diese Achtung fiele jede Gemeinschaft auseinander. Das Gesetz hat es in sich, dass es auf Geltung und Achtung angelegt ist. Es ist daher auch im Zweifel einzuhalten. Aber es kann die Wahrheit und Gerechtigkeit sehr wohl verfehlen, und zwar generell und im Einzelfall. Nie waren die Menschen grausamer und unmenschlicher, als wenn sie sich auf das Gesetz gestützt haben, sagt Radbruch. Ich erinnere an die Greuel des versuchten Völkermordes an den Juden, die zu einer Renaissance naturrechtlicher Vorstellungen geführt haben. Ich erinnere an den Artikel 7 Abs. 2 der Menschenrechtskonvention, wonach das Rückwirkungsverbot dann nicht gilt, wenn Handlungen begangen werden, die im Zeitpunkt ihrer Setzung nach dem von den zivilisierten Völkern allgemein anerkannten Rechtsgrundsätzen strafbar waren. Ich erinnere an die Deutung der Hexenprozesse durch Arthur Miller, der hier in ihnen ein gesellschaftliches Ventil sah, Böses unter dem Deckmantel göttlichen Auftrages durchführen zu dürfen. Ja, ich erinnere schließlich an den Prozeß Jesu selbst. Ich erinnere ferner an die bekannten Versuche mit elektrischen Stromschlägen, wo Menschen unter Simulation eines wissenschaftlichen Versuches trotz der Schreie der Versuchspersonen immer höhere Stromquanten scheinbar durch den Apparat schickten, ohne sich gegen die Versuchsanordnung zu wehren. Ich erinnere an die Annoncen der Prostituierten in Tageszeitungen, die zu erotischen Spielen einladen. Unter dem Gesetz des Spieles werden Hemmungen gegenüber verwerflich erscheinenden Sexualpraktiken leichter überwunden. Die Berufung auf die Regel ist also auch immer wieder zu einer schrecklichen Gefährdung der Menschheit geworden. So ist das Gesetz die Kraft der Sünde. Wir wissen, dass das Gesetz immer unvollkommen ist und wir müssen auch wissen, dass wir die Gerechtigkeit außer, neben und sogar gegen das Gesetz suchen müssen.

2. Die Konsequenzen

Aus diesem Befund ergeben sich generelle Konsequenzen. Das Gesetz ist ein wesentliches Instrument, um Gerechtigkeit zu verwirklichen, aber es garantiert die Gerechtigkeit im Einzelfall nicht. Das Gesetz mit Gerechtigkeit gleichzusetzen ist falsch und führt zu berechtigtem Mißtrauen und Ablehnung des Gesetzes an sich. Es gilt daher, gesetzliche Inhalte zu retten, indem man dem Gesetz den Anspruch auf absolute Gültigkeit nimmt.

Auf unsere Situation bezogen bedeutet dies: Um der Wahrheit willen und um in Gesetzesform gegossene Aussagen zu retten, die Aspekte eines gerechten und gottgefälligen Lebens wahren wollen, muss die bedingte Gültigkeit aller Gesetze tatsächlich zugestanden werden. Nur dadurch, dass man das wahre Verhältnis zwischen Gesetz und Gerechtigkeit aufzeigt, kann heute das Kulturgut christlich abendländischer Tradition bewahrt und zugleich ein Beitrag zum tieferen Verständnis der hinter dem Gesetz stehenden Anliegen geleistet werden.

Wo liegt die Hoffnung des Christen in einer Zeit der Abkehr von Gesetz, Strukturen, Autorität (das hängt alles zusammen)? Diese Hoffnung liegt in der Erwartung, dass der Geist, der hinter dem Gesetz steht, dem Buchstaben aber Leben einhaucht und Überzeugungskraft verleiht, die Befolgung des Gesetzes nicht als Bürde, sondern als Erfüllung ansehen lässt. Dieser Bewußtseinserweiterung, der ich hier das Wort rede, bedarf es auch und gerade in der Kirche, um mit den heute gestellten Problemen fertig zu werden: um mit der Jugend über Moralgesetze reden zu können, ja überhaupt um ein Wuchern juristischer Regelungen zu bremsen, die das christliche Leben beengen könnten und gleichzeitig auch Bestrebungen abzuwehren, die die Kirche in eine charismatische Bewegung ohne juristische Konturen drängen wollen. Die modernen Instrumente der Regelung und Steuerung sozialen Verhaltens sind so beängstigend perfekt, dass in der Zukunft die Kirche als Ort der Zuflucht zur Bewahrung der Freiheit und Menschenwürde wieder an Bedeutung gewinnen könnte. Fragen wir uns ernstlich, inwieweit Kirche heute gerade deshalb nicht der Ort der Hoffnung der Menschheit ist, weil juristisches Denken den Blick auf die frohe Botschaft der Freiheit des Christenmenschen verstellt. Vielleicht sollte ich nunmehr konkretisieren, in welchem Bereiche die Kirche in Österreich mit dem Verständnis von Gesetz Schwierigkeiten hat. Es sind so viele, ich kann es nicht. Ich traue mich auch nicht. Ich will die Diagnose nicht veröffentlichen, sondern nur einen Ausweg aufzeigen. Ich biete ein Remedium an. Es drohen uns zwei Gefahren. Einerseits sieht ein Strom bewegter Menschen die Kirche als eine charismatische Bewegung ohne die lebensnotwendigen juristischen Konturen, andererseits gibt es Predigten, die glauben machen, die Erfüllung der Gebote garantieren die Rechtfertigung. Nur wenn man das Spannungsverhältnis zwischen Recht und Gerechtigkeit aufzeigt und die Bedeutung des Gesetzes zurechtrückt, besteht Hoffnung auf Überwindung dieser Schwierigkeiten, denen die Kirche heute gegenübersteht.

Das Unbehagen mit dem Gesetz führt heute gern zu dem Ausweg, die Probleme auf die Schuldseite zu verlagern. Gott wird das irrende Gewissen schonen oder brutaler ausgedrückt, es ist zwar so ... punktum!, aber ihr seid elend, schwach und dumm. Gott wird sich eurer erbarmen. Wir brauchen dieses Erbarmen Gottes, denn wir sind wirklich elend. Aber seien wir doch nicht so elend, damit auch noch zu spekulieren.

Ich halte es für falsch zu sagen, Gottes Wille ist so und so, die wahre und gerechte Lösung ist eindeutig und für alle Menschen verbindlich. Unterschiede kann es nur auf der subjektiven Seite, auf der Seite der Schuld und des persönlichen Gewissens geben. Das ist ein pastoraler Ausweg, aber ein schlechter, weil er die Treue und Aufrichtigkeit untergräbt. Denn mir bleibt nur der Ausweg, dem Gesetz zu folgen oder das Gesetz als solches abzulehnen und mich auf das irrende Gewissen der anderen zu berufen, wenn ich Recht behalten will. Überlegen wir doch, welche arge Schäden eine solche Pastoral anrichtet!

Ich halte es hingegen für richtig, nicht die Probleme auf die Gewissensseite abzudrängen, sondern gemäß der Bergpredigt zu lösen:

"Ich bin nicht gekommen die Gesetze aufzulösen, sondern sie zu erfüllen!" Wird diese Erfüllung in teleologischer Auslegung unter dem Liebesgebot sichtbarer, so wird die Kirche zum Ort der Hoffnung der Menschheit.


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