Er konnte nicht anders#
Das Jubiläum von Martin Luthers Thesenanschlag wirft seine Schatten - und viele Bücher - voraus.#
Von der Wiener Zeitung (Samstag, 24. September 2016) freundlicherweise zur Verfügung gestellt.
Von
Heiner Boberski
Wien. Anno Domini 1517, 31. Oktober: Der Augustinermönch Martin Luther leitet mit der Veröffentlichung von 95 Thesen die Reformation ein. Die bevorstehende 500. Wiederkehr dieses Tages, den evangelische Christen alljährlich als Reformationsfest begehen, hinterlässt auf dem Buchmarkt bereits deutliche Spuren. Dass Luther seine massive Kritik am Papsttum und an den kirchlichen Praktiken seiner Zeit wirklich selbst ans Tor der Schlosskirche zu Wittenberg in Sachsen-Anhalt geschlagen hat, wie sein Mitstreiter Philipp Melanchthon überlieferte, gelte "heute wieder als glaubwürdig", meint der Historiker Volker Reinhardt in seinem neuen Buch "Luther, der Ketzer" (C.H. Beck).
Andere Autoren halten den Thesenanschlag für eine Legende, wohl aber legte Luther damals die Thesen einem Brief an Erzbischof Albrecht von Mainz bei. Er habe sie auch sicher, so der Journalist Tillmann Bendikowski in seinem neuen Band "Der deutsche Glaubenskrieg" (C. Bertelsmann), "umgehend als Plakat drucken lassen" und damit "zumindest in einem publizistischen Sinn an die ganz große Glocke" gehängt. Martin Luther kommt am 10. November 1483 in Eisleben als Martin Luder zur Welt. 1505 tritt er in Erfurt in den Orden der Augustiner-Eremiten ein. Seine Eindrücke auf einer Romreise (1510/1511), die er ab 1531 polemisch in seinen "Tischreden" ausgestalten wird, lassen ihn zum scharfen Kritiker des Papsttums werden.
Nur durch Christus#
Um das Jahr 1515 - der Legende nach durch ein Turmerlebnis in seinem Studierzimmer - festigt sich in ihm die Einsicht, dass nicht gute Werke, sondern nur Christus und der Glaube an Gottes Barmherzigkeit den Menschen beim Jüngsten Gericht rechtfertigen können. Scharf geißelt Luther die Ablass-Praktiken seiner Zeit, denen zufolge man sich durch Geldspenden - insbesondere für den Bau des Petersdoms in Rom - von seinen Sünden freikaufen kann. Am ärgsten treibt es dabei in Deutschland der Prediger Johannes Tetzel, dem der Satz "Wenn das Geld im Kasten klingt, die Seele in den Himmel springt" zugeschrieben wird.
Mit seinen Thesen geht Luther auf Konfrontationskurs mit Rom. Dort leitet man Sanktionen gegen den aufmüpfigen Mönch ein, den jedoch sein Landesherr, Kurfürst Friedrich der Weise, unterstützt. 1521 spitzt sich der Konflikt nach etlichen theologischen Disputen zu. Rom bannt Luther mit der Bulle "Decet Romanum Pontificem" als Ketzer. Luther verteidigt sich auf dem Reichstag zu Worms, wobei - zumindest in ähnlicher Form - der legendäre Satz fällt: "Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir, Amen." Der Rest ist Geschichte. Luther zieht sich unter dem Schutz Friedrichs des Weisen auf die Wartburg zurück und beginnt mit der Übersetzung der Bibel ins Deutsche.
Leo X, "der wahre Antichrist"#
Am 1. Dezember 1521 stirbt in Rom der Medici-Papst Leo X., für Luther der "wahre und leibhaftige Antichrist". Dessen aus Utrecht stammender Nachfolger Hadrian VI. (der letzte nichtitalienische Papst bis zu Johannes Paul II. 1978) bemüht sich um Reformen, wird aber von der Kurie nicht unterstützt und stirbt schon im September 1523. Verdächtig ist, dass die Römer dem Arzt, der Hadrian VI. vor seinem Tod behandelt hat, als "Befreier des Vaterlandes" zujubeln. Der neue Papst Clemens VII., wieder ein Medici, bleibt alles schuldig, was in dieser Situation von einem Pontifex gefordert wäre - er sei der unheilvollste aller Päpste gewesen, urteilt später der große deutsche Historiker Leopold von Ranke.
In Deutschland findet der Protestantismus rasch viele Anhänger. Luther heiratet die ehemalige Nonne Katharina von Bora. 1530 kommt es zum Augsburger Bekenntnis der Protestanten. Als Martin Luther am 18. Februar 1546 in Eisleben stirbt, ist das Land längst in Katholiken und Protestanten gespalten. Er wird in der Stadt, die heute - seit 1938 - die Bezeichnung Lutherstadt Wittenberg trägt, begraben. 1547 zieht der katholische Kaiser Karl V. in Wittenberg ein, widersetzt sich aber Vorschlägen, den Leichnam des Reformators zu exhumieren und als Häretiker verbrennen zu lassen.
1555 wird der "Augsburger Religionsfrieden" geschlossen, der die Existenz beider Konfessionen vorsieht, jedoch nicht im gleichen Gebiet - der jeweilige Landesherr bestimmt den Glauben seiner Untertanen. In Rom konnte oder wollte man die theologischen Ansätze des "hässlichen Deutschen" Luther nicht verstehen. Das geht aus Quellen in den Vatikanischen Archiven hervor, die Volker Reinhardt in seinem Buch auswertete. Aufgrund seiner deftigen Attacken auf "des Teufels Sau, den Bapst" nahm man ihn als eitlen, ungebildeten Polterer wahr, der sich gerne der Fäkalsprache bediente und sich mit seinem Antipapismus bei deutschen Fürsten Liebkind machen wollte.
Eine echte Zäsur#
Die ganze Vielfalt der "Lutherzeit" breitet der Autor Bruno Preisendörfer in seinem Buch "Als unser Deutsch erfunden wurde" (Galiani) aus. Dabei handelt es sich um kein sprachwissenschaftliches Werk, sondern um eine - nicht immer leicht lesbare - Fundgrube an mehr oder weniger Wissenswertem aus dieser Epoche des Umbruchs auf allen Gebieten. Denn Zeitgenossen Luthers waren unter vielen anderen Christoph Columbus und Heinrich VIII. von England, Nikolaus Kopernikus und Paracelsus, Albrecht Dürer und Leonardo da Vinci sowie andere Reformatoren wie Zwingli und Calvin. Preisendörfer lenkt den Blick nicht nur auf die Mächtigen, sondern auch auf den Alltag, auf Handwerk und Kleidung, auf Seuchen und grausame Hinrichtungen - etwa das Vierteilen des Künstlers Jörg Ratgeb - oder auf leibliche Genüsse, ob sie nun mit Badstuben oder Saufereien - seit 1516 gibt es das "Reinheitsgebot" für Bier - verbunden waren.
Dass mit Luther eine echte Zäsur eintrat, bestreitet der Tübinger Kirchenhistoriker Volker Leppin in seinem Werk "Die fremde Reformation" (C.H. Beck Verlag), in dem er "Luthers mystische Wurzeln" beleuchtet. "Luther ist uns Heutigen fremd", meint Leppin, und dies nicht nur "in seinem unerträglichen Judenhass, in seinen Ausfällen gegen den Türken oder den Papst". Auch in seinem innersten Anliegen, der Rechtfertigung des Sünders, sei der Reformator noch ganz von der kulturellen Welt des Spätmittelalters geprägt gewesen, vor allem von der Bewegung der Mystik. Der Mann, der die "Freiheit des Christenmenschen" und das "Priestertum aller Gläubigen" predigte, käme in vieler Hinsicht bei den heutigen Protestanten wohl nicht an.
Seit nunmehr 500 Jahren sei Deutschland von religiösen Konflikten geprägt, befindet Tillmann Bendikowski in seinem Buch "Der deutsche Glaubenskrieg", das den Folgen der Reformation nachgeht. Auch nach der Katastrophe des Dreißigjährigen Krieges im 17. Jahrhundert und nach der Aufklärung habe sich im Alltag die "konfessionelle Kampfstimmung" recht hartnäckig gehalten. Bendikowski erinnert an den Kulturkampf, an neue religiöse Bewegungen und Heilserwartungen, wie sie der Nationalsozialismus weckte. Heute herrsche religiöse Pluralität, vieles deute auf "ein friedliches Nebeneinander der Glaubensgruppen" hin, es sei aber auch Skepsis geboten: "Ist der Dämon des Glaubenskriegs wirklich tot? Womöglich schläft er nur."