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unbekannter Gast

Äpfel ans Bett#

Zur Bedeutung von Ritualen im Familienalltag#


Von

Michael Mitterauer


Historisch betrachtet sind viele Rituale des Familienalltags in religiösem Kontext entstanden. Das gilt nicht nur für die Gestaltung kirchlicher Hochfeste wie Weihnachten und Ostern im häuslichen Rahmen, nicht nur für die Übergangsriten um Taufe, Hochzeit und Todesfälle, sondern auch für die tagtäglich verrichteten Gebete zu Beginn und zum Ausklang des Tages oder vor und nach dem Essen mit ihrem Bezug zu gemeinsamen Verrichtungen des Familienalltags. Im Vergleich zu anderen Religionen ist das Christentum eine ausgeprägte Gemeindereligion. Trotzdem lassen sich in seinen verschiedenen konfessionellen Ausprägungen vielfältige Elemente des Hauskults fassen, die auf die Bedeutsamkeit von Familienritualen verweisen. Weit stärker als im Christentum ist gemeinsame religiöse Praxis der Familie in Traditionen des Judentums verankert.

Kindheitserinnerungen einer jüdischen Autorin aus dem ausgehenden 19. Jahrhundert mögen diese Bedeutung von Ritualen im Familienleben illustrieren:

Mutter entzündet die Lichter, sie bedeckt die Augen, spricht den Segen über das Licht, dankt Gott, der uns den Sabbat gegeben hat. Dann setzt Mutter sich auf den Sessel, auf dem sonst niemand sitzen darf. Sie hebt ihr Kleid und zeigt uns ängstlich ihre angeschwollenen Beine. Ach wie froh ist sie, dass wieder eine Arbeitswoche vorüber ist. Dann treten wir einzeln an Mutters Sessel, beugen uns nieder, legen den Kopf auf ihren Schoß und werden gesegnet. Sie spricht den Segen leise und ihre Hände ruhen auf unseren Köpfen. Paula stellt noch rasch einige blühende Blumen auf den weißgedeckten Tisch und zieht die weißen Gardinen zu. So – jetzt können Vater und die Brüder aus der Synagoge kommen.

Auch der heimkehrende Vater segnet die Kinder. Segen in der Familie, Segen für die Familie – das ist das Leitmotiv dieser lebensgeschichtlichen Erzählung. Der Sabbat als Fest der Familie schafft eine ganz besondere Atmosphäre. Er vermittelt religiös begründete Gemeinsamkeit. Abgehoben von den Mühen der Arbeitswoche, die zwar kurz angesprochen, aber hier nicht näher thematisiert werden, ist er ein besonderer Tag – ganz vom religiösen Ritual erfüllt.

Über alle Erfüllung genereller Normen der Religionsgemeinschaft hinaus gewinnt die rituelle Begehung dieses Tages in der Darstellung lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen jedes Mal eine individuelle und ganz besondere Note. Das gilt ebenso für religiöse Rituale in christliche Familien. Bei ihnen steht das jeweilige Gemeinschaftsgebet im Vordergrund.

Auch vor dem Essen wurde gebetet und nicht wenig. Bei den Großeltern beteten wir noch das Glaubensbekenntnis und ein Vaterunser. Später – man hat anscheinend immer weniger Zeit für Gott – beteten wir nur mehr das Vaterunser, dann nur noch das kurze Gebet: ‚Komm Herr Jesus sei unser Gast und segne, was du uns bescheret hast’. Meine Familie trommle ich am Sonntag noch zu diesem Gebet zusammen. Wochentags beschränken wir uns auf ein Kreuzzeichen.

Diese knappe Darstellung der Entwicklung des Tischgebets in einer ländlichen Familie in Niederösterreich während des 20. Jahrhunderts spiegelt einige allgemeine Tendenzen religiöser Familienrituale in diesem Zeitraum: Die Familiengebete werden kürzer, stärker anlassbezogen und – trotz gemeinschaftlicher Praxis – individualisiert. Aus älterer Zeit gibt es zahlreiche autobiografische Berichte über das bäuerliche Tischgebet vor dem Herrgottswinkel, zu dem sich die Bauersleute mit Töchtern und Söhnen, Mägden und Knechten und wer auch immer sonst noch in der Hausgemeinschaft mitlebte Tag für Tag versammelte. Durch die gleichmäßige Praxis über Jahrzehnte kam es häufig zu sprachlichen Eigenheiten, die für Außenstehende unverständlich waren. Aber um Verständlichkeit geht es auch bei Hausliturgien in der Regel nicht. Der Übergang zum kurzen Essenssegen und schließlich zum bloß individuell vollzogenen Kreuzzeichen markiert Stationen der Auflösung traditioneller ländlicher Familienreligiosität. „Nur diskret ein Kreuzzeichen“ wird diese Tendenz in einer anderen Autobiographie charakterisiert. Das bedeutet keineswegs notwendig einen Bedeutungsverlust von Religion für die Familiengemeinschaft, aber eine Intimisierung religiöser Handlungen und eine Individualisierung innerhalb der Familie. Die generelle Praxis führt freilich weg vom Tischgebet als religiösem Kontext der Mahlgemeinschaft Familie. Das gemeinsame Essen als Basisritual des Familienlebens bleibt weiterhin bedeutsam. In mancher Hinsicht erfährt es sogar durch zunehmende Konsummöglichkeiten gegenüber historischen Zeiten eine Ausgestaltung. Stärker erscheint allerdings der Trend, dass die durch Schule und Arbeitsleben fremdbestimmten Zeitpläne der einzelnen Familienmitglieder zumindest während der Arbeitswoche nur mehr wenig an Mahlgemeinschaft zulassen.

Von den ursprünglich stark religiös geprägten Familienriten hat sich neben dem gemeinsamen Tischgebet das Abendgebet lange erhalten. Soweit es weiter gepflegt wurde, war es jedoch nicht eine religiöse Aktivität der ganzen Familie, sondern speziell von Mutter und Kindern bzw. von Mutter und Kind. Das kommt auch im Ort dieses Familiengebets zum Ausdruck, nämlich im Kinderzimmer, z. B. vor dem Schutzengelbild beim Bett des Kindes. Rituale sind für Kinder besonders wichtig – religiöse wie nicht religiöse. Gerade zum Abschluss des Tages spielen sie eine besondere Rolle.

Der schöne Abschluß vieler Winterabende war, dass Papa jeder von uns einen Teller mit appetitlich hergerichteten Äpfeln ans Bett brachte. Dies gehört zu meinen ganz schönen Kindheitserinnerungen. Ich bewunderte Papas Bereitschaft, nach dem Abendbrot, wenn wir schon gemütlich in den Betten lagen, noch in den Keller um Äpfel zu gehen, besonders auch deshalb, weil es ja schon finster war.

Die zitierte Lebensgeschichte einer bürgerlichen Autorin aus dem frühen 20. Jahrhundert lässt keinen Zweifel daran offen, dass die beiden Kinder abends auch ein Gebet gesprochen haben. Das war in einer katholischen Familie dieses Milieus damals eine Selbstverständlichkeit. Der Vater fügte kreativ ein eigenes Ritual hinzu, das stärker in Erinnerung blieb. Der „appetitlich hergerichtete Apfel“, der Weg in den finsteren Keller den Kindern zuliebe – alles das bewirkte eine außerordentliche Bedeutsamkeit. Das Ritual war sicher nicht als solches geplant. Es entstand vielmehr aus banaler Alltäglichkeit. Die Reaktion der Kinder auf die Freundlichkeit des Vaters und umgekehrt des Vaters auf die Freude der Kinder werden wohl zur Wiederholung und damit zur Entstehung eines besonderen Familienrituals geführt haben. Bemerkenswert erscheint, dass es hier der Vater ist, der den schwierigen Übergang vom Wachen zum Schlafen gestaltet, nicht die Mutter. Religiöse und nichtreligiöse Abschlussrituale des Tages sind nach lebensgeschichtlichen Zeugnissen sonst eher Sache der Mutter.

Viele Jahrzehnte danach – und wieder ein Ritual zwischen Vater und Kind:

Mein Vater hatte immer relativ wenig Zeit für mich und später wurde unser Verhältnis sogar regelrecht schlecht. Vielleicht erinnere ich mich gerade deshalb so gerne an unser Ritual, als ich so 3-5 Jahre alt war. Es gab dann das „Stämmerdündchen“(Dämmerstündchen). Wenn mein Vater von der Arbeit kam, machte er erst eine kleine Pause, dann wurde eine Kerze angezündet, ich durfte – er lag auf der Couch – auf seinen Bauch klettern und er las mir Geschichten vor. So kam ich schon früh in meinem Leben mit den unheimlichen Märchen von Hauff in Berührung.

Auch hier ein Familienritual, das nicht die ganze Familie erfasst, sondern nur Vater und Tochter. Auch hier eine banal alltägliche Situation, die durch Wiederholung zum Ritual wird. Ungewöhnlich ist der Zeitpunkt des Rituals – nach der Heimkehr des Vaters, nicht erst zum Schlafengehen. Für ein Ritual typisch erscheint: die besondere Stellung in der es stattfindet, die besondere Bezeichnung, um die nur die beiden Akteure wissen, vor allem die besondere Stimmung, die durch das Anzünden der Kerze bewirkt wird. Eine Kerze anzünden, ist für viele profane Familienrituale – obwohl letztlich religiösen Ursprungs – ein wichtiges Element.

Einstmals religiöse Symbolik wird auch weiterhin als Zeichen von Bedeutsamkeit verstanden. Das lebende Licht der Kerze gibt gegenüber der elektrischen Beleuchtung im Alltag ein Gefühl der Besonderheit.

Das Bedürfnis nach Familienritualen dürfte nach wie vor groß sein. Zahlreich sind die Angebote an einschlägigen Ratgebern. Sie bieten Vorschläge, wie man Geburtstage, Namenstage, Weihnachten und Ostern traditionsverbunden, aber doch innovativ gestalten könnte. Ob damit Familien wirklich geholfen ist? Familienbeziehungen sind in den letzten Jahrzehnten nicht gerade leichter geworden. Was immer Gemeinsamkeit, Sicherheit, Bindung, Geborgenheit, Intimität verstärken kann, gewinnt in dieser Situation an Bedeutung. Familienrituale bieten diese Möglichkeit. Historische Formen religiöser Riten können sicher keine allgemeine Geltung mehr beanspruchen. Und auch die bürgerlichen Familienrituale von guten Tischsitten und gemeinsamem Familienspaziergang entsprechen nicht den heutigen Bedürfnissen. Vielmehr gilt es, mit neuen Ritualen mehr Sicherheit zu geben. Sie sind nicht normativ vorgegeben, sondern müssen kreativ entwickelt werden. Ganz gewöhnliche Handlungen des Familienalltags sind wohl der beste Ausgangspunkt. Ein Zeichen etwa, das einmal eine Konfliktlösung zwischen den Partnern ermöglicht hat, kann wiederholt und zur Bewältigung ähnlicher Situationen eingesetzt werden. Ein Liebesbeweis, der vom Kind besonders positiv aufgenommen wird, lässt sich zum regelmäßigen Zeichen der Zuwendung entwickeln. Solche neuen Familienrituale werden in der Regel nicht die Gruppe als ganze ansprechen. Eher geht es um eine Stützung von Zweierbeziehungen – der Paarbeziehung einerseits, der verschiedenen Eltern-Kinder-Beziehungen andererseits. Eine solche Konzeption von Ritualen im Familienalltag entspricht einer allgemeinen Entwicklungstendenz, nämlich der zunehmenden Individualisierung der einzelnen Mitglieder innerhalb der Familie.