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Zwischen Marx und Ignaz Seipel#

Vor fünfzig Jahren starb der katholische Soziologe und Kirchenkritiker August Maria Knoll, dessen Denken und akademisches Wirken mit ideologisch-politischen Zuordnungen schwer zu erfassen ist.#


Mit freundlicher Genehmigung übernommen aus der Wiener Zeitung (Sa./So., 21./22. Dezember 2013)

Von

Otto Hausmann


Genau am Heiligen Abend des Jahres 1963 verstarb August Maria Knoll, ein akademischer Lehrer, der in der Nachkriegszeit mit seinem Engagement, seiner Leidensfähigkeit und Leidenschaftlichkeit die Studenten der ehemaligen Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien beeindruckt und vielfach geprägt hat. Er verstand es wie nur wenige, sein Auditorium zu fesseln und die Universität, die ihrer Bestimmung nach nicht nur Fachschule, sondern im Sinne von Wilhelm von Humboldt höhere Bildungsstätte sein soll, zu einem Ort fruchtbarer geistiger Auseinandersetzung zu machen.

In seiner warmherzigen, menschenfreundlichen Wesensart hatte er für die Nöte und Schwierigkeiten seiner Studenten immer ein offenes Ohr. Auch darin unterschied er sich stark von anderen Professoren der fünfziger und sechziger Jahre. Er hielt in seiner Wohnung am Neubaugürtel Sprechstunden ab und verlegte seine Soziologie-Hauptvorlesung in die Abendstunden, um berufstätigen Studenten die Teilnahme zu ermöglichen.

Christliche Sozialkritik#

August Maria Knoll, der am 5. September 1900 in Wien geboren wurde, entstammte einer Lehrerfamilie mit dreihundertjähriger Tradition in diesem Beruf. Nach dem Besuch des Gymnasiums wandte er sich dem damals neu installierten Studium der Staatswissenschaft zu. 1923 wurde er mit der Dissertation "Karl Freiherr von Vogelsang als Nachfahre der Romantik" zum Dr. rerum politicarum promoviert, wobei auch Knoll selbst eine geistige Affinität zur Romantik nachgesagt werden kann. Schon am Gymnasium war ihm die soziale Frage "ein Begriff und Erlebnis". So stieß er auf Marx und Bebel, deren "antireligiöser Affekt" ihn verdross, "wie der antirevolutionäre in den christlich-sozialen und kirchlichen Kreisen."

Richtungweisend wurde für Knoll die Begegnung mit dem um neunzehn Jahre älteren Anton Orel (1881-1959), in dessen christliche, an Vogelsang orientierte Jugendarbeiterbewegung er 1919 eingetreten ist. Vogelsang war wohl der bedeutendste christliche Sozialkritiker des 19. Jahrhunderts, der im selben Jahr wie Karl Marx geboren ist, aber nicht nur deshalb "katholischer Marx" genannt wurde. Doch im Gegensatz zu diesem, forderte Vogelsang Liebe, Gerechtigkeit und Solidarität auf der Grundlage der christlichen Sittengesetze. Davon ausgehend ergibt sich die Notwendigkeit der ständischen Organisation der Gesellschaft, sowie der Bildung "nationalen, gemeinsam ideell getragenen Eigentums" im Gegensatz zum kapitalistischen Privateigentum.

Anton Orel, ein geistig Frühreifer, der das humanistische Gymnasium in Kalksburg besucht und seit seinem 15. Lebensjahr nur mehr wissenschaftliche Bücher gelesen hat, war ein exzellenter Kenner der Lehren Vogelsangs und ein Feuergeist von besonderer Eloquenz. Viele, auch Kleriker, bekämpften seine Jugend- und Erneuerungsbewegung als eine gefährliche Gesellschaft "radikal katholischer Sozialisten". Leider ist Anton Orel, den Knoll "Anreger und Antreiber des sozialen Katholizismus in Österreich" genannt hat, in den letzten Jahrzehnten in Vergessenheit geraten. Jeder, der Knoll etwas besser gekannt hat, musste spüren, dass er sich von dieser charismatischen Persönlichkeit angezogen fühlte. Orel ließ ihn begreifen, dass "ein bewusster Katholik revolutionär sein könne, ja sein müsste".

Beide waren "klassisch Unbequeme", welche, wie es scheint, vom Aussterben bedroht sind, obwohl sie auch heute die Aufgabe hätten, in Wort und Schrift gegen soziale Ungerechtigkeiten Widerstand zu leisten.

In den Zwanzigerjahren lernte Knoll Ernst Karl Winter kennen, einen jungen Wissenschafter mit Ausstrahlung und Engagement, dem er bis zu dessen Tod in Freundschaft verbunden blieb. Winter, in seiner Jugend begeisterter Altösterreicher und Verehrer der habsburgischen Dynastie, war nicht nur Wissenschafter, sondern auch Politiker (Vizebürgermeister der Stadt Wien).

Die beiden kongenialen Freunde haben aus dem Glauben gelebt und über eine gewaltige Portion Zivilcourage verfügt. 1927 gründeten sie gemeinsam mit Alfred Missong, Hans-Karl Zessner-Spitzenberg und Wilhem Schmid die sozial-monarchistisch orientierte "Österreichische Aktion", deren zu einem geflügelten Wort gewordene Parole "Rechts stehen und links denken" auch Knolls Einstellung treffend umschrieb.

Ein Mentor von besonderer Bedeutung für den jungen Knoll war sein Lehrer Hans Kelsen - ein glänzender Stern der Universität, bis zu seiner Emigration 1929 nach Genf und weiter in die USA (Harvard und Berkeley) - der ihn wissenschaftlich und menschlich ungemein beeindruckt hat. Kelsen wird zu Recht als "Jurist des 20. Jahrhunderts" und als "Einstein der Jurisprudenz" bezeichnet. Wie immer man zu seinen Lehren stehen mag, er war ein Heroe des Geisteslebens, dem gegenüber sich das offizielle Österreich nicht gerade vorbildlich benommen hat.

Tief bewegt von Kelsens Toleranz, erzählte Knoll oftmals die Episode, wie er seinen großen Lehrer und Förderer direkt fragte: "Herr Professor Kelsen! Sie sind Republikaner, ich bin Monarchist. Sie sind Liberaler, ich bin Konservativer. Sie sind Jude, ich bin Katholik, warum fördern Sie mich?" Danach soll ihn Kelsen umarmt und folgende Antwort gegeben haben: "Lieber Freund! Eben weil Sie alles das nicht sind, was ich bin, schätze und fördere ich Sie". (Vgl. Norbert Leser, "Grenzgänger. Österreichische Geistesgeschichte in Totenbeschwörungen, Band 1".)

Diese persönlich erfahrene Toleranz und Güte hat Knoll in bewundernswerter Weise an seine Studenten weiter gegeben. Er war ein idealer Lehrer, den Widerspruch und Opposition nicht störten, und der seinen Studenten sogar das Studium des Marxismus empfohlen hat, obwohl er selbst ein tiefgläubiger Christ gewesen ist.

In Seipels Nähe#

Einen großen Einblick in die Politik gewann Knoll in der kurzen Zeit, in der er als Privatsekretär Ignaz Seipels bis zu dessen Ableben im Jahr 1932 beschäftigt war. Der politische Anschauungsunterricht stärkte in ihm den Wunsch nach Trennung kirchlicher Institutionen von der Politik, hat doch der politische Katholizismus der Ersten Republik eine unglaubliche Entfremdung der Arbeiterschaft von der Religion zur Folge gehabt, die bis in die Gegenwart hineinwirkt.

Am Beginn seiner wissenschaftlichen Tätigkeit galt Knolls Hauptinteresse religionssoziologischen Problemen. 1933 erschien seine Habilitationsschrift mit dem Titel "Der Zins in der Scholastik", eine profunde Arbeit über die Zinskontroverse von der Hoch- bis zu Neuscholastik. 1934, es war auch das Jahr seiner Verehelichung, wurde ihm die Venia legendi für Soziologie an der Universität Wien erteilt. Im selben Jahr erschien seine Studie "Gnade und Zins", in der er eine Analogie zwischen der Gnaden- und der Zinskontroverse gezogen hat. Von seinen großen Arbeiten aus der Vorkriegszeit muss das 1932 erschienene Buch "Der soziale Gedanke im modernen Katholizismus" erwähnt werden. Von 1935 bis 1938 hielt er für Hörer aller Fakultäten eine Pflichtvorlesung über staatspolitische Ideen und Traditionen in Österreich.

1938 musste Knoll als Gegner des Nationalsozialismus die Universität verlassen und betätigte sich als Privatbibliothekar des Grafen Wilczek, bis ihn der Einberufungsbefehl erreicht hat. Durch die Großzügigkeit seiner Freunde, unter anderem des Kardinals Theodor Innitzer, konnte die Familie mit drei Kindern überleben.

1945 kehrte Knoll an die Universität Wien zurück, wurde 1946 zum Extraordinarius und 1950 zum Ordinarius an der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät ernannt. Damit war in Österreich die erste Lehrkanzel für Soziologie installiert. Der religionssoziologischen Thematik treu bleibend, widmete Knoll beträchtliche Zeit der Analyse des Naturrechts und der kirchlichen Soziallehre.

Bei aller Kritik an der Kirche als Institution ist für Knoll der Glaubens- und Offenbarungsschatz immer ein Apriori geblieben. Gegenstand seiner Soziologie war nur das Aposteriori, "das divergente Erleben und Gestalten geoffenbarter Inhalte in der Gesellschaft." Dies sei all denen entgegengehalten, die mit Knoll allzu scharf ins Gericht gegangen sind zu einer Zeit, in der er bereits durch schwere Krankheit gezeichnet war, ohne dies vorerst zu wissen.

Das im Jahr 1962 erschienene Buch mit dem Titel "Katholische Kirche und scholastisches Naturrecht. Zur Frage der Freiheit" kann wohl als Kulminationspunkt seiner Lebensarbeit bezeichnet werden. Darin schreibt er: "Da nun die katholische Kirche, grundsätzlich Heilanstalt der Seele, Haus der Gesinnungsreform, kein soziales oder politisches Freiheitsideal erzeugt, erzeugt ein solches auch nicht das scholastische Naturrecht als Magd der Kirche. Für beide sind soziale und politische Freiheit ein wesenloser Begriff".

Konflikt mit der Kirche#

Wenn nach Knolls Sicht also die Kirche auf Anpassung an fast jede gesellschaftliche Ordnung ausgerichtet ist, um ihrer Aufgabe der Seelsorge und der Verkündigung des Wortes Gottes nachkommen zu können, kann es nicht ihr Anliegen sein, aus Sklaven "Freie" zu machen, sondern aus schlechten Sklaven "gute."

Gedanken wie diese mussten Knolls Gegner, durchwegs dem klerikalen Lager zuzurechnen, auf den Plan rufen. Sie haben ihn dann auch auf echt unchristliche Weise bekämpft, was seiner gesundheitlichen Situation sicher nicht förderlich war und ihn noch mehr in die Isolation getrieben hat. Die Erzdiözese Wien verhängte über ihn sogar ein Redeverbot. Was das für diesen sensiblen und tief religiösen Menschen bedeutet hat, muss nicht näher ausgeführt werden. Er hat das Schicksal all jener erlitten, die es wagen, gegen den Mainstream zu schwimmen.

Zu Knolls Verdiensten und Leistungen, die manchmal übersehen werden, gehört das gemeinsam mit Karl Kummer im Jahr 1953 gegründete "Institut für Sozialpolitik und Sozialreform" (jetzt "Institut für Sozialreform, Sozial- und Wirtschaftspolitik"), ebenso die 1950 gegründete "Österreichische Gesellschaft für Soziologie", deren Präsident er war.

Von großer Bedeutung in bildungspolitischer Hinsicht waren seine Bemühungen zur Gründung einer Hochschule für Sozialwissenschaften (jetzt Johannes Kepler-Universität Linz), deren Eröffnung 1966 zu erleben ihm nicht mehr vergönnt war. Am Ende des Sommersemesters 1963 stellten sich schwere gesundheitliche Störungen ein, die eine Gehirnoperation notwendig machten. Nach einer kurzen Phase der Besserung trat rapide der endgültige Verfall ein.

Am Heiligen Abend desselben Jahres hat ein großer Idealist und Freund der Jugend für immer die Augen geschlossen. Knolls Güte und sein Bekennermut werden allen, die seine Schüler sein durften, stets in Erinnerung bleiben.

Otto Hausmann, geboren 1935, ist Rechts- und Staatswissenschafter und lebt als Universitätsbediensteter i.R. in Wien.

Wiener Zeitung, Sa./So., 21./22. Dezember 2013