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Politik und Moral#

Welche ethischen Parameter müssen in der Arbeit für das Gemeinwesen gelten? Zum 100. Todestag des Soziologen und Vordenkers Max Weber.#


Mit freundlicher Genehmigung übernommen aus der Wiener Zeitung (13. Juni 2020)

Von

Ulrich H.J. Körtner


Wer hat nicht schon einmal von der Unterscheidung zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik gehört? Sie spielt in politischen Auseinandersetzungen eine Rolle, zum Beispiel in der Flüchtlingspolitik oder beim Klimaschutz. Während Gesinnungsethik die moralische Qualität des Handelns in erster Linie an den moralischen Prinzipien und Absichten bemisst, fragt Verantwortungsethik auch nach den möglichen Folgen unseres Tuns. Die Unterscheidung stammt von Max Weber, einem der Begründer der modernen Soziologie, der auch auf anderen Wissensgebieten Bahnbrechendes geleistet hat.

Weber kam am 21. April 1864 in Erfurt zur Welt. Er starb vor einhundert Jahren am 14. Juni 1920 in München. Webers Vater, der ebenfalls den Vornamen Max trug, war Jurist und Landtags- wie Reichstagsabgeordneter der Nationalliberalen Partei. Die Familie gehörte zum protestantischen Bildungsbürgertum, Webers Mutter hatte hugenottische Vorfahren. Der Einfluss calvinistischer Ethik auf die Entwicklung des Kapitalismus sollte für Weber zu einem wichtigen Forschungsgegenstand werden und Religion blieb für ihn lebenslang ein zentrales Thema. Er verfügte über ausgezeichnete Bibelkenntnisse, bezeichnete sich aber in späteren Jahren als „religiös unmusikalisch“.

Nach dem Studium der Rechtswissenschaft, der Geschichte, der Philosophie und der Nationalökonomie schlug Weber zunächst eine juristische Laufbahn ein, wurde dann aber Professor für Nationalökonomie in Berlin, später in Heidelberg. Bereits 1903 ließ er sich pensionieren und wirkte seither als Privatgelehrter. Im Sommersemester 1918 lehrte Weber an der Universität Wien, wechselte dann aber auf eine Professur in München.

Klassische Vorträge#

Dort hielt Weber im Jänner 1919 seinen berühmten Vortrag über „Politik als Beruf“. Es war der zweite Vortrag im Rahmen einer Reihe mit dem Titel „Geistige Arbeit als Beruf“, den eine Studentenverbindung organisiert hatte. Ein Jahr zuvor hatte Weber über Wissenschaft als Beruf gesprochen. Beide Vorträge gelten als moderne Klassiker, der eine auf dem Gebiet der Politikwissenschaft, der andere für das Verständnis moderner Wissenschaft.

Unter Politik versteht Weber – der sich von einem glühenden deutschnationalen Imperialisten zu einem entschiedenen Republikaner gewandelt hatte – „jede Art selbständig leitender Tätigkeit“ und definiert den modernen Staat als ein auf dem als legitim angesehenen Gewaltmonopol basierenden politischen Verband und als ein durch Gesetze geregeltes „Herrschaftsverhältnis von Menschen über Menschen“.

Webers Ausführungen zum modernen Berufspolitikertum sind nach wie vor lesenswert. Der Soziologe unterscheidet zwischen Gelegenheits-, Nebenberufs- und Berufspolitikern. Es gibt solche, die für die Politik leben, und solche, die von ihr leben. Während Beamte im Verwaltungsapparat nicht im eigentlichen Sinne Politik treiben (oder es nicht sollten), haben Politiker Führungs- und Gestaltungsaufgaben. Weber setzt vor allem auf charismatische Führungspersönlichkeiten, die aber nicht aus purem Machtwillen, sondern aus dem Prinzip der Verantwortung heraus handeln und bereit sind, Eigenverantwortung zu übernehmen.

Politik verschafft Macht, mit der verantwortungsvoll umzugehen ist. Damit, so Weber, „betreten wir das Gebiet ethischer Fragen“. Und die Kernfrage, über die nachzudenken sich auch gegenwärtig lohnt, lautet in Webers Worten: „was für ein Mensch man sein muß, um seine Hand in die Speichen des Rades der Geschichte legen zu dürfen“. Ein Jahr nach dem Ibiza-Skandal ist diese Frage höchst aktuell.

Ein wohlgeordnetes politisches Gemeinwesen ist auf die moralische Integrität derer angewiesen, welche die Politik zu ihrem Beruf machen. Auch wenn letztlich alle Bürgerinnen und Bürger politische Verantwortung tragen, kommt die moderne Demokratie nicht ohne Politikerinnen und Politiker aus, denen nicht nur auf Zeit Macht übertragen wird, sondern die Politik im Interesse der Allgemeinheit als Beruf ausüben und ihr Handwerk beherrschen.

Politik als Beruf ist freilich ohne ein entsprechendes Berufsethos ebenso wenig denkbar wie der Beruf des Arztes oder auch des Unternehmers. Der Begriff des „ehrbaren Kaufmanns“ mag altmodisch klingen – in der Finanz- und Bankenkrise 2008 hatte er wieder Konjunktur. Genauso braucht es moralisch integre Politikerinnen und Politiker und nicht bloß Technokraten der Macht. In der repräsentativen Demokratie kommt es eben nicht nur auf Parteien, sondern auf den Einzelnen, sein Gewissen, seine Charakterfestigkeit, Souveränität und sein persönliches Verantwortungsgefühl an.

Persönliche Qualitäten#

Für Max Weber sind vornehmlich drei Qualitäten für einen guten Politiker entscheidend, und zwar Leidenschaft, Verantwortungsgefühl und Augenmaß. Leidenschaft ist im Sinne von Sachlichkeit gemeint, im Dienst an der Sache, dem auch der persönliche Ehrgeiz und Eitelkeit unterzuordnen sind. Leidenschaft für die Sache macht die Verantwortlichkeit des Politikers „zum entscheidenden Leitstern“ seines Handelns. Letztlich, so Weber wörtlich, „gibt es nur zwei Arten von Todsünden auf dem Gebiet der Politik: Unsachlichkeit und – oft, aber nicht immer, damit identisch – Verantwortungslosigkeit. Die Eitelkeit: das Bedürfnis, selbst möglich sichtbar in den Vordergrund zu treten, führt den Politiker am stärksten in Versuchung, eine von beiden, oder beide zu begehen.“

Nicht selten wird in der heutigen Politik ein Mangel an Moral beklagt. Ist Politik schon dann moralisch, wenn sie einer ethischen Gesinnung folgt oder sich auf moralische Werte beruft? Werte stehen heute hoch im Kurs. Die Europäische Union etwa versteht sich ausdrücklich nicht nur als Wirtschafts-, sondern auch als Wertegemeinschaft. „Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.“ So steht es im Vertrag von Lissabon.

Eine Ethik und Politik der Werte ist freilich eine zweischneidige Angelegenheit. So hat Weber zu bedenken gegeben, dass die Rhetorik der Werte zu „Benutzung der ‚Ethik‘ als Mittel des ‚Rechthabens‘“ verleitet. Werte sind das säkulare Gewand, in dem die totgesagten Götter eines vormodernen Zeitalters weiterleben: „Die alten vielen Götter, entzaubert und daher in Gestalt unpersönlicher Mächte, entsteigen ihren Gräbern, streben nach Gewalt über unser Leben und beginnen untereinander wieder ihren ewigen Kampf.“

Der 2013 verstorbene Philosoph Krzysztof Michalski pflichtet Weber bei. Letztlich führe die Berufung auf moralische Werte stets zur Abgrenzung gegenüber irgendwelchen „anderen“, die aus der eigenen Gemeinschaft ausgeschlossen werden. Michalskis lapidares Fazit lautet: „Werte verbinden nicht, Werte trennen.“

Wir brauchen daher ein Sensorium für die Gefahr der Tyrannei der Werte, und das nicht nur in der Politik. Was aber heißt, in der Politik Verantwortung zu übernehmen? Und das auch aus moralischen Gründen? Kann man mit der Bergpredigt Jesu Politik machen? Webers Antwort fällt eindeutig aus: Nur wer in allen Dingen ein Heiliger sein will, kann die Ethik der Bergpredigt ohne Abstriche befolgen und dem Übel in der Welt nicht widerstehen. Der Politiker hingegen müsse, notfalls mit Gewalt, dem Übel widerstehen, sonst sei er für dessen Überhandnahme verantwortlich.

Eine absolute Ethik – Weber spricht von Gesinnungsethik – frage nicht nach den Folgen des eigenen Tuns, sondern stelle den Erfolg Gott anheim. Der Verantwortungsethik folge hingegen einer relativen Ethik, die mit den „durchschnittlichen Defekten der Menschen“ und mit ihrer Dummheit rechne – oder „dem Willen des Gottes, der sie so schuf“.

Es besteht ein Unterschied zwischen moralischer und politischer Verantwortung. Wer ein politisches Amt ausübt, hat das Wohl des Gemeinwesens und dementsprechend die Folgen politischer Entscheidungen für dieses Wohl zu berücksichtigen. Zwischen dem moralisch Gebotenen und dem politisch Richtigen ist zu unterscheiden. Beides darf nicht auseinandergerissen werden, kann aber zueinander in Konflikt geraten. Ein Politikverständnis, das moralische Gründe politischen Gründen stets für überlegen hält, ist nicht nur politisch, sondern auch moralisch fragwürdig. Gerade aus moralischen Gründen ist zum Beispiel die Einhaltung rechtsstaatlicher Vorschriften geboten.

Allerdings sind für Weber „Gesinnungsethik und Verantwortungsethik nicht absolute Gegensätze, sondern Ergänzungen, die zusammen erst den echten Menschen ausmachen, den, der den ‚Beruf zur Politik‘ haben kann “. Man hüte sich also vor falschen Alternativen. Aber läuft Verantwortungsethik in der Politik nicht darauf hinaus, dass der Zweck die Mittel heiligt? Max Weber erklärt unumwunden: „Keine Ethik der Welt kommt um die Tatsache herum, daß die Erreichung ‚guter‘ Zwecke in zahlreichen Fällen daran gebunden ist, daß man sittlich bedenkliche oder mindestens gefährliche Mittel und die Möglichkeit oder auch die Wahrscheinlichkeit übler Nebenerfolge mit in den Kauf nimmt.“

Gewalttätige Fanatiker#

Ethik schützt auch nicht vor möglichen Dilemmata, in denen man nur zwischen zwei Übeln abwägen kann. Auch die Gesinnungsethik entkommt solchen Problemen nicht, es sei denn um den Preis eines kompromisslosen Rigorismus. So weist Weber auf die Gefahr hin, dass Gesinnungsethiker zu apokalyptischen Propheten mutieren. In radikalen Endzeitbewegungen ist es immer wieder dazu gekommen, dass anfänglicher Pazifismus in Gewalt umgeschlagen ist, um das Reich des endzeitlichen Friedens durch Vernichtung allen Bösens herbeizuführen.

Heute lassen sich Radikalisierungstendenzen in Teilen der Tierrechte- und der Klimaschutzbewegung beobachten. Radikale Befürworter eines kompromisslosen Politikwechsels stoßen sich bisweilen an den Spielregeln einer parlamentarischen Demokratie, zu deren Wesenselementen der politische Kompromiss gehört. Auch rechte Bewegungen verachten den Parlamentarismus. Eine lebendige Demokratie braucht allerdings nicht nur den Konsens, sondern auch den Konflikt, für dessen Austrag aber gemeinsam akzeptierte Regeln gelten müssen.

„Die Politik“, so Max Weber wörtlich, „bedeutet ein starkes langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß.“ Das gilt auch heutzutage für alle politischen Felder, nicht nur für den Klimaschutz.

Ulrich H.J. Körtner, ist Professor an der Evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Wien.

Wiener Zeitung, 13. Juni 2020

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